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Arbeits- und Sozialgericht kann das Vorliegen einer konkreten Berufskrankheit als Vorfrage prüfen

DOMINIKSTELLA (WIEN)
OGH 15.3.2016 10 ObS 125/15bOLG Innsbruck 26.8.2015 Rs 61/15dLG Innsbruck 19.6.2015 76 Cgs 19/15h
  1. Sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche, die eine Verlängerung des vertraglichen Arbeitsentgelts darstellen oder dieses substituieren, fallen als „civil rights“ unter Art 6 EMRK. Hinsichtlich dieser Ansprüche besteht ein subjektives Recht auf effektiven Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht.

  2. In diesem Sinn kann gegen die bescheidmäßige Ablehnung der Anerkennung einer Krankheit als konkrete Berufskrankheit durch den Unfallversicherungsträger Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht erhoben werden.

  3. Das Arbeits- und Sozialgericht ist bei seiner Feststellung, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer konkreten Berufskrankheit ist oder bei der Gewährung eines daraus abgeleiteten Leistungsanspruches, nicht an die Zustimmung des Bundesministers für Gesundheit gebunden.

  4. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist eigenständig, insb auf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse, zu prüfen, ob im Einzelfall eine Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist.

Der 1977 geborene Kl, ein gelernter Koch, leidet an einer Fructose-, Lactose- und Histaminintoleranz. Am 1.9.2014 langte bei der bekl Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt die ärztliche Meldung einer Berufskrankheit des Kl ein.

Mit Bescheid vom 20.1.2015 lehnte es die Bekl ab, die Erkrankung des Kl als Berufskrankheit anzuerkennen, weil eine Fructose-, Lactose- und Histaminintoleranz nicht in der Liste der Berufskrankheiten in der Anlage 1 zum ASVG angeführt sei.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Die beim Kl vorliegende Fructose-, Lactose- und Histaminintoleranz scheine nicht als anerkannte Berufskrankheit in der Anlage 1 zum ASVG auf. Eine Anerkennung von nicht in der Anlage 1 zum ASVG enthaltenen Krankheiten als Berufskrankheit gem § 177 Abs 2 ASVG komme nur für Schwerversehrte (§ 205 Abs 4 ASVG) in Betracht, weil nur diese einen Rentenanspruch hätten (§ 203 Abs 2 ASVG). Für die Entscheidung, ob eine nicht in der Anlage 1 zum ASVG enthaltene Krankheit im Einzelfall als Berufskrankheit gem § 177 Abs 2 ASVG anerkannt werde, sei ausschließlich der Unfallversicherungsträger zuständig. Diese Frage könne daher auch nicht als Vorfrage in einem gerichtlichen Leistungsstreitverfahren geprüft werden.

Trotz der Ansicht des VwGH, wonach die ordentlichen Gerichte bei der Entscheidung über die Feststellung einer Krankheit als Berufskrankheit gem § 177 Abs 2 ASVG nicht an die Zustimmung des Bundesministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales gebunden seien und keine Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit einer sukzessiven Gerichtszuständigkeit in diesen Angelegenheiten mit Art 94 B-VG bestünden, sehe sich das Erstgericht nicht veranlasst, von der gefestigten höchstgerichtlichen Rsp des OGH abzugehen. Ein (negativer) Kompetenzkonflikt zwischen dem OGH und27 dem VwGH, den der VfGH zu entscheiden habe, liege nicht vor. [...]

Das Berufungsgericht wies den Antrag des Kl, das Berufungsgericht wolle an den VfGH einen Antrag auf Entscheidung eines Kompetenzkonflikts stellen, zurück und gab der Berufung des Kl nicht Folge. [...]

Rechtliche Beurteilung

Die von der Bekl beantwortete Revision des Kl ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch iS einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.

In seiner Revision stellt der Kl in den Vordergrund, dass der VwGH jüngst im Erk vom 4.9.2013, 2012/08/0062, der langjährigen Rsp des OGH entgegengetreten sei, weshalb der Kl einem Rechtsschutzgewährungsdefizit ausgesetzt sei, bliebe der OGH bei seiner bisherigen Rsp.

Dazu wurde erwogen:

1. § 177 Abs 1 Satz 1 ASVG stellt die grundsätzliche Regel auf, dass als Berufskrankheiten (nur) die in der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen gelten („abstrakte Berufskrankheiten“). Im Einzelfall gilt eine Krankheit, die ihrer Art nach nicht in der Anlage 1 zum ASVG enthalten ist, als „konkrete Berufskrankheit“, wenn der Träger der UV aufgrund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse feststellt, dass diese Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist; diese Feststellung bedarf zu ihrer Wirksamkeit überdies der Zustimmung des (nunmehr) Bundesministers für Gesundheit (Anlage 2 zu § 2 BMG, Teil 2 G. 6.; zur Einzigartigkeit dieses Zustimmungserfordernisses aus internationaler Sicht Kranig, Reform des deutschen Berufskrankheitsrechts – von Europa lernen? in FS Eichenhofer [2015] 359 [381]).

2. § 177 Abs 2 ASVG wurde mit der 32. ASVG-Novelle, BGBl 1976/704, eingeführt. In den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 181 BlgNR 14. GP 71 f) wird die Novelle folgendermaßen begründet:

„Die rasche Entwicklung auf technischem Gebiet, insbesondere in der Schaffung und Entstehung neuer chemischer Stoffe, bringt in der letzten Zeit wiederholt Schädigungen bei Versicherten hervor, die einwandfrei durch Stoffe oder Strahlen entstanden sind, denen sie bei ihrer versicherungsbegründenden Beschäftigung ausgesetzt waren, ohne daß diese Schädigung innerhalb einer Arbeitsschicht eingetreten ist oder die Erkrankung im Sinne der derzeitigen Gesetzesbestimmung als Berufskrankheit angesehen werden kann. Diese Tatsache bringt für die Versicherten oder deren Hinterbliebene wirtschaftliche Nachteile, die ihre soziale Sicherheit auf das Schwerste gefährden.Die ausschließliche Feststellung der als Berufskrankheiten zu entschädigenden Krankheiten durch die Berufskrankheitenliste erweist sich in diesem Zusammenhang als ein zu grobes Instrument, mit dem solche besonders gelagerte Einzelfälle nicht hinreichend berücksichtigt werden können. [...]Das Vorliegen der erforderlichen Kausalität soll nach der vorgeschlagenen Fassung „auf Grund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse“ festgestellt werden. Es ist hervorzuheben, dass unter diesem Ausdruck nicht eine vereinzelte Lehrmeinung oder etwa die Auffassung eines Praktikers zu verstehen ist; vielmehr muss die Kausalität einwandfrei und übereinstimmend durch Lehre, Literatur und medizinische Praxis gestützt sein.Als Sicherung für eine einheitliche Anwendungspraxis dieser Bestimmung wurde die Mitwirkung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vorgesehen. Das Bundesministerium für soziale Verwaltung wird sich dabei der Teilnahme der nach dem Einzelfall in Betracht kommenden Behörden, die Belange des Arbeitnehmerschutzes wahrzunehmen haben (Zentralarbeitsinspektorat, Land- und Forstwirtschaftsinspektionen, Verkehrs-Arbeitsinspektorat, bei der bergbehördlichen Aufsicht unterstehenden Betrieben des Bundesministeriums für Handel, Gewerbe und Industrie als Oberste Bergbehörde), versichern.Die Anerkennung einer in der Anlage 1 nicht enthaltenen Krankheit als Berufskrankheit im Einzelfall wird im Allgemeinen eine Vorstufe zur Erweiterung der Anlage 1 des ASVG darstellen. Aus diesem Grund wurde auch einer im Begutachtungsverfahren geäußerten Anregung, anstelle der im § 177 Abs. 2 vorgeschlagenen Regelung eine Verordnungskompetenz des Bundesministers für soziale Verwaltung zu schaffen, nicht Rechnung getragen; überdies würde eine solche Verordnungsermächtigung auch zu einer unerwünschten Zersplitterung der Rechtsordnung führen.“

3. Der OGH hat in stRsp die Ansicht vertreten, dass die Anerkennung auch anderer Krankheiten als der in der Anlage 1 zum ASVG genannten nur durch den Träger der UV möglich ist (RIS-Justiz RS0084390). Die vom Träger der UV negativ beantwortete Frage, ob eine Krankheit als „konkrete“ Berufskrankheit gem § 177 Abs 2 ASVG gilt, kann in der Folge nicht als Vorfrage im sozialgerichtlichen Verfahren geprüft werden (RIS-Justiz RS0084386; Resch, Sozialrecht6 [2014] 92; Tarmann-Prentner in

Sonntag
, ASVG6 [2015] § 177 Rz 5).

3.1. Begründet wurde diese Rsp damit, dass die Feststellungsbefugnis des Trägers der UV schon deshalb nicht sukzessiv in die Kompetenz der Sozialgerichte überzugehen vermöge, weil zufolge des in Art 94 B-VG verankerten Grundsatzes der Trennung der Justiz von der Verwaltung die Wirksamkeit einer gerichtlichen Entscheidung nicht davon abhängen kann, dass sie der (im gegebenen Zusammenhang zwingend erforderlichen) Zustimmung durch die Verwaltungsbehörde bedürfte (10 ObS 80/87SSV-NF 1/30; 10 ObS 43/88SSV-NF 2/36).

3.2. Diese Rechtsansicht war bereits vom OLG Wien als seinerzeitigem Höchstgericht in Sozialversicherungssachen vertreten worden (35 R 27/79SSV 19/18; 31 R 244/80ZAS 1982/15, 103 [Oberndorfer/Dearing]).

4. In der Literatur sind bedeutende Stimmen der Ansicht des OGH entgegengetreten.

4.1. Tomandl sah den Umstand, dass die Wirksamkeit der Tatsachenfeststellung, dass die Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwen-28dung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist, von der Zustimmung des Sozialministeriums abhängig gemacht wurde, als befremdlich an (Tomandl, Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung [1977] 15) und verweist auf folgende Rechtsschutzprobleme (Tomandl, Leistungs recht 16 FN 25):

„Die Anerkennung einer Krankheit als konkrete Berufskrankheit wird erst aufgrund eines Leistungsantrages oder bei der amtswegigen Prüfung, ob Leistungsansprüche zustehen, erfolgen können. Weist der Versicherungsträger einen Antrag ab, weil seiner Ansicht nach die Voraussetzungen nicht vorliegen oder weil der Sozialminister die Zustimmung zu seiner Feststellung verweigert hat, wird – soweit es sich um Pflichtleistungen handelt – das Schiedsgericht mit Klage angerufen werden können. Dieses ist an die Zustimmung des Sozialministers nicht gebunden, sondern hat die erforderlichen Feststellungen selbst zu treffen, da es keine das Verfahren vor dem Sozialversicherungsträger kontrollierende Funktion besitzt, sondern das Vorliegen aller Leistungsvoraussetzungen selbst zu überprüfen hat.“

Die Rsp, wonach eine Ablehnung der Anerkennung einer konkreten Berufskrankheit nicht vor Gericht bekämpfbar sei, weil die Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Soziales unverzichtbar sei, verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Eine verfassungskonforme Lösung lasse sich nur durch eine teleologische Reduktion des Gesetzeswortlautes gewinnen, die das Zustimmungserfordernis auf die Entscheidung des Versicherungsträgers beschränke (Tomandl in

Tomandl
, SV-System [13. ErgLfg] 273 FN 25 [2.3.2.2.B.]; ebenso Tomandl, Sozialrecht6 [2009] Rz 216).

4.2. Oberndorfer/Dearing (Anm zu OLG Wien31 R 244/80ZAS 1982, 104) kritisieren, dass zwar formell ein Rechtsweg eingeräumt, aber eine materiell-rechtliche Überprüfung der E (iSd Möglichkeit einer Abänderung) ausgeschlossen werde; sie sprechen sich für eine Überprüfung im Verwaltungsweg aus.

4.3. Holzer(Die Rechtsprechung des OGH zum Versicherungsfall der Berufskrankheit. Eine kritische Würdigung, in

Tomandl
, Der OGH als Sozialversicherungshöchstgericht [1994] 71 [78]) weist darauf hin, dass ein abschlägiger Bescheid des Sozialversicherungsträgers eindeutig in einer Leistungssache ergehe, die als Sozialrechtssache gem § 65 ASGG in die sukzessive Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte falle, weshalb eine Bekämpfung im Verwaltungsverfahren ausgeschlossen sei; ebenso stehe gegen die Ablehnung durch den Bundesminister für Arbeit und Soziales kein Rechtszug an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts offen. Die Auffassung des OGH stelle daher den Antragsteller außerhalb jedes Rechtsschutzes, obwohl es sich bei Sozialversicherungsansprüchen um „civil rights“ iSd Art 6 EMRK handle, die zwingend Gerichten zur Entscheidung zuzuweisen seien (ebenso Holzer, Neues aus dem Recht der Berufskrankheiten, in
Karl
, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2007 [2007] 123 [128]). Beim Modell der sukzessiven Kompetenz könne das Zustimmungserfordernis des Bundesministers für Arbeit und Soziales nur für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde gelten.

4.4. Fink (Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen [1995] 204 ff) sieht eine (interne) „Mitkompetenz“ des Unfallversicherungsträgers und des Bundesministers für Arbeit und Soziales als „verbundene Behörde“ (213); die Willensbildung des Bundesministers für Arbeit und Soziales fließe in den Bescheid des Unfallversicherungsträgers ein (214). Dieser Bescheid sei ein solcher in Leistungssachen und beim Arbeits- und Sozialgericht im Rahmen der sukzessiven Kompetenz anfechtbar (215), das völlig eigenständig über das Vorliegen der Berufskrankheit zu entscheiden habe (216). Das Zustimmungserfordernis beziehe sich nur auf den Unfallversicherungsträger, nicht auch auf das Arbeits- und Sozialgericht (216).

4.5. Auch nach Müller (in SV-Komm [93. Lfg] § 177 ASVG Rz 36 ff) beziehe sich der Genehmigungsvorbehalt des Bundesministers – schon dem Wortlaut nach – nur auf die Anerkennung durch den Unfallversicherungsträger. Die Prämisse des OGH beruhe auf einer Verkennung des Wesens des Aufsichtsverfahrens und einer verfassungswidrigen Interpretation des Gesetzes.

5. In seinem Beschluss vom 4.9.2013, 2012/08/0062, hat der VwGH in einem Verfahren betreffend die Feststellung einer Berufskrankheit im Einzelfall gem § 148e Abs 2 BSVG (entspricht inhaltlich § 177 Abs 2 ASVG) eine Beschwerde mangels Zuständigkeit zurückgewiesen. In seiner E lehnte der VwGH die stRsp des OGH explizit ab: Wie der VwGH schon in seinem Erk vom 4.8.2004, 2001/08/0223, ausgesprochen habe, handle es sich bei der Feststellung, eine Gesundheitsstörung sei Folge einer Berufskrankheit, um eine Leistungssache, dies unabhängig davon, ob es um eine „abstrakte“ Berufskrankheit oder um eine im Einzelfall festzustellende „konkrete“ Berufskrankheit gehe. Dem § 65 Abs 2 ASGG sei eine Differenzierung danach, ob eine abstrakte Berufskrankheit oder eine im Einzelfall festzustellende Berufskrankheit Gegenstand der Feststellung sei, nicht zu entnehmen. § 177 Abs 2 ASVG bzw § 148e Abs 2 BSVG verlange die Zustimmung des Bundesministers als Voraussetzung für die Feststellung einer Krankheit als Berufskrankheit im Einzelfall nicht schlechthin, sondern nur in solchen Fällen, in denen der Versicherungsträger die (positive) Feststellung treffe; das Gericht sei an kein Zustimmungserfordernis gebunden. Aus diesen Gründen fehle es an der Prozessvoraussetzung der Zuständigkeit des VwGH.

6. Wie insb Holzer (siehe oben 4.3.) hervorgestrichen hat, werden sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche, die als Verlängerung bzw Ersatz des vertraglichen Arbeitsentgelts zu qualifizieren sind, als „civil rights“ iSd Art 6 EMRK angesehen (Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention5 [2012] 387). Hinsichtlich dieser Ansprüche besteht ein subjektives Recht auf effektiven Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht. Legitime Schranken dieses Zugangsrechts dürfen den Wesensgehalt des Rechts nicht verletzen.29

7. Schon aus Gründen der Effektuierung der Möglichkeit, die Ablehnung eines Anspruchs auf Entschädigung wegen einer „konkreten“ Berufskrankheit durch ein Gericht iSd Art 6 Abs 1 EMRK überprüfen zu lassen – diese Möglichkeit ist nach der Ablehnung sowohl durch den OGH (in Leistungssachen) als auch durch den VwGH (in Verwaltungssachen) nicht mehr gewährleistet –, ist es angebracht, die bisherige Rsp dahin zu ändern, dass die bescheidmäßige Ablehnung der Anerkennung einer Krankheit als konkrete Berufskrankheit durch den Unfallversicherungsträger die Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht gem § 67 Abs 1 Z 1 ASGG eröffnet. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist eine Feststellung, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer konkreten Berufskrankheit ist, oder ein daraus abgeleiteter Leistungsanspruch nicht von einer Zustimmung des Bundesministers für Gesundheit abhängig. Vielmehr hat das Arbeits- und Sozialgericht – iSd unter 4. dargestellten Lehrmeinungen – eigenständig nach den Vorgaben des § 177 Abs 2 ASVG, insb auf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu prüfen, ob im Einzelfall eine Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist. [...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Bislang wurde § 177 Abs 2 ASVG vom OGH dahingehend interpretiert, dass für die Anerkennung einer konkreten Berufskrankheit ausschließlich der Unfallversicherungsträger zuständig ist und die vom Unfallversicherungsträger getroffene Feststellung, dass eine Krankheit nicht als konkrete Berufskrankheit iSd Norm gilt, in der Folge nicht als Vorfrage im sozialgerichtlichen Verfahren überprüft werden kann (vgl OGH10 ObS 80/87ARD 3944/9/87). Im Ergebnis wurde damit der Rechtsweg für Versicherte schlechthin beseitigt, weil Unfallversicherungsträger die Qualifikation einer Krankheit als Berufskrankheit de facto endgültig verneinen konnten. Begründet wurde diese Rsp mit dem Argument, dass die Feststellungsbefugnis des Unfallversicherungsträgers schon deshalb nicht sukzessiv in die Kompetenz der Sozialgerichte überzugehen vermag, weil aufgrund des in Art 94 B-VG verankerten Grundsatzes der Trennung der Justiz von der Verwaltung die Wirksamkeit einer gerichtlichen Entscheidung nicht von der Zustimmung einer Verwaltungsbehörde – im konkreten Fall jener des BM für Gesundheit – abhängen kann.

Der OGH hat – wohl als Reaktion auf jüngste Rsp des VwGH (2012/08/0062ZfV 2014/343, 246) – seine Judikaturlinie geändert und geht nunmehr davon aus, dass gegen die bescheidmäßige Ablehnung der Anerkennung einer Krankheit als konkrete Berufskrankheit durch den Unfallversicherungsträger Klage beim Arbeits- und Sozialgericht erhoben werden kann. Künftig sollen daher (auch) die ordentlichen Gerichte das Vorliegen einer konkreten Berufskrankheit als Vorfrage prüfen können, ohne dabei an die Zustimmung des BM für Gesundheit gebunden zu sein. Dadurch schließt der OGH eine seit 1980 bestehende Rechtsschutzlücke, die vom OLG Wien als seinerzeitiges Höchstgericht in Sozialversicherungssachen geöffnet wurde (OLG Wien31 R 244/80ZAS 1982, 104 [Oberndorfer/Dearing]).

2.
Spät, aber doch

Der E des OGH ist uneingeschränkt zuzustimmen. Sie beseitigt ein schwerwiegendes Rechtsschutzdefizit, indem sie Versicherten nunmehr eine gerichtsförmige Überprüfung der Feststellung des Unfallversicherungsträgers ermöglicht. Die Vorgehensweise des OGH ist dabei bemerkenswert: So knapp das OLG seinerzeit die Überprüfungskompetenz der ordentlichen Gerichte unter Verweis auf das Prinzip der Gewaltenteilung in Art 94 B-VG verneint hat, so kurz und schmerzlos verwirft der OGH eine seit Jahrzehnten bestehende Judikatur unter Verweis auf Art 6 EMRK. Nach Ansicht des OGH seien sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche, die als Verlängerung bzw Ersatz des vertraglichen Arbeitsentgelts zu qualifizieren sind, als „civil rights“ iSd Art 6 EMRK zu qualifizieren, hinsichtlich derer ein subjektives Recht auf effektiven Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht besteht. Vor diesem Hintergrund könne die bisherige Rsp, wonach die Ablehnung eines Anspruchs auf Entschädigung wegen einer konkreten Berufskrankheit durch ein Gericht iSd Art 6 EMRK nicht überprüft werden kann, nicht mehr aufrechterhalten werden.

Diese prägnante Begründung und eindeutige Entscheidung wirft mE die Frage auf, warum der OGH nicht bereits früher auf dieses Rechtsschutzdefizit reagiert hat. An Anlassfällen dafür kann es nicht gemangelt haben (vgl OGH 22.9.1987, 10 ObS 80/87; OGH 12.4.1988, 10 ObS 43/88; OGH 15.1.2002, 10 ObS 389/01f). Möglichweise hat erst der stetige Bedeutungszuwachs von Art 6 EMRK in der Rsp dem OGH zum Umdenken verholfen. Dies kann mE jedoch bezweifelt werden, zumal etwa Holzer, dessen Ansicht der OGH in der vorliegenden E ausdrücklich teilt, bereits 1994 darauf hingewiesen hat, dass die Auffassung des OGH den Versicherten den gem Art 6 EMRK erforderlichen Rechtsschutz entzieht (vgl Holzer, Die Rechtsprechung des OGH zum Versicherungsfall der Berufskrankheit. Eine kritische Würdigung, in

Tomandl
[Hrsg], Der OGH als Sozialversicherungshöchstgericht [1994] 71 [78]; ders, Neues aus dem Recht der Berufskrankheiten, in
Karl
[Hrsg], Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2007 [2007] 123 [128]). Über Art 6 EMRK hinaus hätte die Bestimmung des § 177 Abs 2 ASVG uU über den Gleichheitssatz verfassungskonform interpretiert werden können: Während Personen, die an einer in Anlage 1 zum ASVG erfassten Berufskrankheit leiden, Rechtsschutz gewährt wurde, waren jene, die an einer nach § 177 Abs 2 ASVG zu beurteilenden (Berufs-)30Krankheit leiden, davon ausgeschlossen. Zur Durchsetzung ihrer Ansprüche (§ 173 ASVG) steht ersteren nämlich gegen eine abweisende Entscheidung des Unfallversicherungsträgers der Rechtsweg über die ordentlichen Gerichte sowohl in formeller als auch materieller Hinsicht offen. Dem nach § 177 Abs 2 ASVG Anspruchsberechtigten stand nach bisheriger Rsp jedoch lediglich ein Rechtsweg im formellen Sinn zu. Eine sachliche Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich, zumal § 177 Abs 2 ASVG mit der Feststellung einer Krankheit als Berufskrankheit im Einzelfall eine rechtliche Gleichstellung mit den von Abs 1 leg cit Erfassten bezweckt (so schon Oberndorfer/Dearing, Kommentar zu OLG Wien31 R 244/80ZAS 1982, 104 [106]). Auch der Bericht zur RV der 32. ASVG-Novelle zu § 177 Abs 2 ASVG greift diesen Aspekt auf und spricht davon, dass Personen, die unter diese Bestimmung fallen, in gleicher Weise Anspruch auf Leistungen nach § 173 ASVG haben sollen wie diejenigen, die an einer Berufskrankheit gem Abs 1 leg cit leiden. Vor diesem Hintergrund hätten die ordentlichen Gerichte – über Art 6 EMRK hinaus – auch über den Gleichheitssatz zum Ergebnis der vorliegenden E gelangen können.

Prima facie dürfte die vorliegende E maßgeblich durch einen Beschluss des VwGH aus 2013 beeinflusst worden sein, in dem dieser die stRsp des OGH explizit abgelehnt und seine Zuständigkeit zur Feststellung einer Berufskrankheit im Einzelfall gem § 148e Abs 2 BSVG (entspricht inhaltlich § 177 Abs 2 ASVG) verneint hat (vgl VwGH2012/08/0062ZfV 2014/343, 246). Bei genauerer Betrachtung erscheint jedoch fraglich, warum gerade dieses Erk Anstoß zur Judikaturwende des OGH gegeben haben soll. Nach dem VwGH-Beschluss handelt es sich bei der Feststellung, eine Gesundheitsstörung sei Folge einer Berufskrankheit, unabhängig davon, ob es um eine „abstrakte“ Berufskrankheit oder um eine im Einzelfall festzustellende „konkrete“ Berufskrankheit geht, um eine Leistungssache. Der VwGH hat seine Zuständigkeit nur deswegen verneint, weil es sich bei Feststellungsverfahren iZm einer Berufskrankheit um Leistungssachen handelt, die nach § 65 ASGG in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fallen. Dieser Punkt wurde vom OGH jedoch niemals bestritten. Das Erk des VwGH kann folglich nur insofern eine „Denkstütze“ für den OGH gewesen sein, als der VwGH die Möglichkeit einer abweichenden Auslegung des Wortlauts in § 177 Abs 2 ASVG aufgezeigt hat: So könnte die Norm auch so verstanden werden, dass diese die Zustimmung des BM für Gesundheit für die Feststellung einer Krankheit als Berufskrankheit im Einzelfall nicht schlechthin voraussetzt, sondern nur in Fällen, in denen der Unfallversicherungsträger eine (positive) Feststellung trifft. Die ordentlichen Gerichte wären somit bei ihrer Überprüfung an kein Zustimmungserfordernis einer Verwaltungsbehörde gebunden. Dieses – mE zutreffende – Verständnis erübrigt ferner eine teleologische Reduktion des § 177 Abs 2 ASVG (so noch Tomandl in

Tomandl
[Hrsg], System des österreichischen Sozialversicherungsrechts [13. ErgLfg] 273 FN 25 [2.3.2.2.B.]; ders, Sozialrecht6 [2009] Rz 216).

3.
Zurückweisung statt Abweisung?

Zuletzt soll noch eine (nunmehr) theoretische Überlegung angestellt werden. In dem der E des OGH vorangehenden Verfahren hatte der Kl sowohl beim Erstgericht als auch beim Berufungsgericht in eventu beantragt, dass das jeweilige Gericht einen Antrag auf Entscheidung eines negativen Kompetenzkonfliktes nach Art 138 Abs 1 B-VG an den VfGH stellen möge. Ein negativer Kompetenzkonflikt liegt vor, wenn (mindestens) zwei Behörden die Entscheidung in derselben Sache wegen Unzuständigkeit verweigert haben, wobei eine Behörde dabei rechtswidrig gehandelt hat (Hiesel in

Kneihs/Lienbacher
[Hrsg], Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht [17. ErgLfg] Art 138 B-VG Rz 54). Beide Gerichte wiesen die Eventualanträge unter Hinweis auf das Fehlen wesentlicher Prozessvoraussetzungen zurück. So könne ein Antrag nach Art 138 Abs 1 B-VG gem § 46 Abs 1 Z 2 VfGH nur von der betroffenen Partei selbst gestellt werden. Zudem sei kein Parallelverfahren vor einer zweiten Behörde eingeleitet worden, womit eine Ablehnung der Zuständigkeit einer anderen Behörde nicht vorlag (zu den Prozessvoraussetzungen vgl Hiesel in Rill-Schäffer-Kommentar Art 138 B-VG Rz 44 ff). Letzteres Erfordernis besteht nach dem VfGH selbst dann, wenn im Hinblick auf eine ständige, klare und eindeutige Entscheidungspraxis einer oder gar aller beteiligten Behörden das Ergebnis eines einzuleitenden Verfahrens von vornherein feststeht. Ein Antrag auf Entscheidung eines Kompetenzkonfliktes, der sich auf die gefestigte Rsp einer Behörde – hier des VwGH – beruft, ohne dass ein Parallelverfahren eingeleitet wurde, ist daher nicht zulässig (VfGHKI-12/94VfSlg 14.066; VfGHKI-14/95VfSlg 14.460; VfGHKI-3/11VfSlg 19.544).

Selbst wenn diese formalen Hindernisse beseitigt würden, stünde einem Verfahren nach Art 138 Abs 1 B-VG jedoch nach wie vor die Tatsache entgegen, dass die ordentlichen Gerichte die Qualifikation der geltend gemachten Ansprüche als Leistungssachen bejaht sowie eine Sachentscheidung gefällt haben, was einen Kompetenzkonflikt per se ausschließt (Hiesel in Rill-Schäffer-Kommentar Art 138 B-VG Rz 55). In Anbetracht der offenkundigen Rechtsschutzlücke könnte angedacht werden, ob die Tatsache, dass die Gerichte von vorherein eine materielle Überprüfung der Entscheidung des Unfallversicherungsträges verweigert haben, nicht mit ihrer (formellen) Unzuständigkeit gleichzusetzen war. So haben nämlich Oberndorfer/Dearing darauf hingewiesen, dass sich das Rechtsschutzkonzept des ASVG nicht in der formellen Einräumung eines Rechtsweges erschöpfen kann, sondern vielmehr auch eine materiell-rechtliche Überprüfung einer Entscheidung möglich sein muss (Oberndorfer/Dearing, ZAS 1982, 104 [105]). Vor diesem Hintergrund könnte überlegt werden, ob die Gerichte die Sache nicht ab-, sondern vielmehr zurückweisen hätten müssen. In der Folge käme damit – bei Vorliegen der sonstigen Prozessvoraussetzungen – ein Antrag nach Art 138 Abs 1 B-VG an den VfGH in Betracht. Der VfGH müsste diesfalls eine meritorische Entscheidung über die Zustän-31digkeitsfrage treffen und den Konflikt zwischen den involvierten Behörden über die Auslegung der dafür maßgeblichen Bestimmungen einer rechtlichen Lösung zuführen. Fraglich ist jedoch, ob der VfGH in seiner E über die Klärung der Zuständigkeitsfrage und damit die Zuordnung zu den Leistungssachen hinaus die Gerichte dazu verpflichten hätte können, die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers und die Voraussetzungen für das Vorliegen einer konkreten Berufskrankheit auch (tatsächlich) in materieller Hinsicht zu prüfen. Selbst wenn der VfGH Art 138 B-VG oftmals in einer sehr rechtschutzfreundlichen Weise anwendet, um dem Rechtsstaatsprinzip zum Durchbruch zu verhelfen (dazu Hiesel in Rill-Schäffer-Kommentar Art 138 B-VG Rz 6-9), erscheint diese Auslegung – wenn auch nicht gänzlich ausgeschlossen – doch sehr gewagt.

Abschließend bleibt zu sagen, dass es wohl zielführender gewesen wäre, statt der Eventualanträge eine Gesetzesbeschwerde zu erheben und die Verfassungswidrigkeit von § 177 Abs 2 ASVG zu behaupten. Vor der aktuellen E erschien die Bestimmung bzw ihre Auslegung durch die ordentlichen Gerichte nicht nur im Lichte des Art 6 EMRK, sondern auch im Lichte des Gleichheitssatzes bedenklich. Offen bleibt, ob die Gerichte für den Fall, dass der VfGH eine verfassungskonforme Interpretation für möglich gehalten hätte, an diese Auslegung gebunden wären (verneinend Kneihs, Wider die verfassungskonforme Interpretation, ZfV 2009, 354 [357 f]; Harnoncourt, Der Parteiantrag auf Normenkontrolle – die Gesetzesbeschwerde, ZfV 2015, 263 [271]).

4.
Ausblick

Es bleibt abzuwarten, welche Änderungen sich für die Versicherten in der Praxis dadurch ergeben, dass die (negative) Entscheidung eines Unfallversicherungsträgers nun vom Arbeits- und Sozialgericht überprüft werden kann. Durch die Einführung von Kontrollinstanzen in Form ordentlicher Gerichte kann sich die E jedenfalls positiv auf die Beurteilungs- und Begründungspraxis und damit auf die Entscheidungsqualität der Unfallversicherungsträger auswirken. Diese haben ihre Entscheidungen zum Vorliegen konkreter Berufskrankheiten zukünftig vor dem Hintergrund ihrer nachfolgenden gerichtlichen Kontrolle zu treffen.