PurschwitzDas betriebsverfassungsrechtliche Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot nach § 78 Satz 2 BetrVG
Nomos Verlag, Baden-Baden 2015, 381 Seiten, broschiert, € 99,–
PurschwitzDas betriebsverfassungsrechtliche Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot nach § 78 Satz 2 BetrVG
„Sie [Mitglieder des BR und anderer Belegschaftsvertretungen] dürfen wegen ihrer Tätigkeit nicht benach-453teiligt oder begünstigt werden; dies gilt auch für ihre berufliche Entwicklung.“ Dieser Bestimmung des § 78 Satz 2 BetrVG widmete sich Laura Purschwitz in ihrer von Olaf Deinert und Martin Ahrens begutachteten Dissertation, die im Sommersemester 2015 von der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen und anschließend im Nomos Verlag publiziert wurde. Angesichts der knapp gehaltenen gesetzlichen Ausgangssituation und der vielen darunterfallenden Fallkonstellationen ist dieses Thema juristisch sehr anspruchsvoll. In ihrer Arbeit geht es der Autorin vor allem um eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Benachteiligung und Begünstigung bzw zwischen zulässigem und unzulässigem Verhalten, da diese bisher nicht durchwegs gelungen zu sein scheint und in der Praxis immer wieder Probleme bereitet. Dabei ist diese Abgrenzung insb angesichts der drohenden strafrechtlichen Konsequenzen (§ 119 BetrVG) von erheblicher Relevanz. Auch aus Sicht des österreichischen Rechts ist dieses Thema sehr interessant, zumal sich in § 115 Abs 3 ArbVG (Verbot der Beschränkung und Benachteiligung von Mitgliedern des BR) eine mit § 78 BetrVG vergleichbare Bestimmung findet. Das Begünstigungsverbot spielt in der österreichischen Praxis hingegen nur eine untergeordnete Rolle (Schima, Zivil-, betriebsverfassungs- und strafrechtliche Beurteilung der „Anfütterung“ von Betriebsräten, GesRZ 2016, 137 [138]).
In einer kurzen Einleitung gelingt es der Autorin, die Problemstellung mittels Fallbeispielen klar darzulegen und das Interesse der LeserInnen zu wecken. Sie zeigt auch auf, dass ohne klare Abgrenzungskriterien ein und derselbe Sachverhalt je nach Standpunkt sowohl eine Benachteiligung als auch eine Begünstigung darstellen kann.
Im ersten Kapitel wird die Norm des § 78 Satz 2 BetrVG ausführlich untersucht (Gesetzeszweck, Normcharakter, persönlicher Schutzbereich, personeller und zeitlicher Anwendungsbereich, Tatbestandsvoraussetzungen sowie Rechtsfolgen bei Verstößen). Dabei kommt Purschwitz ua zum Ergebnis, dass auch der Gesetzgeber diese Bestimmung insofern zu beachten habe, als dass gesetzlich normierte Benachteiligungen bzw Begünstigungen von BelegschaftsvertreterInnen die Ausnahme bleiben und gerechtfertigt sein müssen.
Im nächsten Kapitel legt die Autorin eindrucksvoll dar, welche sonstigen Schutzbestimmungen des BetrVG durch das Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot in welcher Form konkretisiert werden. So sei den Mitgliedern des BR bei der Beurteilung, ob eine Befreiung von der Arbeitspflicht der Durchführung von Aufgaben des BR dient und auch erforderlich ist und der AG somit gem § 37 Abs 2 BetrVG das volle Arbeitsentgelt weiterzuzahlen hat, ein gewisser Spielraum einzuräumen, da sie eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten nicht im eigenen Interesse, sondern zur Wahrnehmung von Interessen der Belegschaft riskieren. Umgekehrt könne es auch nicht allein auf die subjektive Einschätzung des konkreten Betriebsratsmitglieds ankommen, da dies eine Begünstigung darstellen würde.
In Kapitel drei, dem umfangreichsten der Arbeit, geht es um Vorschriften, die BelegschaftsvertreterInnen begünstigen bzw benachteiligen. Ausgehend von der im ersten Kapitel aufgestellten Prämisse, dass auch der Gesetzgeber an § 78 Satz 2 BetrVG gebunden ist, werden verschiedene Regelungen im Hinblick auf ihre Rechtfertigung untersucht. Keine Rechtfertigung sieht Purschwitz mit überzeugenden Argumenten beispielsweise für die von der hM in Lehre und Rsp vertretene Auffassung, dass ein AG im Falle der Stilllegung einer Betriebsabteilung allenfalls sogar gleichwertige Arbeitsplätze freikündigen muss, um die Kündigung eines Betriebsratsmitglieds zu vermeiden. Auch dürfe – entgegen der Judikatur des BAG – ein Mitglied der Belegschaftsvertretung bei Änderungskündigungen, die alle oder eine Gruppe von AN, der dieses Mitglied angehört, betreffen, im Lichte des Begünstigungsverbotes nicht ausgenommen werden. Eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung sei hingegen etwa dann gegeben, wenn An- und Abreisezeiten zu Schulungen außerhalb der Arbeitszeit von Betriebsratsmitgliedern nicht ausgeglichen werden, Reisezeiten anderer AN im Rahmen von Dienstreisen hingegen schon. Insofern müsse § 37 Abs 6 Satz 2 zweiter Halbsatz BetrVG teleologisch reduziert werden.
Im vierten Kapitel untersucht die Autorin Fälle, mit denen die Gerichte in der Praxis befasst waren. Wenn einem Betriebsratsmitglied vor seiner Freistellung ein Dienstwagen überlassen wurde, den es auch privat benutzen durfte, dürfe ihm dies nach der Freistellung nicht vorenthalten werden, da die Überlassung eines Dienstwagens einen Sachbezug darstelle und das Betriebsratsmitglied so zu vergüten sei wie ohne die Freistellung. Einen Verstoß gegen das Begünstigungsverbot bejaht Purschwitz ebenso wie die Rsp völlig zu Recht, wenn BelegschaftsvertreterInnen in einem Sozialplan höhere Abfindungszahlungen zugestanden werden als anderen AN. Zu einem anderen Ergebnis als die Rsp kommt die Autorin bei der Frage, ob die Weiterarbeit von Betriebsratsmitgliedern über die für andere AN geltenden Altersgrenzen hinaus mit § 78 Satz 2 BetrVG vereinbar ist. Während nach Ansicht des BAG der Grundsatz der unveränderten personellen Zusammensetzung des BR eine solche Begünstigung rechtfertigen kann, sieht Purschwitz durch das Nachrücken eines Ersatzmitglieds keine Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des BR.
In Kapitel fünf stellt sich die Autorin der schwierigen Aufgabe, ihre bisher erlangten Erkenntnisse zur Abgrenzung von im Lichte des § 78 Satz 2 BetrVG zulässigem und unzulässigem Verhalten zu verallgemeinern. Dabei gesteht sie ein, dass dies angesichts der Fülle an verschiedensten Ausgangssachverhalten nicht abschließend möglich ist. Als wichtigen Maßstab betont Purschwitz den Vergleich zur Situation ohne Tätigkeit in der Belegschaftsvertretung, der – wie sie richtigerweise feststellt – allerdings dann schwierig ist, wenn die Situation nur durch diese Tätigkeit überhaupt erst entsteht. Abweichungen von der Behandlung sonstiger AN seien nur ausnahmsweise und bei Vorliegen einer sachlichen Rechtfertigung zulässig. Anschließend werden einige generelle Anforderungen an solche Rechtfertigungsgründe erläutert.
Im sechsten und letzten Kapitel fasst die Autorin die wichtigsten Ergebnisse zusammen und bietet den LeserInnen damit einen guten Überblick über die Arbeit.
Fazit: Laura Purschwitz setzt sich umfassend und auf hohem wissenschaftlichen Niveau mit einer schwierigen und praxisrelevanten Problematik auseinander und kommt dabei zu interessanten und nachvollziehbaren Ergebnissen, die mit der hM zum Teil nicht in Einklang stehen. Die Arbeit ist nicht nur für mit dieser Thematik befasste ExpertInnen und betroffene AG bzw BelegschaftsvertreterInnen absolut lesenswert, sondern454 auch für allgemein am (kollektiven) Arbeitsrecht interessierte Personen. Sie sollte daher auch in Österreich Bestandteil jeder arbeitsrechtlichen Bibliothek sein.