Peers/Hervey/Kenner/Ward (Hrsg)The EU Charter of Fundamental Rights – A Commentary

Hart Publishing/C.H. Beck/Nomos Verlag, Oxford und Portland, Oregon/München/Baden-Baden 2014, XXXVII, 1.893 Seiten, gebunden, € 270,–

WALTERBERKA (SALZBURG)

Mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat sich die EU einen kodifizierten Grundrechtskatalog gegeben und ist zugleich für Österreich ein weiterer umfassender Grundrechtstext in Geltung getreten, welcher das Staatsgrundgesetz von 1867 und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ergänzt. Die Charta ist das wohl eindrucksvollste Dokument der jüngeren Geschichte der Grundfreiheiten und Menschenrechte, das in vielerlei Hinsicht innovative Züge trägt. Zugleich sind ihre Geltung und ihre Tragweite sowie ihr Verhältnis zur Menschenrechtskonvention und den nationalen Grundrechten spannungsreich, ebenso wie das Miteinander und Gegeneinander der Gerichte, denen die Anwendung der Rechte der Charta im grundrechtlichen Mehrebenensystem auf europäischer und nationaler Ebene aufgetragen ist.

Seit der spektakulären E des VfGH vom 14.3.2012 zur Charta (VfSlg 19.632) kommt den Unionsgrundrechten im innerstaatlichen österreichischen Recht eine besondere Bedeutung zu, da die von der Charta garantierten Grundrechte vor dem VfGH als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte geltend gemacht werden können und sie ein Prüfungsmaßstab im Verfahren der generellen Normenkontrolle sind. Beides gilt freilich nur unter der Voraussetzung, dass die betreffende Garantie der Charta in ihrer Formulierung und Bestimmtheit verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten der österreichischen Bundesverfassung gleicht sowie nur innerhalb des durch Art 51 Abs 1 GRC normierten Anwendungsbereichs der Charta. Dass diese beiden Bedingungen alles andere als eindeutig sind, ist bekannt und das kann pars pro toto für die vielen offenen Fragen und Probleme stehen, welche die Charta aufwirft. Eine verlässliche Orientierung ist daher ein dringendes Bedürfnis, und zwar auch für die juristische Praxis in allen Rechtsgebieten, in denen den europäischen Grundrechten Bedeutung zukommen kann – und das trifft letztlich wohl für fast alle Rechtsgebiete zu.

Es ist daher nicht erstaunlich, dass es zur Charta bereits eine Vielzahl von Kommentaren gibt, die in durchwegs qualitätvoller Weise und mit unterschiedlichem Zuschnitt Hilfestellung bei der Anwendung der Charta geben. Dass sich vor allem das deutschsprachige rechtswissenschaftliche Schrifttum der Charta mit besonderer Aufmerksamkeit zuwendet, ist auch kein Zufall. Betrachtet man ihre Entstehungsgeschichte und die maßgeblichen Akteure, die an ihr beteiligt waren, ist der Einfluss der deutschen Grundrechtsdogmatik unübersehbar, die neben der EMRK, aber auch über sie vermittelt, in die Diktion, den Stil, die Dogmatik und die Inhalte der Charta eingeflossen ist. Es nimmt daher nicht wunder, wenn dieser Einfluss auch auf ihre Interpretation durchschlägt und auf das Vorverständnis, mit dem sich RechtsanwenderInnen der Charta zuwenden. Dass das eine legitime und in vielerlei Hinsicht vernünftige Vorgangsweise ist, wird man nicht bestreiten und es wird auch durchaus praktische Gründe geben, weshalb Juristinnen und Juristen in erster Linie Rat bei Kommentaren suchen, die nicht nur in sprachlicher Hinsicht im Kontext eines vertrauten nationalen Rechtssystems stehen.

Trotzdem kann eine solche Fokussierung auf nationale Traditionen und Verständnishorizonte zu Einseitigkeiten und Missverständnissen führen. Immerhin ist die Charta ein europäisches Rechtsdokument, zu dem sich alle Mitgliedstaaten bekannt haben (freilich nicht alle in derselben Konsequenz!) und das auch in einer europäischen Grundrechtstradition steht, die sich zwar457 aus nationalen Strömen speist, aber durchaus Eigenstand erlangt hat. Daher ist es nützlich und geboten, auch bei der Anwendung der Charta eine Perspektive einzunehmen, die einzelne nationale Vorverständnisse überschreitet und die in Rechnung stellt, dass die europäischen Grundrechte Besonderheiten aufweisen, die sich einem nur nationalstaatlich geprägten Grundrechtsverständnis nicht ohne Weiteres erschließen. Und es ist genau dieser Umstand, der den hier anzuzeigenden englischsprachigen Kommentar zur Charta auszeichnet.

Den HerausgeberInnen dieses Werkes, Professorinnen und Professoren an englischen Universitäten, ist es gelungen, einen eindrucksvollen Kreis von mehr als 50 Autorinnen und Autoren zu gewinnen. Obwohl sie mehrheitlich aus dem Vereinigten Königreich stammen, haben auch Expertinnen und Experten aus anderen Mitgliedstaaten (zB Niederlande, Belgien, Finnland, Spanien) sowie Mitglieder und MitarbeiterInnen wichtiger europäischer Institutionen bis hin zum Präsidenten des EuGH dazu beigetragen. Die deutschsprachige Wissenschaft ist mit dem Augsburger Professor Ferdinand Wollschläger vertreten, der das Eigentumsgrundrecht (Art 17 GRC) kommentiert, sowie durch Manfred Nowak, der gemeinsam mit einer Mitautorin das Folterverbot (Art 4 GRC) bearbeitet hat.

Die einzelnen materiellen Artikel der Charta werden einem einheitlichen Schema folgend behandelt: Zunächst wird der Text der für die Interpretation wichtigen Erläuternden Bemerkungen wiedergegeben und es wird auf einschlägige Literatur hingewiesen, und zwar gerade auch auf die englischsprachige, die sich ansonsten nicht ohne Weiteres erschließt. Sodann wird der Stellenwert des jeweiligen Artikels im Gesamtzusammenhang der Charta erläutert und auf Vorbilder und parallele Bestimmungen in anderen Grundrechtsdokumenten hingewiesen, bevor auf die Substanz der jeweiligen Gewährleistung, dh ihre Reichweite, Schranken und Fragen der Rechtsdurchsetzung, eingegangen wird. Am Schluss steht eine Bewertung der jeweiligen Garantie.

Eine inhaltliche Würdigung der einzelnen Kommentierungen ist hier naturgemäß nicht möglich. Sie sind jedenfalls und durchwegs mit großer Sachkunde verfasst und sie orientieren sich verlässlich an dem Stand der Meinungen und der Rsp, soweit es eine solche bereits gibt. Dass immer wieder auf offene Fragen hingewiesen werden muss, versteht sich von selbst. Trotz der formal einheitlichen Gestaltung unterscheiden sich die einzelnen Bearbeitungen in ihrem Stil, der Tiefe der Behandlung und ihrer dogmatischen Qualität, und das ist bei einem solchen, fast 2.000 Seiten umfassenden Werk auch nicht anders möglich. Mitunter hätte man den HerausgeberInnen vielleicht doch eine strengere Hand gewünscht, etwa im Hinblick auf die Beseitigung von Wiederholungen, die fehlende Vereinheitlichung von Abkürzungen und andere Formalia, aber das wiegt nicht schwer im Vergleich zu der Fülle an Informationen und Material, die hier zusammengetragen wurde. Um es aus der persönlichen Perspektive des Rezensenten zu sagen: Man wird eigentlich zu keiner Frage im Zusammenhang mit der Auslegung und Anwendung der Charta profund Stellung nehmen können, ohne diesen Kommentar zur Hand genommen zu haben.

Besonders wertvoll sind jene Bearbeitungen, welche die Relevanz der einzelnen Gewährleistungen für das Unionsrecht und seine Anwendung verdeutlichen (was nicht alle in gleicher Tiefe tun), oder jene Kommentierungen, die sich Gewährleistungen zuwenden, für die es keine Entsprechung in der EMRK gibt. So sind beispielsweise die zur Tragweite der Unternehmerischen Freiheit (Art 16) angestellten Erwägungen besonders interessant, weil es dieses Recht weder in der EMRK noch in nationalen Verfassungen gibt (zumindest nicht in dieser Form), obwohl es sich bei dieser Gewährleistung offensichtlich doch um ein justiziables Grundrecht handelt. Das gilt in der gleichen Weise nicht für alle Gewährleistungen der Charta, die nur als Grundsätze verankert sind, die nach Maßgabe unionsrechtlicher oder nationaler Rechtsvorschriften wirksam werden; nichtsdestoweniger sind auch die Kommentierungen zu diesen Bestimmungen hilfreich, auch wenn sie noch häufiger als in anderen Zusammenhängen einräumen müssen, dass noch vieles offen ist.

Ergänzend zu den Kommentaren zu den 54 Artikeln der Charta enthält der Band noch mehrere querschnittartige Abhandlungen. Sie gehen auf die Stellung der Charta im Verfassungsgebäude der Union, auf ihre Implementierung durch die Institutionen der EU, auf die mit ihrem extra-territorialen Anwendungsbereich verbundenen Probleme oder die Bedeutung der Erläuternden Bemerkungen zur europäischen Grundrechtecharta ein und vertiefen auf diese Weise zentrale Fragestellungen rund um ihre Anwendung. Ein abschließendes Kapitel behandelt schließlich den bekannten Entwurf eines Abkommens über den Beitritt der EU zur Menschenrechtskonvention und nimmt dazu noch die optimistische Position ein, dass es den Verfassern des Entwurfs gelungen sei, die Schwierigkeiten dieses Vorhabens zu meistern, die hauptsächlich mit der hoch gehaltenen Autonomie des Unionsrechts und der Stellung des EuGH zusammenhängen. Dass dieser Optimismus voreilig war, hat das Gutachten 2/13 des EuGH vom Dezember 2014 gezeigt, das der Verfasser noch nicht berücksichtigen konnte. Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als gewiss, ob die mehr als 30-jährige Diskussion über das Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und der EMRK in Bälde zu einem guten Abschluss kommen wird.

Was den Gesamtband angeht, fällt das Urteil leicht: Der englischsprachige Kommentar zur Charta ist ein Standardwerk, an dem die Grundrechtspraxis nicht vorübergehen kann, und zwar auch dann nicht, wenn es um die Anwendung der Charta im Recht der Mitgliedstaaten geht.