VossDie Rechtsstellung von Minderheitslisten im Betriebsrat

Nomos Verlag, Baden-Baden 2015, 286 Seiten, broschiert, € 75,–

ELIASFELTEN (SALZBURG)

Das vorliegende Werk basiert auf einer Dissertation aus dem Jahr 2014 und analysiert die deutsche Rechtslage zu den Fragen, ob Minderheitslisten im BR besonderen Schutz genießen und ob daraus konkrete Rückschlüsse auf die Organisationsvorschriften des deutschen BetrVG gezogen werden können.

Ausgangspunkt der Arbeit bildet dabei eine E des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg aus dem Jahr 2011, der ein Rechtsstreit zwischen zwei konkurrierenden „Fraktionen“ innerhalb des BR zu Grunde lag, wobei jene, welche von der zuständigen Gewerkschaft unterstützt wurde, die klare Mehrheit der Mandate innehatte. Konkret hatte die Minderheitsliste auf Zurverfügungstellung eines eigenen Raumes geklagt, da sie sich bis dato einen Raum mit der Mehrheitsliste teilen musste und sich deshalb überwacht fühlte. Das Gericht wies die Beschwerde mit dem Argument zurück, dass nach Konstituierung des BR den Vorschlagslisten nicht nur keine eigenen Rechte mehr zustünden, sondern dass sie betriebsverfassungsrechtlich nicht mehr existent seien.

Genau diese Rechtsauffassung, die wohl auch in Österreich als herrschend angesehen werden kann, versucht Voss in ihrer Arbeit zu widerlegen. Denn sie konstatiert ein erhebliches Schutzbedürfnis von Minderheitslisten. Eine Interviewserie mit Betriebsräten aus Berlin und dem süddeutschen Raum hat ergeben, dass Minderheitenlisten de facto bei der Ausübung ihrer Mandate massiven Beschränkungen durch die Mehrheitslisten ausgesetzt sind, die vor allem das Produkt der organisationsrechtlichen Vorschriften des BetrVG sind. So hätten Minderheitenlisten weder ein „Mitspracherecht“, weil sie von der Mehrheitsliste auf Grund des üblichen „Fraktionszwanges“ überstimmt werden, noch ein „Teilhaberecht“, da Angehörige der Minderheitslisten weder eine Chance hätten, bei Verfahren vor der Einigungsstelle als Beisitzer zu fungieren noch in den Aufsichtsrat entsandt zu werden. Der Grund dafür sei, dass die ursprünglichen Vorschlagslisten auch nach der Konstituierung des BR als „Fraktionen“ fortbestehen würden (vgl S 23 ff).

Dieser Befund ist wohl zutreffend und gilt ebenso für Österreich. Auch hierzulande ist die Zersplitterung des Kollegialorgans BR in unterschiedliche Fraktionen keine Seltenheit. Dass zwischen diesen Fraktionen zuweilen Machtkämpfe ausgetragen werden, ist ebenfalls kein Geheimnis. Deshalb ist die Forschungsfrage der gegenständlichen Arbeit – nämlich, ob es einen betriebsverfassungsrechtlichen Minderheitenschutz gibt bzw geben muss – auch für das österreichische Recht von wesentlichem Interesse.

Das gilt umso mehr, als die Ausgangslage in Österreich und Deutschland vergleichbar ist. In beiden Ländern ist die Wahl des BR grundsätzlich nach dem Verhältniswahlrecht gem d´Hondt durchzuführen (vgl § 14 BetrVG und § 51 ArbVG). Dadurch will der Gesetzgeber sicherstellen, dass innerhalb des BR die unterschiedlichen Interessen der Belegschaft möglichst breit repräsentiert werden (vgl bloß Löschnigg in

Jabornegg/Resch/Strasser
[Hrsg], ArbVG § 51 Rz 12). Das Verhältniswahlrecht ermöglicht es, dass auch Minderheitenlisten Betriebsratsmandate erzielen können. Die These von Voss, die allen weiteren Ausführungen zu Grunde liegt, ist nun, dass die Verhältniswahl für sich gesehen nicht ausreicht, um die gesetzgeberische Intention zu erfüllen, sondern dass es ergänzend eines Minderheitenschutzes bedarf. Sie versucht daher in weiterer Folge nachzuweisen, dass der Minderheitenschutz bereits de lege lata im deutschen Betriebsverfassungsrecht grundgelegt ist (S 31 ff). Tatsächlich zeigt Voss durch eine Analyse der organisationsrechtlichen Vorschriften des BetrVG auf, dass sich das Prinzip der Verhältniswahl nicht nur auf die Wahl des BR selbst beschränkt. Auch die innere Organisation des BR baut auf diesem Grundsatz auf. Das zeigt sich bei der Besetzung von Ausschüssen (S 46, 55) oder der Auswahl jener Mitglieder, welche freigestellt werden sollen (S 60).

Zwar gilt das für das österreichische Betriebsverfassungsrecht nicht im selben Ausmaß. Bei der Nominierung jener Betriebsratsmitglieder, die gem § 117 ArbVG freigestellt werden, greift etwa nach österreichischem Recht grundsätzlich kein Minderheitenschutz (so Schneller in Gahleitner/Mosler [Hrsg], ArbVG5 Bd 3 § 117 Rz 3; im Ergebnis auch Resch in

Jabornegg/Resch/Strasser
[Hrsg], ArbVG § 117 Rz 32). Dh, die Auswahlentscheidung liegt im freien Ermessen des BR. De facto kann also die Mehrheitsliste ausschließlich Angehörige ihrer Fraktion freistellen lassen. Jedoch lassen sich auch in den organisationsrechtlichen Vorschriften des ArbVG Ansätze eines Minderheitenschutzes finden. So kommt jeder wahlwerbenden Gruppe, unabhängig von ihrer Größe, sowohl das Recht zu, eine Betriebsratswahl anzufechten (§ 59 ArbVG), als auch in geschäftsführenden Ausschüssen vertreten zu sein (§ 69 Abs 4 ArbVG). Freilich handelt es sich dabei um punktuelle Regelungen, die keine tragfähige Basis für die Annahme eines allgemeinen Grundsatzes bilden.

Vor diesem Hintergrund ist es gerade für die österreichische Rechtslage von Bedeutung, dass Voss in weiterer Folge den Beweis zu führen versucht, dass sich aus verfassungsrechtlichen Prinzipien ein betriebsverfassungsrechtlicher Minderheitenschutz ableiten lässt. Sie stützt ihre Überlegungen dabei zum einen auf das154 Demokratieprinzip des Art 20, zum anderen auf die Koalitionsfreiheit des Art 9 Abs 3 deutsches Grundgesetz (S 79 ff).

Besonders innovativ sind dabei ihre Überlegungen zur Anwendbarkeit der Koalitionsfreiheit auf Minderheitenlisten des BR. Sie kommt zum Schluss, dass Vorschlagslisten sowohl vor der Betriebsratswahl als auch nach Konstituierung des BR den Koalitionsbegriff erfüllen und damit den Schutz des Art 9 Abs 3 GG genießen (S 111 ff). Dem kann freilich nur zum Teil zugestimmt werden. Tatsächlich spricht sowohl vor dem Hintergrund der deutschen als auch der österreichischen Rechtslage vieles dafür, dass Vorschlagslisten zumindest vor Durchführung der Betriebsratswahl den Koalitionsbegriff erfüllen. Das gilt insb dann, wenn man – wie in Österreich – Art 11 EMRK zum Maßstab nimmt, der einen niederschwelligen Koalitionsbegriff zum Gegenstand hat (vgl ausführlich Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz [2015] 198 ff). Hingegen vermag die These von Voss, dass auch nach der Betriebsratswahl die ehemalige Vorschlagsliste als Koalition zu qualifizieren ist und ihr damit ein Recht auf Betätigung zukommt – was in weiterer Folge wiederum einen Minderheitenschutz impliziert –, nicht zu überzeugen. Zwar ist richtig, dass weder das Kriterium der organisatorischen Stabilität noch jenes der Tarifwilligkeit oder Überbetrieblichkeit der Annahme einer Koalition entgegenstehen (vgl S 112 ff). Allerdings geht Voss mit keinem Wort auf das Problem der mangelnden Freiwilligkeit des Zusammenschlusses ein. Als Koalitionen können nämlich nur freiwillige Zusammenschlüsse qualifiziert werden. Das trifft auf den BR als Kollegialorgan nicht zu. Der BR ist durch Gesetz eingerichtet und vertritt ex lege die Interessen aller Belegschaftsmitglieder. Der BR ist ein Organ der Belegschaft. Die Belegschaft selbst ist aber ebenfalls ein gesetzlicher Zwangsverband und kann deshalb nicht den Schutz des Art 11 EMRK für sich in Anspruch nehmen (EGMR 14.9.1999, 32441/96, Karakurt/Austria; siehe auch Firlei in

Grillberger
[Hrsg], 30 Jahre ArbVG [2005] 85). Darauf weist Voss zwar hin (S 102), sie unterlässt es jedoch, daraus Rückschlüsse für die Situation nach Durchführung der Betriebsratswahl bzw nach Konstituierung des BR zu ziehen. Damit fällt freilich ein zentraler Stützpfeiler ihrer Arbeit in sich zusammen.

Dh nicht, dass die Grundthese falsch oder unberechtigt ist. Ganz im Gegenteil! Zu Recht verweist Voss auf das Demokratieprinzip; allerdings nur ergänzend. Hier hätte wohl der Schwerpunkt der Argumentation liegen müssen. Vor allem die Frage, ob Betriebsratswahlen mit parlamentarischen Wahlen vergleichbar sind und ob deshalb der dort geltende Minderheitenschutz auf die innere Organisation des BR übertragbar ist, hätte weiterführender Überlegungen bedurft. In diesem Punkt bleibt Voss aber leider an der Oberfläche (S 83). Darüber hinaus verwundert es, dass sie einen Aspekt vollständig ausklammert, der ebenfalls für die Annahme eines betriebsverfassungsrechtlichen Minderheitenschutzes fruchtbar gemacht werden könnte: Das Verbot der Diskriminierung auf Grund der Weltanschauung bei der Mitwirkung in einer AN-Organisation gem § 1 iVm § 2 Abs 1 Z 4 deutsches AGG bzw § 18 Z 2 GlBG. Es wäre lohnenswert gewesen, den Fragen nachzugehen, ob darunter auch der BR zu verstehen ist und ob die Zugehörigkeit zu einer Fraktion Ausdruck einer Weltanschauung sein kann. Dies ist auch für die österreichische Rechtslage noch nicht beantwortet. Bejaht man beides, könnte der Diskriminierungsschutz des GlBG (bzw AGG) de facto einen betriebsverfassungsrechtlichen Minderheitenschutz bewirken (idS ansatzweise Resch in

Jabornegg/Resch/Strasser
[Hrsg], ArbVG § 117 Rz 32).

Freilich soll durch diese Kritik kein falscher Eindruck entstehen. Es handelt sich bei der vorgelegten Arbeit um eine lesenswerte, analytisch präzise Arbeit, deren Grundthese bedeutsam und berechtigt ist. Vor allem schafft die Autorin eines: Sie regt zur kritischen Reflexion an. Tatsächlich wäre es spannend, die Forschungsfrage erneut aufzugreifen und das Thema Minderheitenschutz im BR vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtslage zu bearbeiten.