KnortzGastarbeiter für Europa – Die Wirtschaftsgeschichte der frühen europäischen Migration und Integration

Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2016, 232 Seiten, broschiert, € 36,–

ANDREASRAFFEINER (BOZEN)

Wenn wir mit einem arbeitsrechtlichen und einem historischen Auge das letzte Jahrhundert ansehen, erkennen wir verhältnismäßig rasch, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg viele ItalienerInnen ins europäische Ausland verschlagen hat. In Frankreich beispielsweise diskutierte man bereits Ende der 1940er-Jahre über eine wirkungs- und effektvollere Regelung der Migration. Die Bundesrepublik Deutschland schloss auf diese Weise Mitte der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts mit Italien ein einschneidendes Anwerbeabkommen. Zu diesen außenwirtschaftlichen Gesichtspunkten der Migrationspolitik mit Blick auf die drei erwähnten Länder hat die deutsche Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz interessantes und erstklassiges Material aus den Archiven geholt ausgewertet und ihr neuestes Buch geschrieben.

Den Dreh- und Angelpunkt von Knortz‘ wissenschaftlicher und akademischer Tätigkeit bildet im Großen und Ganzen die Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte des letzten Jahrhunderts. Sie forscht zu72 Fragen der Binnenwährungen und Zahlungsbilanzdefizite und untersucht in sehr interessanter Art und Weise Haushaltsbücher als Quellen zur deutschen Konsum- und Kulturgeschichte. Weitere Arbeiten widmen sich der brisanten, hochbedeutenden wie gleichermaßen gegenwärtigen Themenstellung der „Gastarbeiter als Motor der frühen europäischen, wirtschaftlichen Integration“, der „passiven Gestaltungsmacht der DDR-Belegschaften“ sowie der Problematik des Antisemitismus heutiger Tage als außerordentliche Form der Fremdenfeindlichkeit.

So kann die mehr als gut und stichhaltig recherchierende Verfasserin eindeutig und ausführlich nachweisen, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich in ihrem neuen Werk „Gastarbeiter für Europa – Die Wirtschaftsgeschichte der frühen europäischen Migration und Integration“ die Politik des Anwerbens ein Teil der Außenwirtschaftspolitik war. Doch es ging keinesfalls bloß um die bilateralen Abkommen rund um die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte, sondern auch um die Sondervereinbarungen und Klauseln in Fragen der Mobilität der Arbeitskräfte. Diese waren außerdem in den Verträgen zur europäischen Integration inkludiert. Durch das intensive und nachdrücklich angelegte Quellenstudium zeigt Knortz gründlich und unmissverständlich auf, dass die Angleichung von Schieflagen in den Handelsbilanzen durch Überweisungen in das Herkunftsland durch die neuen ArbeiterInnen ein mehr als nur bedeutsames Beweismaterial in diesen Auseinandersetzungen war.

Italiens Wirtschaftslage war im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs alles andere als stabil. Fast symptomatisch komplex kann man den Modernisierungsrückstand in Industriefragen und dem unterentwickelten, zurückgebliebenen Süden beschreiben. Die Handelsbilanz der jungen Republik wies anschauliche und greifbare Schwachstellen, ja fast schon Defizite auf. Dieser absolut missliche und prekäre Sachverhalt war auch Gegenstand der Verhandlungen im Rahmen der Marshallplan-Institutionen, aber auch die Kampfansagen und Herausforderungen, denen die französische Ökonomie begegnete, wurden allgemein verständlich charakterisiert. Eine fortwährende und andauernde Devisenschwäche kann beispielhaft genannt werden; und auch die Quellen der bilateralen Abkommen zwischen den „lateinischen Schwestern“ Italien und Frankreich, welche in den Aktenbeständen französischer Ministerien zu finden sind, gaben ausschlaggebende, bemerkenswerte, aufschlussreiche und nicht nur für den Historiker oder Arbeitsrechtler interessante Antworten auf die Fragestellung der Einwanderung, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt zu finden ist.

Für die Autorin ist das Volumen der Heimatüberweisungen so etwas wie das wesentliche und richtungsweisende Kernelement. Mehr noch: Die Dokumente zeigen ganz klar und deutlich, wie bedeutend der Stellenwert des Forschungsthemas ist. Mit einem Teilabschnitt über die Debatten, welche im Rahmen des deutsch-italienischen Anwerbeabkommens getätigt werden und einer Erforschung über die durchaus rege Betriebsamkeit der deutschen Körperschaft in der norditalienischen Stadt Verona vor annähernd 60 Jahren endet die Analyse. Im Schlussresümee bestätigt die Verfasserin wiederholt die Einstellung, die Verpflichtung italienischer ArbeiterInnen in Deutschland und Frankreich sei keinesfalls mit industriellem Zuspruch, sondern lediglich aus außenwirtschaftlichen Veranlassungen zu eruieren. Anhaltspunkt für diesen Standpunkt ist eine Aussage des einstigen französischen Botschafters am Ende der Abmachung. Er vertrat die Ansicht, dass Bonn bei Abschluss der Abmachung finanzpolitisch dirigiert worden sei und keineswegs anderweitig dachte.

Als ein minimales, aber durchaus zu vernachlässigendes Manko des ansonsten sehr gut gegliederten und hoch interessanten Buches kann man die gesteigerte Auseinandersetzung unterschiedlich einzuordnender Chancen der Gewichtung betrachten. Die Analyse der Quellen betrifft in diesem Fall lediglich die Außenwirtschaft; eine qualitative Einordnung der Themenstellung ist nicht vorhanden. Dessen ungeachtet gelingt es Knortz, die gegenwärtige Forschung der Migration zu bereichern, unumstößliche und ergebnisorientierte Resultate einer wirtschaftshistorischen Untersuchung des frühen, europäischen Regimes der Migration zu erzielen. Darüber hinaus ist das zu rezensierende Buch ein Gewinn für die derzeit sehr gegenwärtige und interessante Thematik. Außenwirtschaftliche Interessen spielten und spielen in diesem zeitlosen Forschungsgegenstand nach wie vor eine große Rolle, und auf diese Weise ist Knortz ein großer Wurf gelungen.

Man kann dank der akribischen und detailliert formvollendeten Arbeitsweise der Autorin, die mittlerweile als außerplanmäßige Professorin für Wirtschaftsgeschichte an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe tätig ist, einen ersten Blick auf die mannigfachen und unterschiedlichen Interessenlagen richten und auf diese Art und Weise selbst erkennen, wie engmaschig und global vernetzt eine Kooperation von Wirtschaft und Geschichte in Bezug auf die Migration ist. Da über diese oft politisch brisante Thematik noch lange nicht alles geschrieben oder gesagt wurde, kann das Werk für weitere Forschungen mehr als nur ein richtungsweisender Gradmesser sein, wenn es darum geht, ohne Scheuklappen der Gegenwart ins Auge zu blicken und für neue, weiterführende, kritische wissenschaftliche Debatten die Augen offen zu halten.

Dass Wirtschaftsgeschichte eine ursprünglich interdisziplinäre Wissenschaft ist, die Kenntnisse über ökonomische Zusammenhänge bzw die Wirtschaftstheorie, eine gewisse Vertrautheit im Umgang mit statistischen Arbeitsweisen sowie historische Grundkenntnisse und ein geschichtliches Interesse voraussetzt, wird mit dem neuen Buch von Knortz eindeutig klar. Somit ist es auch der Verfasserin vorbildlich gelungen, wirtschaftliche „Tatbestände“ und die daraus folgenden Entwicklungen in ihrer Multikausalität am Beispiel der GastarbeiterInnen in Europa anschaulich zu belegen und folgerichtig und formvollendet zu verdeutlichen.