WehringerDas Gutachten zum Pflegegeld

2. Auflage, Manz Verlag, Wien 2016, 172 Seiten, broschiert, € 34,–

MARTINGREIFENEDER (WELS)

Das nunmehr in zweiter Auflage erschienene Werk von Christina Wehringer, Leiterin der ärztlichen Fachabteilung der Sektion IV im Sozialministerium, unterscheidet sich in einem Punkt ganz wesentlich von seiner ersten Auflage: Es erschien – wie schon am Titelblatt ersichtlich – unter juristischer Beratung und Begleitung von Margarethe Grasser, ihrerseits Gruppenleiterin und Leiterin der Rechtsabteilung Pflegevorsorge der Sektion IV im Sozialministerium. Vorweg, diese – für die Begutachtung und Einstufung unerlässliche – Kombination von medizinischer Expertise und juristischem Fachwissen hat dem Werk in zweiter Auflage einen qualitativen Quantensprung beschert.

In Anbetracht von rund 200.000 Pflegegeldverfahren im Laufe eines Jahres erübrigt sich wohl jeder weitere Hinweis auf die grundsätzliche Bedeutung des Themas. Ebenso klar abgesteckt ist die Zielgruppe des Buches. Es richtet sich an die große Zahl der im Pflegegeldverfahren tätigen Gutachterinnen und Gutachter, vorrangig an jene, die im Verwaltungsverfahren für Sozialversicherungsträger tätig sind. Dementsprechend verzichtet die Autorin auf praktisch jedweden Verweis auf die Rechtsgrundlagen in Bundespflegegeldgesetz und Einstufungsverordnung. Die nur im Verwaltungsverfahren für die Einstufung verbindlichen Rechtsgrundlagen werden ohne näheren Hinweis als allgemein gültige Rechtslage dargestellt.

In Kapitel 1 werden aus juristischer Sicht besonders wichtige Grundsätze sowie Begriffe der Pflegegeldeinstufung übersichtlich gegliedert, teils mit sehr anschaulichen Beispielen unterlegt, in verständlicher, trotzdem juristisch (weitgehend) exakter Weise dargestellt. Als besonders praxisrelevant hervorzuheben ist die ausführliche Auseinandersetzung mit den von Gutachterinnen und Gutachtern so oft falsch verstandenen Begriffen der Anleitung, Beaufsichtigung und Motivation. Sehr anschauliche und praxisnahe Beispiele tragen hier zudem sicher zu einem besseren Verständnis und einer korrekten Einstufung bei. Gleiches gilt auch für das wichtige Thema des Über- und Unterschreitens von Mindestwerten. Lediglich beim Grundsatz des Über- und Unterschreitens von Richtwerten (Rz 25) hat sich ein Fehler eingeschlichen: Fälschlich werden für die Unterschreitung ausdrücklich die Grundsätze für Mindestwerte herangezogen, was nicht nur unrichtig ist, sondern auch einer Beseitigung der Differenzierung zwischen Mindestwerten und Richtwerten gleichkäme.

In den Kapiteln 2 und 3 beschäftigt sich die Autorin mit der eigentlichen Begutachtungssituation und Gutachtenserstellung, mit dem notwendigen Inhalt eines kompletten Gutachtens. Diese Wegbeschreibung orientiert sich praxisnah Punkt für Punkt an der Systematik des für alle Entscheidungsträger einheitlichen „Begutachtungsformulars“. Besonders hervorzuheben ist hier die ausführliche Auseinandersetzung mit der Begutachtungssituation. Verdeutlicht wird, dass diese schwierige, kontroversielle Situation stets reflektiertes und verantwortungsvolles Handeln voraussetzt, eigene Emotionen, Reaktionen, Tagesverfassung, Zeitdruck und kulturelle Besonderheiten der Untersuchten das Handeln des Gutachters oder der Gutachterin nicht beeinflussen dürfen, die Pflicht zu einer vorurteilsfreien Begegnung und eine dem Auftraggeber verantwortliche korrekte Handlungsweise. Der anschließende Praxis tipp, in dem einfühlsam auf die Begutachtungssituation aus der Sicht des beeinträchtigten Betroffenen und dessen Angehörigen hingewiesen wird, sollte Teil einer jeden Ausbildung von Gutachterinnen und Gutachtern sein; es würde die Akzeptanz der Einstufung auf Seiten der Pflegebedürftigen und Pflegenden – selbst bei vermeintlich zu niedriger Einstufung – wesentlich steigern. Wichtig scheint auch der Hinweis, dass das für ihr Herkunftsland typische Krankheitsverhalten bei Menschen aus anderen, insb traditionell orientalisch sozialisierten Kulturen, häufig in der Begutachtung als Verdeutlichungs- oder Aggravationstendenz fehlinterpretiert wird.

Nicht minder wichtig ist die ausführliche Auseinandersetzung der Autorin mit der Erhebung des psychopathologischen Status. In der Kürze der Begutachtungssituation wird diesem Aspekt aktuell in der456 Begutachtungspraxis zu oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies führt nicht selten zur Höherstufung im sozialgerichtlichen Verfahren.

Besonders praxisrelevant ist auch die ausführliche Darstellung von Notwendigkeit und Mindeststandards für eine rechtzeitige Vorankündigung des Hausbesuches. Die vielfachen Reaktionen der Betroffenen zeigen, dass gerade diese Standards in der Praxis leider häufig nicht eingehalten werden.

In Kapitel 4 „funktionsbezogene Einschätzung ab dem vollendeten 15. Lebensjahr“ legt die Autorin den Schwerpunkt auf die Erläuterung der einzelnen Hilfs- und Betreuungsmaßnahmen, insb die Beschreibung der jeweils umfassten Pflegehandlungen. Die Darstellung erfolgt in einer gegliederten, inhaltlich dem Rezensenten durchaus vertrauten Weise. Für Gutachterinnen und Gutachter sicher besonders hilfreich: Bei den einzelnen Pflegeverrichtungen wird der jeweils für die Selbstvornahme relevante Mobilitätsstatus und psychopathologische Status als „Praxistipp“ dargestellt. Die umfangreich angeführten Praxisbeispiele tragen zudem zu einem besseren Verständnis bei. Nur beispielhaft seien hier die Ausführungen zur Mahlzeitzubereitung (Rz 134 ff) und der – iS dieser Ausführungen wohl zu häufig angewandten – Teilhilfe bei der Zubereitung (Rz 141) sowie zur Überschreitung von Zeitwerten, bspw jenem der Notdurftverrichtung (Rz 153), hervorgehoben.

Die Ausführungen in Kapitel 5 zur funktionsbezogenen Einstufung von Kindern und Jugendlichen sind bei Erscheinen dieser Rezension aufgrund einer erstmaligen eigenen Einstufungsverordnung für diese Altersgruppe, welche mit 1.9.2016 in Kraft getreten ist (BGBl II 2016/236), weitgehend überholt. Dies war für die Autorin nicht vorhersehbar.

Leider erfolgt in Kapitel 6 die Auseinandersetzung mit den qualifizierten Pflegekriterien der Stufen 5 bis 7 nicht mit der gleichen oben beschriebenen Gründlichkeit. In der Praxis gleichermaßen wichtige wie schwierige Abgrenzungsfragen und Spezialprobleme (zB Anfallsleiden) bleiben dadurch unbearbeitet.

Ausführungen zur diagnosebezogenen Einstufung (Kapitel 7) sowie ein Annex mit übersichtlichen Zeitwerttabellen runden das Werk ab.

Das Buch kann Gutachterinnen und Gutachtern im Verwaltungsverfahren, egal ob Neueinsteiger oder Erfahrene, die die eigene Begutachtungsroutine einer Selbstevaluierung unterziehen möchten, gleichermaßen als wichtiger Wegbegleiter bei der Gutachtenserstattung empfohlen werden.