9Beschränkter Zugang zu Sozialleistungen für Unionsbürger
Beschränkter Zugang zu Sozialleistungen für Unionsbürger
Die Kollisionsnorm des Art 11 Abs 3 Buchst e der VO 883/2004 wird durch das Kriterium des Aufenthaltsrechts, das Bestandteil der Bedingungen für die Gewährung der in Rede stehenden Sozialleistungen ist, nicht verfälscht.
Der Umstand, dass die im Rahmen der vorliegenden Klage in Frage gestellten nationalen Rechtsvorschriften vorsehen, dass die zuständigen Behörden für die Gewährung der in Rede stehenden Sozialleistungen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der solche Leistungen beantragenden Angehörigen anderer Mitgliedstaaten verlangen, stellt keine verbotene Diskriminierung nach Art 4 der VO 883/2004 dar.
Vorverfahren
21 Nachdem die Kommission zahlreiche Beschwerden von im Vereinigten Königreich ansässigen Angehörigen anderer Mitgliedstaaten erhalten hatte, dass die zuständigen britischen Behörden ihnen bestimmte Sozialleistungen verweigert hätten, weil sie im Vereinigten Königreich kein Aufenthaltsrecht besäßen, übersandte sie diesem Mitgliedstaat im Jahr 2008 eine Aufforderung zur Stellungnahme.
22 Das Vereinigte Königreich bestätigte mit zwei Schreiben vom 1.10.2008 und 20.1.2009, dass, während das Recht, sich im Vereinigten Königreich aufzuhalten, nach den nationalen Rechtsvorschriften allen britischen Staatsangehörigen gewährt werde, es Angehörigen anderer Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen nicht zustehe. Diese Einschränkung gründe sich auf den Begriff des Aufenthaltsrechts iSd RL 2004/38 und auf die Beschränkungen, die dort für dieses Recht festgelegt seien, insb das Erfordernis, dass eine wirtschaftlich nicht aktive Person über ausreichende Existenzmittel verfügen müsse, um die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch zu nehmen.
23 Am 4.6.2010 übersandte die Kommission dem Vereinigten Königreich ein Mahnschreiben, in dem sie seine nationalen Rechtsvorschriften beanstandete, nach denen Antragsteller für den Bezug bestimmter Leistungen [Anm: Steuergutschrift für Kinder/Tax Credit und Kindergeld/Child Benefit] das Recht haben müssten, sich in diesem Staat aufzuhalten, was Voraussetzung sei, um als Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Vereinigten Königreich angesehen werden zu können (im Folgenden: Kriterium des Aufenthaltsrechts).
24 Am 30.7.2010 antwortete das Vereinigte Königreich auf dieses Mahnschreiben, dass sein nationales System nicht diskriminierend und das Kriterium des Aufenthaltsrechts dadurch gerechtfertigt sei, dass es eine verhältnismäßige Maßnahme darstelle, um sicherzustellen, dass die Leistungen an Personen gezahlt würden, die im Vereinigten Königreich ausreichend integriert seien. [...]
26 Da die Kommission diese Antwort nicht für zufriedenstellend hielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben.
Würdigung durch den Gerichtshof
[...]
62 Mit ihrer Hauptrüge zur Stützung der vorliegenden Klage wirft die Kommission dem Vereinigten Königreich vor, die Gewährung der in Rede stehenden Sozialleistungen von der Voraussetzung abhängig zu machen, dass der Antragsteller zusätzlich zu dem Kriterium des Art 11 Abs 3 Buchst e iVm Art 1 Buchst j der VO 883/2004, wonach er seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats haben muss, dem Kriterium des Aufenthaltsrechts genügt. Durch die Prüfung dieses letztgenannten Kriteriums werde eine zusätzliche Voraussetzung aufgestellt, die nicht vorgesehen sei.
63 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art 11 Abs 3 Buchst e der VO 883/2004, auf den sich die Kommission stützt, eine Kollisionsnorm vorsieht, die bestimmen soll, welches nationale Recht für den Bezug der in Art 3 Abs 1 dieser Verordnung genannten Leistungen der sozialen Sicherheit, darunter die Familienleistungen, gilt, die andere als die in Art 11 Abs 3 Buchst a bis d dieser Verordnung genannten Personen, dh insb wirtschaftlich nicht aktive Personen, beanspruchen können.
64 Somit sollen mit Art 11 Abs 3 Buchst e der VO 883/2004 nicht nur die gleichzeitige Anwendung verschiedener nationaler Rechte auf eine konkrete Situation und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden, sondern auch verhindert werden, dass Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, der Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind (vgl insb Urteil vom 19.9.2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn 40 und die dort angeführte Rsp).
65 Dagegen soll diese Bestimmung als solche nicht die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf Leistungen der sozialen Sicherheit festlegen. Es ist grundsätzlich Sache der Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats, diese Voraussetzungen festzulegen (vgl in diesem Sinne Urteile vom 19.9.2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn 41 und die dort angeführte Rsp, und vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn 89).
66 Aus Art 11 Abs 3 Buchst e iVm Art 1 Buchst j der VO 883/2004 kann daher nicht geschlossen werden, dass das Unionsrecht einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die den Anspruch auf Sozialleistungen wie die in Rede stehenden davon abhängig macht, dass der Antragsteller die Voraus-97setzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat erfüllt. [...]
68 Aus der Rsp des Gerichtshofs geht aber hervor, dass grundsätzlich nichts dagegen spricht, dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von dem Erfordernis abhängig gemacht wird, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen (vgl in diesem Sinne insb Urteile vom 19.9.2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn 44, und vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn 83). [...]
70 Ebenso wenig kann dem Argument der Kommission gefolgt werden, dass sich eine Person, die nicht die Voraussetzungen für den Bezug der in Rede stehenden Sozialleistungen erfülle, in einer Situation befinde, in der auf sie weder das Recht des Vereinigten Königreichs noch ein anderes Recht anwendbar sei. [...]
73 Demnach ist die Hauptrüge der Kommission zurückzuweisen, da die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass das durch die Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs eingeführte Kriterium des Aufenthaltsrechts als solches die Bestimmung des Art 11 Abs 3 Buchst e iVm Art 1 Buchst j der VO 883/2004 beeinträchtigt.
Zur hilfsweise vorgebrachten Rüge
74 Für den Fall, dass entschieden werden sollte, dass die Prüfung des Kriteriums des Aufenthaltsrechts als solche nicht Teil der Prüfung des gewöhnlichen Aufenthalts des Antragstellers der in Rede stehenden Sozialleistungen ist, sondern eigenständig durchgeführt wird, macht die Kommission hilfsweise geltend, dass die Einführung des Kriteriums des Aufenthaltsrechts in die nationale Regelung unweigerlich eine nach Art 4 der VO 883/2004 verbotene unmittelbare oder zumindest mittelbare Diskriminierung bewirke.
75 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass, wie in Rn 68 des vorliegenden Urteils erwähnt, grundsätzlich nichts dagegen spricht, dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von der inhaltlichen Voraussetzung abhängig gemacht wird, dass diese die Erfordernisse für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen.
76 Allerdings begeht ein Aufnahmemitgliedstaat, der für die Gewährung von Sozialleistungen wie den in Rede stehenden Sozialleistungen verlangt, dass der Aufenthalt eines Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats in seinem Hoheitsgebiet rechtmäßig ist, eine mittelbare Diskriminierung.
77 Nach einer stRsp des Gerichtshofs ist nämlich eine Vorschrift des nationalen Rechts als mittelbar diskriminierend anzusehen, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten als auf Inländer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie die Erstgenannten besonders benachteiligt (vgl in diesem Sinne Urteil vom 13.4.2010, Bressol ua, C-73/08, EU:C:2010:181, Rn 41).
78 Im vorliegenden Fall verlangt die nationale Regelung von denjenigen, die die fraglichen Leistungen beantragen, dass sie ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich haben. Damit führt diese Regelung zu einer Ungleichbehandlung zwischen den britischen und den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, da ein solches Erfordernis der Ansässigkeit von Inländern, die meist im Vereinigten Königreich ansässig sind, leichter erfüllt wird als von Angehörigen [in] anderen Mitgliedstaaten, die in der Regel in einem anderen Mitgliedstaat als dem Vereinigten Königreich wohnen (vgl entsprechend Urteil vom 13.4.2010, Bressol ua, C-73/08, EU:C:2010:181, Rn 45).
79 Um gerechtfertigt zu sein, muss eine solche mittelbare Diskriminierung geeignet sein, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl ua in diesem Sinne Urteil vom 20.6.2013, Giersch ua, C-20/12, EU:C:2013:411, Rn 46).
80 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass nach der Rsp des Gerichtshofs die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen, grundsätzlich ausreicht, um die Möglichkeit zu rechtfertigen, zum Zeitpunkt der Gewährung einer Sozialleistung insb an Personen anderer Mitgliedstaaten, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, eine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts durchzuführen, da diese Gewährung geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (vgl in diesem Sinne ua Urteile vom 20.9.2001, Grzelczyk, C-184/99, EU:C:2001:458, Rn 44, vom 15.3.2005, Bidar, C-209/03, EU:C:2005:169, Rn 56, vom 19.9.2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn 61, und vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn 63). [...]
82 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art 14 Abs 2 der RL 2004/38 Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach den Art 7, 12 und 13 zusteht, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen. In bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die in diesen Artikeln genannten Voraussetzungen erfüllen, können die Mitgliedstaaten prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Art 14 Abs 2 der RL 2004/38 sieht jedoch vor, dass diese Prüfung nicht systematisch durchgeführt wird.
83 Nach dem Hinweis des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung muss der Antragsteller für jede der in Rede stehenden Sozialleistungen im Antragsformular eine Reihe von Angaben machen, aus denen sich ergibt, ob ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat besteht, und diese Angaben werden dann von den für die Gewährung der betreffenden Leistung zuständigen Behörden überprüft. Nur in Einzelfällen wird von den Antragstellern der Nachweis verlangt, dass sie tatsächlich entsprechend ihrer Angabe im Antragsformular ein Recht besitzen, sich [im] Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreich aufzuhalten.
84 Somit ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen der RL 2004/38 für ein Aufenthaltsrecht erfüllt sind, entgegen den Ausführungen der Kommission nicht in jedem einzelnen Fall vorgenommen wird und damit nicht gegen die Anfor-98derungen des Art 14 Abs 2 dieser Richtlinie verstößt. Die britischen Behörden nehmen nur in Zweifelsfällen die erforderlichen Überprüfungen vor, um festzustellen, ob der Antragsteller die Voraussetzungen nach der RL 2004/38, insb die ihres Art 7, erfüllt und damit ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats iS dieser Richtlinie besitzt. [...]
86 Nach alledem stellt der Umstand, dass die im Rahmen der vorliegenden Klage in Frage gestellten nationalen Rechtsvorschriften vorsehen, dass die zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs für die Gewährung der in Rede stehenden Sozialleistungen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der solche Leistungen beantragenden Angehörigen anderer Mitgliedstaaten verlangen, keine nach Art 4 der VO 883/2004 verbotene Diskriminierung dar.
Das vorliegende Urteil stellt den vorläufigen Endpunkt einer Judikaturkette dar, mit welcher der EuGH den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Regelung der Zugangsvoraussetzungen zu Sozialleistungen für Unionsbürger schrittweise ausgedehnt hat (vgl dazu Berger, DRdA 2015, 450 ff). Der Gerichtshof gesteht nunmehr ausdrücklich zu, dass Unionsbürger nicht nur vom Zugang zu Sozialhilfeleistungen, sondern auch von Leistungen der sozialen Sicherheit ausgeschlossen werden können. Hält man sich vor Augen, dass die Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Sozialrechts ausschließlich bei den Mitgliedstaaten liegt und die Europäische Union lediglich eine Kompetenz zur Koordinierung der nationalen Sozialrechtsordnungen hat, so scheint dieses Ergebnis eine Selbstverständlichkeit zu sein. Natürlich können die Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Kompetenz festlegen, wer unter welchen Voraussetzungen Zugang zu ihren Sozialleistungen haben soll. Die Frage ist dann freilich, warum diese Judikaturlinie, die ihren Ausgang mit der österreichischen Rs Brey (EuGHC-140/12, EU:C:2013:565) genommen hat, derart kontroverse Diskussionen ausgelöst hat (vgl zuletzt Eichenhofer, DRdA 2015, 80; Windisch-Graetz, DRdA 2015, 444; dies, ZAS 2014, 204; Kapuy, ZAS 2014/32, 196).
Der Grund dafür besteht darin, dass die Judikatur des EuGH bis zur Rs Brey von einer bemerkenswert liberalen Haltung geprägt war, die den freien Zugang zu Sozialleistungen als Motor für die Personenfreizügigkeit innerhalb der Union und damit als Motor für die europäische Integration verstanden hat (Rebhahn, EvBl 2016, 934). Für Erwerbstätige ließ sich dafür eine normative Anknüpfung im Primärrecht finden; konkret in Art 48 AEUV (ex-Art 42 EGV). Für ökonomisch Inaktive fehlt hingegen bis heute eine ausdrückliche Rechtsgrundlage in den Verträgen. Unionsbürger verfügen zwar auf Grund des Art 20 AEUV über eine Reihe von Rechten. Der freie Zugang zu Sozialleistungen gehört allerdings nicht dazu. Diesen hat vielmehr der EuGH „erfunden“. Das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, impliziere ein Recht auf Zugang zu den Sozialleistungen des Aufenthaltsstaates (vgl ausführlich Holoubek in
Das brachte letztlich auch den Unionsgesetzgeber unter Zugzwang. Der Umstand, dass vom persönlichen Anwendungsbereich der VO 883/2004, anders als noch unter der Vorgänger-VO 1408/71, nicht nur AN und Selbständige, sondern alle Unionsbürger erfasst sind (vgl Art 2), ist direkt auf diese Rsp des EuGH zurückzuführen. Das gilt auch für die Einführung eines allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes gem Art 4, der Unionsbürgern die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den Staatsangehörigen dieses Staates garantiert. Es besteht demnach ein Verbot der Diskriminierung von Unionsbürgern beim Zugang zu Sozialleistungen und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Aus diesem Grund darf die Frage, welches Recht in Bezug auf Unionsbürger zur Anwendung kommt, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben, nicht von rechtlichen Kriterien, wie einem rechtmäßigen Aufenthalt, sondern gem Art 11 VO 987/2009 allein von den faktischen Gegebenheiten abhängig gemacht werden. Der Gesetzgeber der VO 883/2004 hat bewusst die Verbindung zum Aufenthaltsrecht wegen der Gefahr einer möglichen Diskriminierung gekappt. Lediglich in Bezug auf sogenannte „Sozialhilfeleistungen“ blieb sie bestehen. Das ergibt sich freilich nicht aus der VO 883/2004, sondern aus der Aufenthalts-RL 2004/38/EG; konkret aus Art 24. Aus diesem Grund wurde bezüglich des Zugangs zwischen Leistungen der sozialen Sicherheit und Sozialhilfeleistungen differenziert. In Bezug auf Leistungen, die in den Anwendungsbereich der VO 883/2004 fallen, wurde die längste Zeit ein unbeschränktes Zugangsrecht auch für inaktive Unionsbürger angenommen (vgl bloß OGH10 ObS 172/10gDRdA 2012, 61).
Diese bewusst freizügigkeitsfördernde Interpretation der Unionsbürgerschaft durch den EuGH als auch ihre Umsetzung im Rahmen der VO 883/2004 hat allerdings im Zuge veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen durch die europäische Bankenkrise heftige politische Diskussionen ausgelöst. Eine Vielzahl an Mitgliedstaaten, darunter auch Österreich, sahen sich gezwungen, ihre Sozialsysteme durch nationale Maßnahmen abzuschotten, um in Anbetracht knapper Sozialbudgets die bestehenden Sozialstandards weiterhin gewährleisten zu können. In der Rs Brey war der EuGH das erste Mal mit diesem Problemkreis konfrontiert. Es ist nicht zu übersehen, dass die Urteilsbegründung in wesentlichen Teilen von dieser politischen Diskussion beeinflusst ist. Das gilt umso mehr für die Rs Dano (EuGHC-333/13, EU:C:2014:2358), Alimanovic (EuGHC-67/14, EU:C:2015:597) und Garcia-99Nieto (EuGHC-299/14, EU:C:2016:114). Tatsächlich wurde der politische Druck auf den EuGH immer größer. Großbritannien hat sogar seinen Verbleib in der Union von Zugangsbeschränkungen im Sozialbereich abhängig gemacht und weitreichende Konzessionen der anderen Mitgliedstaaten sowie der Kommission erwirkt. In seinen Schlussfolgerungen vom Februar 2016 hat der Europäische Rat zugestanden, dass die Auslegung der Unionsverträge nicht dazu führen dürfe, dass Personen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaates zu kommen, Zugang zu Sozialleistungen erhalten (EUCO 1/16, 20). Auch eine Änderung des Familienleistungskapitels der VO 883/2004 wurde in Aussicht gestellt (EUCO 1/16, 22 f).
Auch wenn dieses Entgegenkommen letztlich nicht verhindern konnte, dass eine Mehrheit für den Austritt Großbritanniens aus der EU stimmte, ist es die Erklärung für den Sinneswandel des EuGH. Die vorliegende E ist eine Woche vor dem Brexit-Abstimmungstermin gefällt worden und gibt inhaltlich im Wesentlichen die Schlussfolgerungen zum Thema Sozialleistungen und Freizügigkeit wider; dies, obgleich der Europäische Rat keine Kompetenz zur authentischen Interpretation der Unionsverträge hat. Der EuGH ist daher in keiner Weise an die Schlussfolgerungen gebunden. Auch die rechtlichen Grundlagen haben zwischenzeitlich keine Änderung erfahren. Aus rechtlicher Sicht bestand somit kein Grund für diese Judikaturänderung.
Freilich liegt nach Ansicht des EuGH gar keine Judikaturänderung vor. Der Gerichtshof erweckt den Eindruck, als ob seine neue Judikaturlinie eine logische Weiterentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechungspraxis wäre. Das ist nicht nur unverständlich. Diese Haltung führt vielmehr zu rechtlichen Widersprüchen.
Der EuGH stützt sein Ergebnis im Wesentlichen auf die vorangegangenen Urteile in der Rs Brey und Dano. In beiden Fällen ging es um sogenannte „beitragsunabhängige Geldleistungen“ iSd Art 70 VO 883/2004: einerseits um die österreichische Ausgleichszulage, andererseits um deutsche Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II. Gem Art 70 Abs 4 VO 883/2004 werden beitragsunabhängige Geldleistungen lediglich in dem Mitgliedstaat gewährt, in dem die betreffende Person wohnt. Dh, sie sind nicht ins Ausland zu exportieren. Sowohl in der Rs Brey als auch in der Rs Dano war unstrittig, dass die Leistungswerber im fraglichen Staat faktisch wohnten. Dennoch war in beiden Fällen ein Leistungsanspruch mit dem Argument verneint worden, dass kein rechtmäßiger Aufenthalt im Inland bestehe. Es stellte sich daher die Frage, ob das Anspruchskriterium eines rechtmäßigen Aufenthalts im Inland mit Art 70 Abs 4 VO 883/2004, der lediglich einen faktischen Wohnsitz im Inland verlangt, und dem Diskriminierungsverbot des Art 4 VO 883/2004 vereinbar ist. Beides bejahte der EuGH dem Grunde nach. Aus Art 70 Abs 4 VO 883/2004 ergebe sich deshalb keinerlei Beschränkung, da es sich dabei lediglich um eine „Kollisionsnorm“ handle. Art 70 Abs 4 determiniere nicht die inhaltlichen Anspruchsvoraussetzungen. Diese seien ausschließlich am Gleichbehandlungsmaßstab des Art 4 VO 883/2004 zu messen. Allerdings sei auch die Gleichbehandlungsregel des Art 24 RL 2004/38/EG beachtlich, da „beitragsunabhängige Geldleistungen“ den Sozialhilfebegriff der Aufenthalts-RL erfüllen. Die Aufenthalts-RL erlaube jedoch einen Ausschluss inaktiver Unionsbürger vom Zugang zu Sozialhilfeleistungen. De facto kam der EuGH also zu dem Ergebnis, dass das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 VO 883/2004 durch Art 24 Abs 2 der Aufenthalts-RL verdrängt wird.
Das setzt freilich eine Normenkollision voraus. Sowohl Art 7 Abs 1 lit b als auch Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG stellen auf Leistungen der „Sozialhilfe“ ab. Darunter sind „sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichtete Hilfssysteme, ... die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt
“, zu verstehen (vgl EuGH Rs Brey, Rn 61; EuGH Rs Dano, Rn 63). Sozialhilfeleistungen iSd Aufenthalts-RL müssen demnach zwingend existenzsichernden Charakter haben. Das trifft im Anwendungsbereich der VO 883/2004 lediglich auf beitragsunabhängige Geldleistungen iSd Art 70 Abs 2 lit a sublit i zu, die ebenfalls ein Mindesteinkommen garantieren sollen. Dh, dass es ausschließlich im schmalen Bereich der beitragsunabhängigen Geldleistungen zu einer gleichzeitigen Anwendbarkeit der VO 883/2004 sowie der Aufenthalts-RL 2004/38 und damit zu einer Einschränkung des Gleichbehandlungsgebots kommen kann.
In der vorliegenden E ging es aber jeweils um Familienleistungen, also um Kernleistungen der sozialen Sicherheit. Diese sollen den kinderbedingten Mehraufwand ausgleichen, nicht ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung von Grundbedürfnissen zur Verfügung stellen. Die Aufenthalts-RL 2004/38/EG kommt demnach nicht zur Anwendung. Es überzeugt daher nicht, wenn der EuGH unter Berufung auf seine Ausführungen in der Rs Brey und Dano in der vorliegenden Urteilsbegründung zu dem Ergebnis kommt, dass grundsätzlich nichts dagegen spricht, dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von der inhaltlichen Voraussetzung abhängig gemacht wird, dass diese die Erfordernisse für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen (vgl Rz 68). Das trifft auf Grund der inhaltlichen Verschränkung mit der Aufenthalts-RL allenfalls auf beitragsunabhängige Geldleistungen iSd Art 70 VO 883/2004, nicht jedoch auf Kernleistungen der sozialen Sicherheit iSd Art 3 VO 883/2004 zu. Vielmehr ist der Zugang zu den in Frage stehenden Familienleistungen ausschließlich auf Grundlage des Art 4 zu beurteilen. Letzterer verbietet jedwede Diskriminierung von Unionsbürgern.
Tatsächlich geht auch der EuGH von einer Diskriminierung durch das Aufenthaltskriterium aus; allerdings nur von einer mittelbaren, die einer100 sachlichen Rechtfertigung zugänglich ist. In diesem Zusammenhang vertritt der EuGH die Ansicht, dass die Notwendigkeit des Schutzes der Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats eine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts rechtfertigt (Rz 80). Dabei beruft sich der Gerichtshof erneut auf seine Vorjudikatur. Die zitieren Entscheidungen hatten aber alle Sozialhilfeleistungen bzw Studienbeihilfen zum Gegenstand; also wiederum Leistungen, die (auch) vom Anwendungsbereich der RL 2004/38/EG erfasst sind. Hier geht es aber um Kernleistungen der sozialen Sicherheit. Die zitierte Judikatur ist demnach nicht einschlägig. Der EuGH vergleicht Äpfel mit Birnen!
Abgesehen davon erscheint bereits die Annahme einer bloß mittelbaren Diskriminierung durch das Aufenthaltskriterium fragwürdig. In der Rs Martinez Sala hat der EuGH darin noch eine unmittelbare Diskriminierung gesehen (EuGHC-85/96, EU:C:1998:217, Rn 64). Selbst wenn man eine mittelbare Diskriminierung annimmt, stellt sich die Frage, ob dies im Hinblick auf die Geltung des Art 4 VO 883/2004 einen Unterschied macht (krit diesbezüglich auch Spiegel in
Ebenfalls nur vordergründig überzeugend sind die Entgegnungen des EuGH auf das Vorbringen der Kommission, das nationale Aufenthaltskriterium stehe im Widerspruch zu Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004, der lediglich auf einen faktischen Wohnsitz abstelle. Der Gerichtshof wiederholt hier seine in der Rs Brey entwickelte Argumentationslinie, bei Art 11 VO 883/2004 handle es sich ausschließlich um eine Kollisionsnorm, welche das anzuwendende Recht festlege und nicht um eine Regelung, welche die nationalen Anspruchsvoraussetzungen determiniere. Den Mitgliedstaaten sei es somit unbenommen, einen rechtmäßigen Aufenthalt zu verlangen. Man muss sich die Konsequenzen dieser Ausführungen vor Augen führen: Während die Frage, welcher Mitgliedstaat zuständig ist, nach dem faktischen Aufenthalt zu beurteilen ist, kann die Frage, ob dort auch tatsächlich ein Anspruch besteht, vom rechtmäßigen Aufenthalt abhängig gemacht werden. Dieses Ergebnis ist nicht nur zynisch, es führt die Einräumung von Freizügigkeitsrechten für inaktive Unionsbürger ad absurdum. Es bewirkt nämlich, dass inaktive Unionsbürger, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben, letztlich gar keine soziale Absicherung mehr zuteilwird (ebenso Kapuy, DRdA 2016, 401). Denn der Heimatstaat ist auf Grund der Verlegung des faktischen Wohnsitzes für die Leistungsgewährung nicht mehr zuständig. Der Aufnahmestaat ist zwar zuständig, kann jedoch inaktive Unionsbürger ausschließen. Es entsteht de facto eine Schutzlücke, die einzig und allein aus der Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte resultiert. Ein Ergebnis, das vor dem Hintergrund des Diskriminierungsverbots des Art 21 AEUV und seiner bisherigen Interpretation durch den EuGH kaum haltbar erscheint. Im Prinzip bestehen nur zwei Möglichkeiten, um diese Schutzlücke zu schließen: Entweder eröffnet man den Zugang zu den Leistungen des Aufenthaltsstaates oder man bejaht einen Exportanspruch gegenüber dem ehemals zuständigen Staat (idS bereits Verschueren, EJML 2014, 159 ff). De lege lata trägt die VO 883/2004 nur ersteres. Die Alternative wäre, dass man überhaupt ein Recht inaktiver Unionsbürger auf Freizügigkeit in Frage stellt. Dafür gibt es durchaus gute Gründe. Solange sich der EuGH dazu aber nicht durchringen kann, vermögen seine rechtlichen Ausführungen nicht zu überzeugen.
Die vorliegende E des EuGH ist zwar vor ihrem politischen Hintergrund verständlich, rechtlich hat sich der Gerichtshof jedoch in eine Reihe von Widersprüchen verstrickt. Diese resultieren in erster Linie daraus, dass der Gerichtshof den Eindruck erweckt, das gegenständliche Urteil wäre lediglich eine logische Weiterentwicklung seiner bisherigen Judikatur. Das ist nicht der Fall. Nicht nur, dass die bisherige Rsp des EuGH die gegenständliche Lösung nicht zu tragen vermag. Sie steht ihr vielmehr entgegen. De facto liegt eine Judikaturänderung vor. Die inhaltlichen Widersprüche ließen sich daher nur dadurch auflösen, indem der Gerichtshof dies offenlegte. Genau das hat er jedoch bis dato tunlichst vermieden, um sich nicht dem Vorwurf aussetzen zu müssen, man betreibe Rsp auf Zuruf. Das vorliegende Urteil zeigt damit deutlich, auf welch schmalem Grat sich der EuGH mit seiner politischen Agenda begeben hat. Man fühlt sich an Goethes Zauberlehrling erinnert: „Die ich rief die Geister, werd ich nun nicht los!
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