Die Genese des Arbeitslosenversicherungsgesetzes aus dem Jahr 1920 – Eine „Vogel-Strauß-Politik“?

MATHIASKREMPL (ST. PÖLTEN)
1.
Einleitung

Erst jüngst hat die historiografische Aufarbeitung der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung einen Schub erfahren,* der nicht nur den bisherigen Forschungslücken besonders bezüglich der Phase der Diktaturen (1933/1934-1945) geschuldet war, sondern auch dem international schon länger gebotenen Bedürfnis entsprach, sozialpolitische Zäsuren des 20. Jahrhunderts auf der Akteursebene zu erforschen.* Das Arbeitslosenversicherungsgesetz* (AlVG) aus dem Jahr 1920 steht dabei definitiv für eine solche Zäsur nach dem Umbruch von der Monarchie zur Republik; allerdings wird dessen Entstehung in der jüngsten Forschungsliteratur lediglich ansatzweise nachgegangen. Im Folgenden gilt es daher, nach dem Werdegang und den Grundzügen dieses so fundamentalen und international beachteten sozialpolitischen Regelwerks und dessen Werdegang zu fragen.

Die historiografische Sekundärliteratur zu den Anfängen der AlV stellt sich im Unterschied zu den Vermittlungsagenden relativ reichhaltig dar und wurde schon vor Jahrzehnten gründlich erarbeitet. Als das Standardwerk dafür gilt nach wie146 vor die umfassende Studie von Dieter Stiefel.*Emmerich Tálos thematisiert in seinem Handbuch zur staatlichen sozialpolitischen Entwicklung in Österreich in den einschlägigen Kapiteln auch eingehend die AlV.* Einen detaillierten Bericht über zentrale sozialpolitische Projekte wie jenes des AlVG bietet Karl Pribrams viel beachteter, früher Aufsatz, welcher sich trotz der zeitlichen Nähe seiner Entstehung zu den macht-, partei- und sozialpolitischen Umbrüchen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs durch beeindruckende Distanz und Objektivität auszeichnet.* Im Folgenden wird zunächst auf die vormodernen Wurzeln des mit dem AlVG dauerhaft begründeten, zentralstaatlich gesteuerten Arbeitsmarktwesens eingegangen. In einem zweiten Schritt wird die eigentliche Entstehung des AlVG untersucht, um schließlich dessen dogmatische Eckpunkte und unmittelbare realpolitische Wirkungen in Grundzügen zu thematisieren. Eine Gesamteinschätzung wird in der Conclusio vorgenommen.

2.
Vorgeschichte und Ausgangslage

Das Feld der Arbeitsvermittlung, welche im 20. Jahrhundert zu den Kernaufgaben der Arbeitsmarktbehörden zählte, war nachweislich schon seit dem Hochmittelalter institutionell besetzt;* vor allem gewerbliche Vermittlungsbüros waren in diesem Bereich tätig und sind hier, freilich als nicht-staatliche Akteure, über Jahrhunderte als die maßgebliche Konstante anzusehen. Vorläufer sozialpolitischer Versicherung hingegen wurden – vorwiegend für das Gesundheitswesen – im Zusammenhang mit den Zünften und vor allem mit dem Bergbau entwickelt, wo naturgemäß die körperliche Integrität besonders gefährdet war und daher sogenannte Bruderladen ein entsprechendes Auffangnetz darstellten.*

In dieser langfristigen Perspektive konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Österreich mit der Einführung der UV* und KV* Entwicklungen Platz greifen, welche diese Zeit allgemein als eine Phase der „Konstituierung“* staatlicher Sozialpolitik kennzeichnen. Dabei setzte sich jedoch die Arbeiterbewegung, welche die eigentliche Zielgruppe in dieser Problematik darstellte, erst allmählich als relevante politische Kraft durch. Schon nach der Märzrevolution 1848 waren deren sozialpolitische Anliegen das Objekt einer „Politik von oben“, in der „christliche Sozialreformer, Feudale und Mittelständler die Träger der Entwicklung [darstellten]. [...] Die genuine Artikulation der Arbeiterschaft wurde unterbunden, denn selbständige, eigenständige Interessendurchsetzung in einer gegen die herrschenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gerichteten Weise galt es ja zu unterbinden“.* Es ist für diese Zeit bezeichnend, wenn die Massen herumziehender Arbeitsloser Gegenstand einer regelrechten „Polizeisozialpolitik“* waren, in der innerstaatliche Abschiebungen entsprechend dem Heimatrecht an der Tagesordnung standen.

Zum Durchbruch in der AlV kam es erst nach dem Ersten Weltkrieg. Waren während der Kriegswirtschaft die Arbeitskräfte vor allem durch die Industrie und an der Front noch gebunden, so machten nun die Heimkehrermassen sowie die freigesetzten heimischen ArbeiterInnen die Schaffung eines zentralstaatlich geleiteten Arbeitsvermittlungs- und -versicherungssystems unentbehrlich.* Die Ausgangslage für regelrecht über Nacht eklatant notwendige Arbeitsmarktinstrumente war mangels historischer Vorbildmodelle nicht nur in Österreich denkbar schlecht. Das einzige westeuropäische Land, in dem schon vor dem Ersten Weltkrieg ein AlVG geschaffen wurde, das nicht bloß als Provisorium diente (Stammgesetz), stellte 1911 Großbritannien dar; nach dem Krieg folgte im Jahr 1919 ein erstes italienisches Stammgesetz zur AlV. Österreich führte mit dem AlVG aus 1920 als drittes Land ein umfassendes und dauerhaftes Arbeitslosenversicherungssystem ein.*

Wenngleich damit Österreich kaum die Position des „Erfinders“ einer AlV für sich beanspruchen kann, steht doch insgesamt fest, dass es im internationalen Vergleich durchaus eine Vorreiterrolle in diesem Bereich der sozialpolitischen Entwicklung einnahm, zumal in diesem Land in der allgemeinen Not nach dem Ersten Weltkrieg doch recht rasch provisorische gesetzliche Maßnahmen getroffen wurden, die bald auch außerhalb des Landes Beach-147tung fanden. So konnten schon am 15.11.1918 die Auszahlung der Unterstützungsgelder nach den ersten österreichischen Regelungen* der Arbeitslosenunterstützung beginnen. Nach Pribram durfte es „als Beweis für die Zweckmäßigkeit der getroffenen Maßnahmen gelten, daß die Nachbarstaaten Oesterreichs [sic!], in denen ähnliche Verhältnisse eintraten, sich alsbald veranlaßt sahen, die österreichischen Bestimmungen mit geringen Abänderungen bei [der] Einrichtung ihrer Arbeitslosenfürsorge zu kopieren“:* so Ungarn, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Polen.*

Dass unter diesen Umständen zentrale sozialstaatliche Forderungen der Arbeiterschaft wie jene nach der AlV nun derartig rasch auch innenpolitisch realisierbar wurden, hing nicht nur mit der allgemeinen volkswirtschaftlichen Lage und dem Ende des Kriegs zusammen. Vielmehr hatte das bürgerliche Establishment, das zwar zunächst nicht den Bundeskanzler stellte, aber immerhin in der Koalition vertreten war, die dringende Sorge, dass das Gespenst einer kommunistischen Rätediktatur nach den Erfahrungen in Ungarn und Bayern in Österreich Wirklichkeit zu werden drohte.* Vor diesem Hintergrund einigte man sich auf Regierungsebene bald darauf, der Arbeiterschaft Zugeständnisse zu machen, um im Interesse des Gesamtstaates den Bestand der gerade erst etablierten Staatsform zu sichern. Dabei wurde „in keiner anderen Phase [...] ein quantitativ so umfassendes [sozialpolitisches] Gesetzgebungswerk abgeschlossen.“*

3.
Die Entstehung und Arbeitslosenversicherungsgesetzes aus dem Jahr 1920

Der Versuch einer Periodisierung macht nicht nur in einer langfristigen Perspektive Sinn, welche die Sozialmaßnahmen aus dieser Zeit wie jene der AlV als regelrechte sozialpolitische Einschnitte verdeutlicht, sondern er überzeugt auch bezüglich der ersten Jahre nach dem Kriegsende und hilft, den Blick auf die zahlreichen aufeinander folgenden Maßnahmen zu schärfen.* Nach Pribram entstand das erste Arbeitslosenversicherungsprovisorium* gleich zu Beginn der Periode der unmittelbaren Nachkriegsmonate, als das Wirtschaftsleben einen besonders chaotischen Zustand erlitt und infolge dessen die Sorge um die Ausgestaltung des Arbeitsmarktes virulent war; demgegenüber fiel das AlVG in eine verhältnismäßig ruhige Zeit, als die kommunistische Herrschaft in Ungarn schon wieder gestürzt war und die mittlerweile erfolgte Annahme der Friedensbedingungen die Einstellung auf dauernde Verhältnisse ermöglichte.*

Ebenfalls in einer langfristigen Perspektive ist Österreich in der Reihe der europäischen Sozialstaaten des zwanzigsten Jahrhunderts als konservativer Wohlfahrtsstaat einzuordnen.* Allerdings bildete gerade die Regierung Karl Renners (Sozialdemokratische Arbeiterpartei, SDAP), der auch Sozialressortchef Ferdinand Hanusch (ebenfalls SDAP) angehörte, eine wichtige Ausnahme in dieser entscheidenden Phase. Dabei darf nicht übersehen werden, dass traditionell auch die christlichsoziale Partei nicht nur das Klein- und Industriebürgertum sowie das Bauerntum, sondern daneben auch die christlich geprägten Teile der Arbeiterschaft integrierte; gerade aber im Vergleich zur SDAP wird die heterogene Interessenbasis deutlich.* Letztlich wurde jedoch auch bei den Christlichsozialen der Konsens innerhalb der Koalition hergestellt, nicht nur auf die vehementen Forderungen der ArbeiterInnen einzugehen, sondern im Herbst 1919 im Koalitionsprogramm besonders auch das Ziel einer dauerhaften gesetzlichen Versicherung gegen Arbeitslosigkeit zu verankern.*

Die Regierungsvorlage zum AlVG wurde zu Beginn des Jahres 1920 der Nationalversammlung überreicht und „ohne wesentliche Aenderungen [sic!] debattelos zum Gesetz erhoben“,* das am 9.5.1920 in Kraft trat.* Der hier angesprochene dürftige Diskurs auf politischer Ebene war darüber hinaus für weite Teile der Öffentlichkeit bezeichnend. So bemängelt Pribram, dass sowohl in der bürgerlichen Presse als auch in den Fachzeitschriften eine eingehende Problematisierung der sozialpolitischen Maßnahmen insb auch in Bezug auf das gegenständliche Gesetz während seiner Entstehung fehlte; insofern war es „eine Art Vogel-Strauß-Politik, die hier im stillschweigenden Einverständnis geübt wurde“.*

Der hier angesprochene Diskussionsmangel bedeutete freilich im Gegenzug nicht, dass über die einzelnen Regelungen von vornherein Klarheit bestand. Ein zentrales Thema war naturgemäß die Finanzierung der AlV, zumal das Modell des Provisoriums,* das zur Gänze aus Staatsmitteln gespeist wurde,* keine Option für das neue Gesetz darstellte, und es naheliegend war, die Arbeitsvertrags-148parteien als die primär von der Thematik Betroffenen heranzuziehen. Allerdings wären mit einem reinen Versicherungsmodell erhebliche Nachteile verbunden gewesen. So wäre die Bindung hoher finanzieller Reserven für Krisenzeiten sowie die Inkaufnahme eines Zeitverlustes durch die Bildung des Kapitalstocks aus dem Beitragsaufkommen nötig gewesen.* Im internationalen Vergleich der Finanzierungsmodelle der frühen Arbeitslosenversicherungsgesetze wählte man etwa in Italien und in Deutschland diese Aufteilung der Kosten zu je 50 % auf die Arbeitsvertragsparteien, während in Großbritannien der Staat für ein Viertel der Kosten aufkam und der Rest zu gleichen Teilen auf die AG und AN aufgeteilt wurde.*

In Österreich entschied man sich für eine Drittelung und Aufteilung des Aufkommens auf den Staat und die Arbeitsvertragsparteien. Ressortchef Hanusch betonte anlässlich der interministeriellen Konferenz zur Erarbeitung der Regierungsvorlage hinsichtlich des fraglichen Staatszuschusses, dass „die große Öffentlichkeit diese Feinheiten nicht unterscheidet, sondern ein System, das von Unternehmern und Arbeitern Beiträge erhebt, ohne weiteres als Sozialversicherung* angesehen werden würde. Eine weitere Besonderheit war die vorschussweise gänzliche Finanzierung durch den Staat und die anschließende Refundierung der nichtstaatlichen Anteile, wodurch diese „Gesetzgebung ein Höchstmaß an finanzieller Anpassungsfähigkeit“* aufwies. So naheliegend sich dieses Modell auch für die Frühphase erwies, wurde der Staatsanteil doch bald schrittweise reduziert. Während die Wiederverlautbarung* des AlVG noch an der Drittelregelung festhielt, reduzierte der Staat schon 1923* seinen Anteil auf 16 %; 1926* wurde formal die vollständige Finanzierung durch die Arbeitsvertragsparteien eingeführt. Im Laufe der Jahre klaffte jedoch diesbezüglich eine beträchtliche Diskrepanz zwischen Norm und Praxis und zu Beginn der 1930er-Jahre belief sich der weiterhin nötige Staatszuschuss trotz der Verschärfungen der Bezugsvoraussetzungen für Unterstützungen nach dem AlVG auf über die Hälfte des Aufkommens.*

Eine zentrale arbeitsmarktbehördliche Aufgabe, welche die Ausgaben wesentlich weniger belastete als das Versicherungswesen, war die Arbeitsvermittlung; allerdings fand diese Kompetenz kaum Beachtung im Gesetz. „Wenn [...] die Organisierung der Arbeitsvermittlung nur sehr langsam und zögernd erfolgte, so war dies zum guten Teile in der widerstrebenden Haltung der Unternehmer begründet, die ihren Vorteil bei Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen weit besser zu wahren wußten, wenn sie ihre Arbeitskräfte im Weg der freien Anwerbung bezogen.* Die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft wiederum war bestrebt, im gemeinnützigen Arbeitsvermittlungswesen einen größtmöglichen Einfluss ausüben zu können. Mit dem AlVG wurde letztlich der Status Quo des Verzichts auf eine gesetzliche Regelung der arbeitsmarktbehördlichen Vermittlungsaufgabe bewusst fortgeschrieben. Allerdings wählte die Regierung der jungen Republik Deutschösterreich den Weg, „die gewerkschaftlichen Einrichtungen der Arbeitsvermittlung durch Vereinbarungen der Unternehmerverbände mit den Gewerkschaften in ‚paritätisch‘ verwaltete Arbeitsnachweisstellen [also Arbeitslosenämter] umzugestalten“,* in deren Gremien sowohl AG- als auch AN-VertreterInnen saßen, um so den Positionen beider Seiten Rechnung zu tragen.

4.
Dogmatische Eckpunkte des Arbeitslosenversicherungsgesetzes

Die arbeitsamtliche Vermittlungstätigkeit wurde also gezielt nur rudimentär geregelt; eine Kernbestimmung war dabei die Zuweisung von Beschäftigung an die spezifische Gruppe der arbeitslos gemeldeten Arbeitskräfte.* Demgegenüber legte man mit den Bestimmungen des gegenständlichen Gesetzes einen soliden normativen Grundstein für die AlV.

Der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung stand AN zu, die in einem krankenversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis standen;* erfasst waren damit insb ArbeiterInnen und Angestellte der Industrie, des Gewerbes, des Handels und des Bergbaues.* Ausgenommen von der AlV waren damit insb landund forstwirtschaftliche Arbeitskräfte, da man für diese Branche keine Notwendigkeit für solche Maßnahmen sah.* Weitere Restriktionen, die im Vergleich mit dem AlV-Provisorium* deutlich wurden, waren der Befürchtung geschuldet, dass durch ein dauerhaftes System der AlV die „Arbeitsunlust“* gefördert werden würde. So wurde der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung insb an die Voraussetzung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Ausmaß von 20 Wochen innerhalb der letzten 12 Monate geknüpft; auch die Beschränkung von Anspruchshöhe und -dauer sowie die verzögerte Entstehung des Anspruches am achten Tag nach Eintritt der Arbeitslosigkeit dienten als149 Ansporn zur Arbeitsaufnahme.* Weitere Voraussetzung war die unverschuldete Arbeitslosigkeit.* Die verschuldete Entlassung und die Auflösung des Arbeitsverhältnisses „ohne triftigen Grund“ hatten die Verwehrung der Arbeitslosenunterstützung für die folgenden vier Wochen zur Folge.

Den wirtschaftlichen und sozialen Kriegsfolgen suchte man mit Übergangsbestimmungen zu begegnen.* So wurden etwa den Heimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft und den ehemaligen Soldaten Erleichterungen bei den Voraussetzungen gewährt.* Überdies erhielten die Arbeitsmarktbehörden für die Dauer der Wirtschaftskrise Verordnungsermächtigungen hinsichtlich der Festlegung des Ausmaßes und der Höchstbezugsdauer. Den FamilienerhalterInnen, die 1920 zirka 39 % der Arbeitslosen ausmachten,* konnte anstelle der regulären Anspruchshöhe von 80 % des Krankengeldes dessen Betrag in voller Höhe zugesprochen werden, den übrigen Arbeitslosen 75 statt 60 %.* Auch die Höchstbezugsdauer konnte während der Krisenzeit anstelle von 12 für 20 Wochen gewährt werden.* Die Bedürftigkeit des Arbeitslosen wurde zwar in die Regierungsvorlage aufgenommen, fand aber schließlich als grundlegende Voraussetzung keinen Eingang ins Gesetz.*

Die Vollziehung des AlVG oblag den Arbeitsmarktbehörden, die als Behörden der unmittelbaren Bundesverwaltung in drei Instanzen organisiert waren.* Die eigentliche Vermittlungs- und Versicherungstätigkeit nahmen die Arbeitslosenämter vor, welche seit 1918 aus den bereits bestehenden, gewerkschaftlichen* und anderen gemeinnützigen Arbeitsnachweisstellen gebildet wurden; in Gebieten, wo keine geeigneten Arbeitsnachweisstellen bestanden, wurden bisweilen die Bezirkskrankenkassen zu Arbeitslosenämtern bestellt.* In diesem Prozess der Ausgestaltung des Behördennetzes spielten die „Industriellen Bezirkskommissionen“ eine wesentliche Rolle, welche fortan – als Vorgängereinrichtungen der späteren Landesarbeitsämter – die Mittelinstanz bildeten. Die Leitung dieser Behörden oblag zunächst dem „Staatsamt für soziale Verwaltung“ unter Hanusch, auf den im Oktober 1920 Eduard Heinl und eine Reihe weiterer christlichsozialer Ressortchefs folgte; nach dem Bundes-Verfassungsgesetz* (B-VG) ging daraus das BM für soziale Verwaltung hervor.

Die Entstehungsgeschichte der Arbeitsmarktbehörden zeigt damit, wo deren Sonderstellung als sozialpolitische Einrichtungen wurzelte, da sie ja fortan nicht wie in der UV oder KV nach dem Grundsatz der Selbstverwaltung organisiert waren,* sondern als staatliche Behörden. Im Zusammenhang mit diesem spezifischen inneren Aufbau war das Paritätsprinzip nicht nur ein fundamentales Strukturmerkmal der Arbeitsmarktbehörden, sondern konnte gleichsam als protosozialpartnerschaftliche Bedingung für deren Bestand in dieser Gestalt gelten.

5.
Schlussfolgerungen und Ausblick

Es kann kaum argumentiert werden, dass mit dem gegenständlichen Gesetz das perfekte Mittel gegen die Arbeitslosigkeit in Österreich gefunden worden wäre. Schon der Blick in die Statistik scheint gegen eine allzu große Bedeutung des AlVG zu sprechen. So erreichte die Arbeitslosigkeit schon 1923 fast 10 % und konnte danach kaum mehr gesenkt werden.* Auch die Inflation der ersten Nachkriegsjahre relativierte den Erfolg der Unterstützungsmaßnahmen beträchtlich. „Die 6 Kronen Unterstützung vom November 1918 hätten im Juni 1922 5.000 Kronen entsprochen, die Unterstützung war jedoch nur auf 960 Kronen angestiegen und damit praktisch auf ein Fünftel des ursprünglichen Wertes gefallen.* Überdies zeigten die zahlreichen Novellen, dass man auf parteipolitischer Ebene weit davon entfernt war, im AlVG eine fertig ausgeklügelte Handhabe für dieses so zentrale sozialpolitische Feld moderner Industriegesellschaften zu sehen;* die 1922 eingeführte Notstandsaushilfe* war nur eines von vielen Beispielen dafür.

Trotz des Befundes dieser Schwachpunkte manifestiert sich aber im AlVG insgesamt doch deutlich eine sozialpolitische Zäsur. Gewiss ist in der jeweiligen wirtschaftlichen Lage ein grundlegender Faktor für die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zu sehen, der in Krisenzeiten wie diesen unmittelbaren Nachkriegsjahren mit den Kerninstrumenten eines AlVG allein, nämlich der Vermittlung und Versicherung von Arbeitskräften, sicherlich nicht nachhaltig beizukommen war.* Allerdings darf150 dabei nicht übersehen werden, dass in diesen Maßnahmen doch eine erhebliche sozialpolitische Gestaltungskraft steckte; in einer international vergleichenden Perspektive der AlV etwa ist allgemein, aber auch in Bezug auf das gegenständliche Gesetz gerade nicht anzunehmen, dass die „Rolle von Parteien und Regierungen gegenüber den Imperativen des Wirtschaftswachstums oder ‚Systemnotwendigkeiten‘ sekundär oder gar vernachlässigbar sei“.* Auch von einem innerösterreichischen Blickwinkel aus steht fest, dass gerade in der Frühzeit der Republik mit dem AlVG – neben anderen Maßnahmen – wichtige „soziale [...] Probleme von Arbeitern und Angestellten, die bereits in der vorangegangenen Zeit thematisiert wurden, durch staatliche Politik gearbeitet* und gezielt geregelt wurden. Diesen grundsätzlichen Aussagen ist besonders mit Blick auf das AlVG nicht nur aus heutiger Sicht beizupflichten; vielmehr wurde die Bedeutung der AlV auch im Österreich dieser Zeit frühzeitig erkannt und die Sozialdemokraten nutzten regelrecht die Gunst der Stunde, um in diesem jungen Bereich der sozialpolitischen Verwaltung international beachtete Innovationen zu schaffen. Dass dabei auch in so wichtigen Fragen wie der Finanzierung der AlV auf das Prinzip „Trial-And-Error“ zurückgegriffen wurde und damit das Vorgehen mittelfristig einen gewissen „experimentellen Charakter“* erhielt, kann kaum verwundern. In diesem Sinn kann zwar Pribrams Kritik des mangelnden öffentlichen Diskurses („Vogel-Strauß-Politik“) kaum widersprochen werden, doch verdeutlicht diese Kritik das frühzeitige sozialpolitische Regierungshandeln.

In einer langfristigen Perspektive des 20. Jahrhunderts wird der hohe wirtschafts- und sozialpolitische Stellenwert des AlVG noch deutlicher, wurden doch die Arbeitsämter – wie für den Bereich der Arbeitsvermittlung gezeigt wurde – systematisch in den Dienst der Diktaturen des Austrofaschismus und besonders des Nationalsozialismus gestellt. Indem diese Behörden dazu verwendet wurden, die Diktaturen – und eben nicht nur den Arbeitsmarkt – durch die ganz gezielte Bevorzugung regimetreuer Arbeitskräfte zu stärken und missbilligte soziale Gruppen zu schikanieren, wurden die Sachlichkeitsgebote der ersten Stunde des AlVG mit drastischen demokratiepolitischen Folgen preisgegeben; interessanterweise war aber trotz dieser systematischen Heranziehung der Arbeitsmarktbehörden für die demokratiefeindlichen Zwecke 1933/1934-1945 das Vertrauen der Bevölkerung wie auch der Besatzung in sie nach dem Zweiten Weltkrieg doch so groß, dass diese Einrichtungen just in die so verantwortungsvolle Aufgabe der Entnazifizierung intensiv eingebunden wurden.* Wenngleich es lange währte, bis die traurige Phase der Diktaturen auch in normativer Hinsicht vollends überwunden war, so konnte verhältnismäßig rasch eine Rückbesinnung auf die sachbezogenen Ideale des AlVG Fuß fassen.* Letztendlich manifestierte auch der lange Bestand der 1920 dauerhaft etablierten AlV eine Art Erfolgsgeschichte; das AlVG wurde im Jahr 1935 durch das „Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz“* und in weiterer Folge durch NS-Recht abgelöst, doch war das dogmatische Grundgerüst des AlVG prägend für die gesamte Zweite Republik Österreich.151