Zum Mindestlohn beim grenzüberschreitenden Transitverkehr

WALTERGAGAWCZUK (WIEN)
Seit einigen Jahren ist die Frage, ob ein Mitgliedstaat beim grenzüberschreitenden Transitverkehr den nationalen Mindestlohn vorschreiben kann, sowohl auf politischer als auch juristischer Ebene rege in Diskussion. Dabei wird die Vereinbarkeit der Mindestlohnkontrolle mit der EU-Dienstleistungsfreiheit zwar regelmäßig besprochen, eine grundlegende Erörterung dieser Problemstellung mittels empirischer Daten erfolgte bislang jedoch nicht. Der folgende Beitrag setzt sich daher im Kern mit den Fragen auseinander, welches öffentliche Interesse einer Mindestlohnkontrolle beim Transitverkehr zugrunde liegt und inwieweit diese in Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt werden kann.
  1. Hintergrund

  2. Aktuelle Entwicklungen

    1. Der Vorschlag zur Reform der Entsenderichtlinie

    2. Das Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz

    3. Die „Loi Macron“ in Frankreich

    4. Die Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und Frankreich

  3. Das anzuwendende Arbeitsrecht nach Rom I

  4. Die Entsenderichtlinie

    1. Zum Begriff der Entsendung

    2. Kabotage und bilateraler Verkehr

    3. Transitverkehr und sonstige Fälle

  5. Eingriffsnormen

  6. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses

    1. Allgemeines zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses

    2. Schutz der Arbeitnehmer

    3. Schutz des lauteren bzw fairen Wettbewerbs und Bekämpfung von Sozialdumping

    4. Sicherheit des Straßenverkehrs

    5. Schutz der Umwelt

  7. Verhältnismäßigkeit

  8. Zusammenfassung

  9. Österreichische Rechtslage

1.
Hintergrund

Mit 1.1.2015 trat in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn in Kraft. Kurze Zeit später kam es zu Beschwerden einiger Mitgliedstaaten gegen die Anwendung des Mindestlohnes beim grenzüberschreitenden LKW-Verkehr. Vor allem polnische und tschechische Frächter fürchteten ihre Wettbewerbsvorteile zu verlieren, wenn sie ihren Fahrern bei einem Einsatz in Deutschland den deutschen Mindestlohn zahlen müssen. Geradezu blitzartig hat die Europäische Kommission noch im Jänner 2015 ein sogenanntes Pilotverfahren* gegen Deutschland eingeleitet. In weiterer Folge hat die deutsche Bundesministerin für Arbeit und Soziales als Interimslösung bis zur Klärung der Rechtslage die Kontrollen des Mindestlohns für den sogenannten reinen Transit* ausgesetzt.* Bei Kabotage* sowie beim bilateralen Verkehr, also bei Transportleistungen mit Be- oder Entladung in Deutschland, wurden die Mindestlohnvorschriften aber weiterhin angewendet. Die Frage, inwieweit es europarechtlich zulässig ist, bei404 Transitfahrten die jeweiligen nationalen Lohnvorschriften anzuwenden, ist seither Gegenstand reger politischer und juristischer Diskussion in Deutschland.* In Österreich haben sich Windisch-Graetz* und zuletzt Niksova* ausführlich mit dem Thema Mindestlohn bei grenzüberschreitenden Sachverhalten im Transportgewerbe auseinandergesetzt.

2.
Aktuelle Entwicklungen
2.1.
Der Vorschlag zur Reform der Entsenderichtlinie

Am 8.3.2016 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Reform der Entsende-RL vorgelegt.* Inhalt dieses Vorschlags sind insb die grundsätzliche Beschränkung der Entsendung auf 24 Monate, eine Klarstellung dahingehend, dass nicht nur die Mindestlohnsätze, sondern gegebenenfalls auch andere Lohnbestandteile wie Prämien und Zulagen durch die RL erfasst sind und die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorzusehen, dass die Unternehmen bei grenzüberschreitender Arbeitskräfteüberlassung die Arbeitsbedingungen nach Art 5 der Leih-AN-RL* garantieren. Eine Klarstellung dahingehend, inwieweit die Entsende-RL auf Transportleistungen zur Anwendung kommt, ist dem Richtlinienvorschlag nicht zu entnehmen. Im Gegenteil: In den Erwägungsgründen wird festgestellt, dass die Umsetzung der Entsende-RL bei Arbeiten im internationalen Straßenverkehr besondere rechtliche Fragen und Schwierigkeiten aufweist. Es sei daher „am besten, wenn diese Herausforderungen durch sektorspezifische Rechtsvorschriften und andere EU-Initiativen, die auf eine verbesserte Funktionsweise des Verkehrsbinnenmarktes abzielen, angegangen würden“.* Was damit konkret gemeint ist, bleibt unklar. Es entsteht eher der Eindruck, dass man die heiße Kartoffel möglichst loswerden wollte und sie – bildlich gesprochen – einfach in die Luft warf. Es wird abzuwarten sein, ob der EuGH sie auffängt.*

2.2.

Der österreichische Gesetzgeber hat sich vor kurzem gegen die Anwendung des Mindestlohnes beim reinen Transit entschieden (§ 1 Abs 5 Z 7 LSD-BG), sofern es sich um Arbeiten von geringem Umfang und kurzer Dauer handelt. Nicht ausgenommen sind somit die Kabotage und der Zielverkehr, also wenn die Entladung in Österreich erfolgt.* Ebenso nicht ausgenommen sind Fälle, wo sich der gewöhnliche Arbeitsort in Österreich befindet.*

Unklar ist, ob bei der Interpretation von „Arbeiten von geringem Umfang und kurzer Dauer“ auf die einzelne Tätigkeit abzustellen ist, oder ob mehrere Transitfahrten im zeitlichen Zusammenhang zu betrachten sind. Würde also etwa ein AN, der mehrmals die Woche durch Österreich fährt, ebenfalls die Voraussetzungen für die Ausnahme vom Geltungsbereich erfüllen?*

2.3.
Die „Loi Macron“ in Frankreich

In Frankreich gilt seit 1.7.2016 ein Gesetz, dass die Anwendung des französischen Mindestlohns im Verkehrssektor für Kabotage und alle grenzüberschreitenden Beförderungsleistungen mit Ausnahme des reinen Transitverkehrs vorsieht.* Vorgesehen sind weiters bestimmte Meldevorschriften („Attestation de détachement“) sowie die Benennung eines Vertreters („Représentant“), der die Arbeitszeit- und Lohnaufzeichnungen zu verwahren und bei Kontrolle vorzulegen hat.

2.4.
Die Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und Frankreich

Am 16.6.2016 hat Frankreich ein Aufforderungsschreiben von der europäischen Kommission erhalten, womit der erste Schritt eines Vertragsverletzungsverfahrens eingeleitet wurde. Deutschland hat mit gleichem Tag ein ergänzendes Aufforderungsschreiben erhalten, nachdem im Anschluss an das oben angeführte Pilotverfahren bereits im Mai 2015 der erste Schritt eines Vertragsverletzungsverfahrens gesetzt wurde. Die Kommission hält fest, dass sie voll und ganz das Prinzip eines Mindestlohnes unterstützt, vertritt jedoch die Ansicht, dass eine systematische Anwendung der Mindestlohngesetze Frankreichs bzw Deutschlands auf alle Verkehrsleistungen eine unverhältnismäßige Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit und des freien Warenverkehrs bewirkt.*

3.
Das anzuwendende Arbeitsrecht nach Rom I

Ausgangspunkt jeder juristischen Erörterung des anwendbaren Rechts bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ist das internationale Privatrecht. Grundlage dafür ist das EVÜ* bzw für Arbeitsverträge, die nach dem 16.12.2009 geschlossen wur-405den, die Rom I-VO.* Maßgeblich ist demnach der gewöhnliche Arbeitsort und in Ermangelung eines solchen das Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den AN eingestellt hat. Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände jedoch eine engere Verbindung zu einem anderen Staat, so ist das Recht dieses Staates anzuwenden (Art 8 Rom I-VO). Da bei BerufskraftfahrerInnen im internationalen Straßenverkehr ein gewöhnlicher Arbeitsort oftmals schwer auszumachen ist, tendiert die Praxis dazu, die Niederlassung des einstellenden AG als maßgeblichen Anknüpfungspunkt heranzuziehen. Dies begünstigt Briefkastenfirmen, die besonders in der Transportbranche weit verbreitet sind.* Auch in der Rs Koelzsch* berief sich der AG, eine Luxemburger Tochterfirma eines dänischen Unternehmens, auf das Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den AN eingestellt hat. Der EuGH entschied jedoch, dass das Kriterium des Staates, in dem der AN gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, vor dem Hintergrund des Schutzes der schwächeren Vertragspartei, sohin des AN, weit auszulegen ist. Unter Berücksichtigung des Wesens der Arbeit im internationalen Transportsektor ist sämtlichen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen, die die Tätigkeit des AN kennzeichnen. Es muss insb ermittelt werden, in welchem Staat sich der Ort befindet, von dem aus der AN seine Transportfahrten durchführt, Anweisungen zu diesen Fahrten erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden. Es muss auch geprüft werden, an welche Orte die Waren hauptsächlich transportiert werden, wo sie entladen werden und wohin der AN nach seinen Fahrten zurückkehrt. Maßgebliche Anknüpfungspunkte sind sohin nicht formelle Aspekte wie insb die Niederlassung des einstellenden AG, sondern tatsächliche Umstände, die vom AG wesentlich weniger leicht einseitig bloß zu seinem Vorteil gestaltbar sind. Damit hat der EuGH den Briefkastenfirmen für das Arbeitsrecht zumindest in der Theorie weitgehend die Grundlage entzogen.*

Wenn sich für ein Arbeitsverhältnis auf Grund der Rom I-VO die Anwendung des Arbeitsrechts eines bestimmten Mitgliedstaates ergibt, so kann dieser Mitgliedstaat die Geltung eines gesetzlichen Mindestlohns* auch dann vorschreiben, wenn sich der Sitz des AG im Ausland befindet. Alternativ zu einer gesetzlichen Festlegung eines Mindestlohns kann der Mitgliedstaat, so wie Österreich, für AG, die keine Niederlassung im Inland haben, ein Mindestentgelt in der Art vorsehen, dass auf den einschlägigen KollV verwiesen wird.* Dies gilt dann aber grundsätzlich auch für Transitfahrten durch den betreffenden Mitgliedstaat.* Es kann also festgehalten werden: Der Mitgliedstaat, dessen Arbeitsrecht auf Grund des Art 8 Rom I-VO anzuwenden ist, kann auch für Transitfahrten die Einhaltung eines Mindestlohns vorsehen.

4.
Die Entsenderichtlinie
4.1.
Zum Begriff der Entsendung

Wird die Arbeit gewöhnlich in einem Staat erbracht, so wechselt das anzuwendende Recht auch nicht, wenn der AN seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet (Art 8 Abs 2 Satz 2 Rom I-VO). Überlagert wird diese Rechtslage gewissermaßen durch die Entsende-RL.* Für deren Anwendungsbereich haben nämlich die Mitgliedstaaten den in ihr Hoheitsgebiet entsandten AN bestimmte Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu garantieren (Art 3 Abs 1 Entsende-RL). Als entsandter AN gilt jeder AN, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistungen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet (Art 2 Abs 1 Entsende-RL). Der AN-Begriff richtet sich dabei nach dem Ort der Beschäftigung (Art 2 Abs 2 Entsende-RL). Der Zeitraum wird nur mit „begrenzt“ definiert. Dies bereitet bei längeren Entsendungen Abgrenzungsschwierigkeiten zum gewöhnlichen Arbeitsort.* Ein Mindestzeitraum ist jedoch nicht vorgesehen.* Es ist auch nicht vorgesehen, dass die Arbeitsleistung wie etwa bei Bauarbeitern im Entsendestaat an einem festen Ort verrichtet werden muss. AN, die als LenkerInnen eines KFZ im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dessen Hoheitsgebiet sie normalerweise arbeiten, beschäftigt sind, gelten somit als entsandte AN iSd Entsende-RL. Der Umstand, dass sie dabei häufig vorübergehend in mehreren Mitgliedstaaten und nicht bloß in einem Mitgliedstaat arbeiten, ändert daran nichts.*406

4.2.
Kabotage und bilateraler Verkehr

Maßgeblich für die Anwendung der Entsende-RL ist aber nicht nur, dass es sich um einen entsendeten AN handelt, sondern weiters, dass es sich um eine Entsendung im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung einer Dienstleistung handelt (Art 1 Abs 1 Entsende-RL) und weiters einer der Tatbestände des Art 1 Abs 3 Entsende-RL erfüllt ist.* lit b dieser Bestimmung erfasst die konzerninterne Entsendung, lit c die grenzüberschreitende Überlassung und lit a Entsendungen im Rahmen eines Vertrages, der zwischen dem entsendeten Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsunternehmen geschlossen wurde. Bei Kabotage und bei der Erbringung von Transportleistungen im sogenannten bilateralen Verkehr, also der Erbringung einer Transportleistung mit Entladung im Entsendungsstaat, wird die Dienstleistung für einen im Empfangsstaat tätigen Dienstleistungsempfänger erbracht. Diese Transportleistungen fallen somit in den Anwendungsbereich der Entsende-RL.* Soweit es die Kabotage betrifft, wurde dies auch ausdrücklich in Erwägungsgrund 17 der VO (EG) 1072/2009 festgehalten.

4.3.
Transitverkehr und sonstige Fälle

Sofern kein Vertrag zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem im Empfangsstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde und zudem kein Fall des Art 1 Abs 3 lit b (Konzernentsendung) oder des Art 1 Abs 3 lit c (grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung) vorliegt, findet die RL nach ihrem Wortlaut keine Anwendung. Dies wären vorrangig die Fälle des sogenannten reinen Transits, also etwa die Durchfahrt eines Güterzuges oder das Passieren eines Staatsgebietes mit einem LKW.*

Sachverhalte, wo die Dienstleistung nicht durch den Vertragspartner selbst erbracht wird, sondern dieser die konkrete Erbringung der Dienstleistung an einen Dritten überträgt,* sind ebenfalls vom Wortlaut des Art 1 Abs 3 lit a nicht erfasst („einen AN ... im Rahmen eines Vertrages entsenden, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem ... Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde ...“). Bei einer Interpretation nach einer der wohl bedeutendsten Auslegungsmethoden des EuGH, dem effet utile,* ergibt sich jedoch, dass diese Fälle von der Entsende-RL erfasst sind. Andernfalls könnte nämlich die RL leicht umgangen werden und ihr wäre somit „ein nicht unerheblicher Teil ihrer praktischen Wirksamkeit genommen“.*

Bei grenzüberschreitenden Transporten von Waren durch den Verkäufer selbst wird idR davon auszugehen sein, dass die Transportleistung gegenüber dem Warenkauf einen zweitrangigen Aspekt darstellt und daher in Hinblick auf die einschlägige EuGH-Judikatur* grenzüberschreitende Lieferungen durch den Verkäufer der Warenverkehrsfreiheit zuzuordnen sind. Da sich die Entsende-RL jedoch (nur) auf Entsendungen im Zuge der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen bezieht,* liegen diese Sachverhalte außerhalb ihres Anwendungsbereichs.* Die nachstehenden Überlegungen zum nationalen Mindestlohn beim grenzüberschreitenden Transitverkehr lassen sich daher prinzipiell auch auf den grenzüberschreitenden Transport von Waren durch den Verkäufer umlegen.

5.
Eingriffsnormen

Es kann somit festgehalten werden, dass ua die Fälle des reinen Transits nicht in den Anwendungsbereich der Entsende-RL fallen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es den Mitgliedstaaten grundsätzlich verwehrt wäre, den jeweiligen nationalen Mindestlohn bzw Vorschriften des Arbeitsrechts vorzuschreiben. Die Ansicht von Karl,* wonach die Aufzählung der von der Entsende-RL erfassten Entsendetypen eine absolute sei und eine Ausweitung in der Entsende-RL nicht vorgesehen sei, ist nicht überzeugend. Es ist richtig, dass die Entsende-RL selbst keine Ausweitung der Entsendetypen vorsieht. Das bedeutet jedoch nicht, dass Entsendefälle, die nicht in den Anwendungsbereich der Entsende-RL fallen, nicht geregelt werden dürfen. Es liegt ja in der Natur der Sache, dass ein Gesetz oder eine RL, Sachverhalte, die nicht in deren Anwendungsbereich fallen, nicht regelt.* Die von der Judikatur des EuGH aus Art 3 der Entsende-RL abgeleitete sogenannte Sperrwirkung bezieht sich auch nur auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, nicht jedoch auf den Anwendungsbereich.* Der EuGH hält daher auch in der407 gegenständlichen E ohne jegliche Einschränkung auf den Anwendungsbereich der Entsende-RL fest, dass das Gemeinschaftsrecht nach stRsp es den Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht verwehrt, ihre Rechtsvorschriften oder die von den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträge auf alle Personen zu erstrecken, die – und sei es auch nur vorübergehend – eine unselbstständige Tätigkeit ausüben, und zwar unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat der AG ansässig ist.* Den Mitgliedstaaten ist es aber – und hier ist Karl zuzustimmen – nicht erlaubt, ihr nationales Arbeitsrecht auch außerhalb des Geltungsbereichs der Entsende-RL auf grenzüberschreitend entsandte AN nach Belieben anzuordnen.* In Hinblick auf die Beachtung kollisionsrechtlicher Schranken müssen diese nationalen Vorschriften die Voraussetzungen für eine Eingriffsnorm iSd Art 9 Rom I-VO erfüllen* und dürfen zudem keine unzulässige Beschränkung der Marktfreiheiten iSd Judikatur des EuGH darstellen.* Bei Eingriffsnormen handelt es sich um zwingende Normen, denen zur Wahrung des öffentlichen Interesses internationaler Gestaltungswille zukommt. Das öffentliche Interesse ist primär an der Strafsanktion bei Normverletzung, bei Fehlen einer solchen in der besonderen ordnungspolitischen Funktion zu erkennen.*

6.
Zwingende Gründe des Allgemeininteresses
6.1.
Allgemeines zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses

Nationale Maßnahmen, die die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit behindern oder weniger attraktiv machen, müssen laut stRsp des EuGH vier Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden und durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Weiters müssen sie verhältnismäßig sein, also geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (sogenannte Gebhard-Formel).*

Im Folgenden sollen zwingende Gründe des Allgemeininteresses untersucht werden, die für die Rechtfertigung einer Kontrolle des nationalen Mindestlohns beim Transitverkehr in Frage kommen: Schutz der AN,* Schutz des lauteren bzw fairen Wettbewerbs* und Bekämpfung von Sozialdumping,* Sicherheit des Straßenverkehrs* und Schutz der Umwelt.* Weiters wären noch die Verhinderung von Sozialbetrug und Missbräuchen und die Sicherung der Systeme der sozialen Sicherheit* zu nennen, die jedoch in Hinblick auf die Länge des Beitrags hintangestellt bleiben.

6.2.
Schutz der Arbeitnehmer

Relativ ausführlich wird der Schutz des/der AN im gegebenen Zusammenhang von Niksova* und von Moll/Katerndahl* erörtert. Beide kommen im Wesentlichen zum gleichen Ergebnis. Unter Bezugnahme auf die E des EuGH in der Rs Bundesdruckerei* wird argumentiert, dass die Anwendung nationaler Mindestlohnvorschriften auf ausländische AN nicht völlig von der Frage der Lebenshaltungskosten abgekoppelt werden darf und daher bei „kurzfristigen“ Entsendungen auf Grund der nur geringfügig höheren Kostenbelastung etwa für Mahlzeiten eine Rechtfertigung durch den Schutz des/der AN nicht möglich ist. Zu Recht schränkt aber Niksova ein, dass dies nur bei „kurzfristigen“ Einsätzen gilt. Je länger der Einsatz dauert und/oder je öfter er wiederholt wird, umso eher kann ein Bezug zu den Lebenshaltungskosten im Transitland bejaht werden. Tatsächlich verbringt der überwiegende Teil der BerufskraftfahrerInnen mehrere Wochen „on the road“* und ist regelmäßig „im Transit“ unterwegs. Dh es liegt in der Natur der Beschäftigung, dass zwar jede einzelne Transitfahrt für sich betrachtet idR nur einige Stunden dauert, BerufskraftfahrerInnen jedoch einen Großteil ihrer Arbeitszeit auf Transitstrecken verbringen. Für diese in der Praxis überwiegenden Sachverhalte ist aber das häufig vorgebrachte Argument, dass es sich bei Transitfahrten ja nur um einen kurzfristigen grenzüberschreitenden Einsatz von AN handelt,* nicht griffig, sondern verzerrend und verschleiert die tatsächlichen Verhältnisse bzw die maßgebli-408che wirtschaftliche Betrachtungsweise. Fazit: Für kurzfristige Einsätze ieS greift das Argument mit den Lebenshaltungskosten für BerufskraftfahrerInnen, die typischerweise einen wesentlichen Teil ihrer Arbeitszeit „im Transit“ verbringen, nicht. Für letztere ist der Schutz des AN daher ein Rechtfertigungsgrund für die Vorschreibung nationaler Mindestlöhne.

6.3.
Schutz des lauteren bzw fairen Wettbewerbs und Bekämpfung von Sozialdumping

Auch in diesem Zusammenhang ergibt sich ein verzerrendes Bild, wenn jede einzelne Transitfahrt gesondert beurteilt wird.* Die FahrerInnen international bzw europaweit tätiger Frächter sind typischerweise wesentliche Teile ihrer Arbeitszeit „im Transit“ tätig. Wenn für Transitfahrten nur der jeweilige Lohn nach dem Heimatort* des Fahrers gezahlt wird, dann haben Unternehmen in Niedriglohnstaaten einen klaren Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen in Hochlohnländern. Dies hat in den letzten zehn Jahren auch dazu geführt, dass Transportunternehmen zunehmend ihre Geschäftstätigkeit in die östlichen Niedriglohnstaaten der EU verlagert haben. Deutschland, Dänemark oder Schweden verzeichnen Rückgänge in internationalen Transportleistungen, wohingegen Bulgarien, Rumänien oder Ungarn ihre grenzüberschreitenden Transportleistungen mehr als verdoppelt haben.* 2014 war jeder zweite Schwertransporter in Tochterfirmen österreichischer Unternehmen im Ausland (insb Slowakei und Ungarn) und nicht mehr bei der Muttergesellschaft registriert.* Die Folgen dieses Wettbewerbs auf Kosten der Löhne sind jedenfalls mittel- und langfristig eine Senkung des Lohnniveaus und der Sozialstandards in den meisten alten Mitgliedstaaten. Weitere Folgen sind Verdrängungseffekte am Arbeitsmarkt* und steigende Arbeitslosigkeit sowie eine Schwächung der Tarifautonomie.* Gerade dieses Sozialdumping sollte aber durch das europäische Entsenderecht verhindert werden.* Für einen allfälligen Umkehrschluss, dass man diese Folgen für nicht von der Entsende-RL erfasste Bereiche bewusst in Kauf genommen hat und diese öffentlichen Interessen daher unbeachtlich wären, fehlen Anhaltspunkte.

Es kann daher festgehalten werden: Vorbehaltlich der Verhältnismäßigkeit (siehe unten) ist die Vorschreibung des nationalen Mindestlohns für Transitfahrten von FahrerInnen ausländischer Unternehmen* durch den Schutz des lauteren bzw fairen Wettbewerbs und der Bekämpfung von Sozialdumping gerechtfertigt.*

6.4.
Sicherheit des Straßenverkehrs

Überlange Lenkzeiten sowie die Nichteinhaltung von Pausen oder Ruhezeiten sind für viele FahrerInnen üblich. So etwa betrug die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit der im Rahmen der Studie der European Transport Workers` Federation (ETF) befragten FahrerInnen 11,5 Stunden und die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 57,5 Stunden. Rund 80 % der befragten FahrerInnen wurden für Be- und Entladetätigkeiten nicht bezahlt und aufgefordert, diese nicht als „sonstige“ Arbeit zu notieren. Damit wird diese Zeit automatisch als Pause oder Ruhezeit gezählt und bei der Berechnung des Lohns nicht berücksichtigt.* Ein wesentlicher Antrieb für diese langen Arbeitszeiten ist insb die Form der Bezahlung. Der überwiegende Teil der FahrerInnen wird nämlich nach zurückgelegten Kilometern bezahlt.* Dass dies vor allem bei FernfahrerInnen negative Auswirkungen auf die Sicherheit im Straßenverkehr haben kann, ist evident. Insofern verbietet Art 10 der VO (EG) 561/2006 grundsätzlich die Bezahlung in Abhängigkeit von der zurückgelegten Strecke. Gem Art 18 leg cit haben die Mitgliedstaaten die zur Durchführung dieser VO erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und gem Art 19 für Verstöße Sanktionen festzulegen und alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Mitgliedstaaten sind daher nicht nur ermächtigt, sondern sogar verpflichtet, neben den Vorschriften über die Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten auch das Verbot der Bezahlung in Abhängigkeit der zurückgelegten Kilometer zu kontrollieren und gegebenenfalls zu sanktionieren.*

Eine Kontrolle des Mindestlohnes an sich könnte vor dem Hintergrund der Verkehrssicherheit damit begründet werden, dass besonders niedrige Löhne dazu anhalten, die Beschränkungen der Lenkzeiten bzw Einhaltung der Ruhezeiten zu ignorieren. Wirksame und effektive Kontrollen der Lenk- und Ruhezeiten selbst wären hier aber geeigneter.409

6.5.
Schutz der Umwelt

Eine Gegenüberstellung der Transportkosten von Straße und Schiene zeigt, dass sich die großen Preisunterschiede vor allem aus dem Faktor Arbeit ergeben. Der Schienenverkehr ist weniger personalintensiv, jedoch werden häufig die Kostennachteile im Straßengüterverkehr durch die Ausnutzung des niedrigen Lohnniveaus in den neuen Mitgliedstaaten kompensiert. Nur so ist es günstiger, die Fracht mit dem LKW quer durch Europa zu fahren, als sie per Bahn zu versenden.* Seitens der Umweltbelastung sind aber die Emissionen bei den Treibhausgasen, Stickstoffoxiden und beim Feinstaub beim LKW-Verkehr ein Vielfaches im Vergleich zur Schiene. Ähnlich verhält es sich bei der Belastung mit Lärm.* Die Vorschreibung des jeweiligen nationalen Mindestlohnes im Transportbereich würde daher zu einer Verlagerung des Transports von der Straße zur Schiene und folglich zu einer wesentlich geringeren Umweltbelastung führen.

7.
Verhältnismäßigkeit

Die Verhältnismäßigkeit von Mindestlöhnen im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Beschäftigung war 2001 Gegenstand der E des EuGH in der Rs Mazzoleni.* Der Gerichtshof kommt dabei zum Ergebnis, dass im Fall kurzfristiger, grenzüberschreitender Entsendungen abzuwägen ist, ob dem Verwaltungsaufwand für den AG ein nennenswerter Nutzen für die entsandten AN gegenübersteht. Die Vorschreibung des nationalen Mindestlohns kann sich demnach als unverhältnismäßig erweisen, wenn es sich um Beschäftigte eines Unternehmens mit Sitz in einer grenznahen Region handelt, die einen Teil ihrer Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat.* Unverständlich ist, warum der Gerichtshof damals nur auf den Schutz des (unmittelbar betroffenen) AN abgestellt hat und nicht auch auf den fairen Wettbewerb sowie den Schutz vor Sozialdumping, obwohl ersteres explizit in den Erwägungsgründen der Entsende-RL genannt wird und letzteres zweifellos ein maßgeblicher Hintergrund für die Entstehung dieser RL war.* Richtigerweise werden bei der Verhältnismäßigkeit nicht bloß der Schutz der unmittelbar betroffenen AN, sondern alle zwingenden Gründe des Allgemeininteresses gegenüber dem zusätzlichen Aufwand des AG abzuwägen sein.* Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Frage, wie häufig und wie lange die AN des jeweiligen AG grenzüberschreitend beschäftigt sind. Entsendet ein AG nur ausnahmsweise bzw punktuell einen AN auf eine Transitfahrt durch einen anderen Mitgliedstaat, dann wird die Prüfung der Verhältnismäßigkeit eher gegen die Anwendung des nationalen Mindestlohns sprechen. Genau umgekehrt wird es sein, wenn die AN eines Unternehmens regelmäßig durch einen anderen Mitgliedstaat durchfahren. Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Lohndifferenz. Wäre der Lohn im Mitgliedstaat A nur sehr geringfügig niedriger als der Mindestlohn im Mitgliedstaat B, dann wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung häufig zum Ergebnis kommen, dass die Anwendung des nationalen Mindestlohns nicht angemessen wäre.* Im Ergebnis führt dies zu einem beweglichen System, wobei der eine Faktor die Häufigkeit der Transitfahrten bezogen auf das Unternehmen darstellt* und der andere Faktor die Lohndifferenz. Ein weiterer relativ stabiler Faktor ist der Verwaltungsaufwand als solcher. Dabei sind moderne technische Möglichkeiten und Informationsquellen mit zu berücksichtigen. Der Zeitpunkt des Grenzübertritts etwa kann technisch relativ einfach durch GPS* ermittelt werden.* Die gesetzlichen Mindestlöhne sind im Internet leicht herauszufinden.* Bei Mitgliedstaaten ohne gesetzlichen Mindestlohn* ist dies zweifellos schwieriger, wobei zu erwarten ist, dass die Umsetzung der Durchsetzungs-RL Verbesserungen mit sich gebracht hat bzw noch mit sich bringen wird.*

8.
Zusammenfassung

Der Mitgliedstaat, dessen Arbeitsrecht auf Grund des Art 8 Rom I-VO anzuwenden ist, kann für Transitfahrten (auf seinem Staatsgebiet) jedenfalls die Einhaltung des Mindestlohns vorsehen.

AN, die als LenkerInnen eines KFZ im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dessen Hoheitsgebiet sie normalerweise arbeiten, beschäftigt sind, gelten als entsandte AN iSd Entsende-RL. Fälle des sogenannten reinen Transits fallen grundsätz-410lich aber nicht in den Anwendungsbereich der Entsende-RL.

Nationale Vorschriften, die einen Mindestlohn für Transitfahrten vorsehen, können Eingriffsnormen iSd Art 9 Rom I-VO darstellen. Es darf dadurch jedoch zu keiner unzulässigen Beschränkung der Marktfreiheiten iSd Judikatur des EuGH kommen.

Zwingende Gründe des Allgemeininteresses, allen voran der Schutz des lauteren bzw fairen Wettbewerbs und der Bekämpfung von Sozialdumping, stellen vorbehaltlich der Verhältnismäßigkeit eine ausreichende Grundlage für die Rechtfertigung des Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit dar.

Bei der Verhältnismäßigkeit sind einerseits die Häufigkeit der Transitfahrten und andererseits die Lohndifferenz als wesentliche Faktoren iS eines beweglichen Systems zu beachten. Da der zusätzliche Verwaltungsaufwand für den AG in Anbetracht moderner technischer Möglichkeiten relativ gering ist, wird die Verhältnismäßigkeit idR nur dann nicht gegeben sein, wenn die Lohndifferenz sehr gering ist bzw wenn das betreffende Unternehmen nur ausnahmsweise AN für Transitfahrten einsetzt.

9.
Österreichische Rechtslage

Abschließend möchte ich nochmals auf das LSDBG zurückkommen. Demnach ist ja – wie bereits oben unter 2.2. ausgeführt – der reine Transit grundsätzlich ausgenommen, sofern es sich um Arbeiten von geringem Umfang und kurzer Dauer handelt (§ 1 Abs 5 Z 7 LSD-BG). Unklar ist, ob jede einzelne Transitfahrt separat zu betrachten ist, oder ob eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist. Würde zB ein AN eines ungarischen Unternehmens, welcher acht Mal im Monat zwischen Budapest und Stuttgart unterwegs ist und somit ca 60 Stunden in Österreich „im Transit“, unter diese Ausnahme fallen? 60 Stunden werden die Voraussetzungen „von geringem Umfang und kurzer Dauer“ wohl nicht mehr erfüllen. Sinn und Zweck des LSD-BG, nämlich Sozialdumping zu verhindern und für faire Wettbewerbsverhältnisse zu sorgen, sprechen für eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung. Für eine separate Betrachtungsweise und folglich eine prinzipielle Ausnahme des reinen Transits vom LSD-BG spricht die Absicht des Gesetzgebers. Dieser ist – fälschlicherweise – offenbar davon ausgegangen, dass bei reinem Transit keine Konkurrenzsituation zu inländischen Unternehmen vorliegt.* Diese unrichtige Beurteilung würde es meiner Ansicht nach auch rechtfertigen, ausnahmsweise der teleologischen Interpretation den Vortritt zu geben.* Wie auch immer, mangels rechtlicher Klarstellung* wäre eine Strafbarkeit derzeit auf Grund des Bestimmtheitsgebots nicht gegeben.