15Grenzen für die Berücksichtigung ausländischer Kindererziehungszeiten
Grenzen für die Berücksichtigung ausländischer Kindererziehungszeiten
Kindererziehungszeiten muss grundsätzlich jener Mitgliedstaat anrechnen, der für den konkreten Zeitraum der Kindererziehung zuständig ist. Für die darüber hinausgehende Verpflichtung zur Anrechnung durch den an sich unzuständigen Staat ist für Versicherungsfälle nach dem 1.5.2010 Art 44 VO 987/2009 maßgebend.
Nach Art 44 sind Kindererziehungszeiten insb nur dann anzurechnen, wenn Österreich bei Beginn der Anrechnung der Zeit aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zuständig war.
Wurde vor der Geburt eines Kindes im Ausland in Österreich keine Erwerbstätigkeit ausgeübt und wird eine solche Tätigkeit erst viel später in Österreich aufgenommen, so verpflichten auch nicht allenfalls übergeordnete Prinzipien des Primärrechts (zB Unionsbürgerfreizügigkeit) zur Anrechnung solcher Zeiten.
Die am 2.2.1944 geborene Kl, eine österreichische Staatsbürgerin, studierte nach ihrer Matura bis 1968 in Salzburg. 1970 heiratete sie und zog nach Italien, wo sie bis zu ihrer Rückkehr nach Österreich im Jahr 2000 lebte. Am 8.1.1972 und am 4.7.1974 kamen ihre beiden Kinder zur Welt. In Italien erwarb die Kl keine Versicherungsmonate. Ein Antrag der Kl auf Anerkennung von Kindererziehungszeiten in Italien wurde von den italienischen Behörden abgelehnt. Beitragsmonate zur Pflichtversicherung in Österreich erwarb die Kl im Juli 1993 (ein Monat), von Jänner 2003 bis Dezember 2004 (24 Monate) sowie von September 2005 bis Jänner 2013 (89 Monate).
[Mit Bescheid der bekl PVA vom 13.2.2013 wurden bis zum Feststellungszeitpunkt (1.2.2013) insgesamt 114 Beitragsmonate der Pflichtversicherung- Erwerbstätigkeit festgestellt, nicht aber die Zeiten der Kindererziehung in Italien angerechnet. Diese E wurde sowohl vom Erstgericht als auch vom Berufungsgericht bestätigt. ...]
Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen: [... Der OGH gibt zunächst (auszugsweise) den Text der Art 5, Art 11 Abs 1 und 3 und Art 87 VO 883/2004, Art 44 und 93 VO 987/2009 sowie § 227a Abs 1 ASVG wieder. In der Folge bestätigt er, dass auf den vorliegenden Sachverhalt die VO 883/2004 und 987/2009 und nicht die Vorgänger-VO 1408/71 und 574/72 Anwendung finden. ...]
5. Auch die VO 883/2004 und die VO 987/2009 bezwecken keine Harmonisierung, sondern lediglich eine Koordinierung der von den Mitgliedstaaten geschaffenen Systeme der sozialen Sicherheit und sie beeinträchtigen daher nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in diesem Bereich, sofern diese im Einklang mit dem Unionsrecht und insb im Einklang mit den Zielen dieser Verordnungen und den Bestimmungen des EG-Vertrags zur Freizügigkeit handeln. Eines der grundlegenden Prinzipien des Systems zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit ist der Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts, wie ihn Art 11 Abs 1 VO 883/2004 festlegt. Außerdem ist es eines der Kernprinzipien der VO 883/2004 sowie der VO 987/2009, dass die Versicherten – gem stRsp im Bereich der sozialen Sicherheit – nicht verlangen können, dass ihr Umzug in einen anderen Mitgliedstaat keine Auswirkungen auf die Art oder das Niveau der Leistungen hat, die sie in ihrem Herkunftsstaat beanspruchen könnten. [...]
6. Es sind daher in einem ersten Schritt der für die Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten zuständige Mitgliedstaat sowie die dafür anwendbaren Rechtsvorschriften zu bestimmen.
6.1 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Art 11 Abs 1 VO 883/2004 den Grundsatz normiert, dass auf eine Person, für die die VO gilt, in jedem Zeitpunkt immer nur die Rechtsvorschriften eines einzigen Staats anwendbar sind. Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 legt als grundsätzliche Regelung die Zuständigkeit des Beschäftigungsstaats für Beschäftigte fest. Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 sieht als subsidiäre Auffangregel insb für alle nicht erwerbstätigen Personen die Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaats vor.
6.2 [...] Nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts unterlag die Kl während der Zeit ihres Wohnsitzes in Italien, also auch während der hier strittigen Zeiten der Kindererziehung, den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats, somit italienischem Recht.
6.3 Da die Kl vor der Verlegung ihres Wohnsitzes nach Italien in Österreich keine unselbständige oder selbständige Erwerbstätigkeit verrichtet hat, besteht – anders als in den vom EuGH entschiedenen Rechtssachen C-135/99, Elsen; C-28/00, Kauer und C-522/10, Reichel-Albert – keine hinreichend enge Verbindung zwischen den Erziehungszeiten und bis dahin zurückgelegten Versicherungszeiten, um selbst unter Geltung des Art 13 Abs 2 VO (EWG) 1408/71 zur Anwendbarkeit österreichischen Rechts zu gelangen. Die Rechtsansicht der Kl, die Bekl wäre bis zum Inkrafttreten der VO 883/2004 und der VO 987/2009 ohne Zweifel zur Anrechnung ihrer Kindererziehungszeiten verpflichtet gewesen, trifft daher nicht zu (vgl dazu auch die bereits vom Berufungsgericht zitierte Rsp des OGH in vergleichbaren Fällen 10 ObS 55/05v, SSV-NF 20/2 = DRdA 2007/30, 296 [Egger]; 10 ObS 175/06t, SSV-NF 20/81 ua).
7. Die im vorliegenden Fall anwendbare Bestimmung des Art 44 VO 987/2009 ist in die neue Regelung zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit aufgenommen worden, um der Rsp des EuGH, die insb aus den Urteilen Elsen (Rs C-135/99) und Kauer (Rs C-28/00)hervorgegangen ist, Rechnung zu tragen. Art 44 VO 987/2009 begründet eine – allerdings lediglich nachrangige – Zuständigkeit für einen Mitgliedstaat, der nach den allgemeinen Regeln nicht zuständig ist, um die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten zu ermöglichen, sofern die in diesem Artikel festgelegten Voraussetzungen vorliegen (vgl dazu die136 Schlussanträge des Generalanwalts im Verfahren Reichel-Albert, C-522/10 Rn 63).
7.1 Art 44 Abs 2 VO 987/2009 setzt für seine Anwendung voraus, dass 1. die Kindererziehungszeiten nach den Rechtsvorschriften des nach Titel II VO 883/2004 zuständigen Mitgliedstaats [Anmerkung: hier fehlt wohl ein „nicht“] berücksichtigt werden und 2. die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats nach Titel II der VO 883/2004 auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, und zwar zu dem Zeitpunkt, zu dem nach diesen Rechtsvorschriften die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind begann. Nur wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind, ist eine Anrechnung vorgesehen. Es ist dieser Bestimmung immanent, dass es auch Konstellationen geben kann, in denen der zuvor zuständige Staat keine Kindererziehungszeiten anzurechnen hat (vgl Pöltl in
7.2 Kindererziehungszeiten im EU-Ausland sind daher nach Art 44 VO 987/2009 dem österreichischem Recht unterworfen und damit gleichgestellt, wenn 1) das Kind in Österreich geboren wurde, 2) der die Kindererziehungszeiten begehrende Elternteil im Zeitpunkt der Geburt aufgrund einer Beschäftigung (oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit) in Österreich sozialversichert war, 3) nach den Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, in dem das Kind in der Folge erzogen wurde, keine Kindererziehungszeiten erworben werden, und 4) auf den die Gleichstellung der Kindererziehungszeiten begehrenden Elternteil auch nicht aufgrund einer Erwerbstätigkeit die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zur Anwendung kommen. Die Anwendung der VO 883/2004 hinsichtlich der Gleichstellung der Kindererziehungszeiten reduziert sich damit im Wesentlichen auf Fälle, in denen eine bei Geburt beschäftigte Person nach der Geburt in einen anderen Mitgliedstaat abwandert, dort keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und auch keine sonstigen Vorschriften des Wohnsitzstaats, in dem das Kind erzogen wird, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten vorsehen (Panhölzl in SV-Komm [117. Lfg] § 227a ASVG Rz 55 f).
7.3 Es wird auch von der Kl nicht in Abrede gestellt, dass sie die soeben dargelegten Voraussetzungen des Art 44 VO 987/2009 nicht erfüllt. Diese Vorschrift kann daher nicht zu einer Verpflichtung der Bekl führen, die von der Kl auf italienischem Gebiet zurückgelegten Kindererziehungszeiten – nach österreichischem Recht – zu berücksichtigen, als wären sie auf österreichischem Gebiet zurückgelegt worden.
8. Die Kl beruft sich in diesem Zusammenhang jedoch auf den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 5 VO 883/2004, wonach Leistungen, Einkünfte, Sachverhalt oder Ereignisse, die Rechtswirkungen nach dem nationalen Recht des zuständigen Mitgliedstaats auslösen, zu berücksichtigen sind, auch wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat eingetreten sind. [...]
8.2 Weiters verwies das Berufungsgericht mit Recht darauf, dass die Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen, die in einem Mitgliedstaat eingetreten sind, in keinem Fall bewirken kann, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig wird oder dessen Rechtsvorschriften anwendbar werden. Die kollisionsrechtlichen Vorschriften des Titels II der VO 883/2004 zur Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften bleiben durch die Sachverhaltsgleichstellung des Art 5 VO 883/2004 unberührt (vgl Erwägungsgründe 10-12; Schuler in
9. Soweit die Kl schließlich unter Bezugnahme auf die E des EuGH in der Rs Reichel-Albert, C-522/10, vom 19.7.2012 neuerlich davon ausgeht, dass die Nichtberücksichtigung ihrer in Italien zurückgelegten Kindererziehungszeiten gegen das allgemeine Freizügigkeitsrecht nach Art 21 AEUV verstoße, ist ihr, wie bereits dargelegt, mit den Ausführungen des Berufungsgerichts entgegenzuhalten, dass sich der vorliegende Sachverhalt wesentlich von dem der Entscheidung des EuGH zugrundeliegenden Sachverhalt unterscheidet. Auch gegen die Richtigkeit der weiteren Ausführungen des Berufungsgerichts, wenn eine Rechtsordnung Kindererziehungszeiten als Versicherungs- oder Ersatzzeiten anerkenne, dürfe es nicht zu einer Diskriminierung der Unionsbürger kommen, wenn sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen; das Recht auf Freizügigkeit verlange aber keine generelle, über Art 44 VO 987/2009 hinausgehende Gleichstellung aller Kindererziehungszeiten unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie zurückgelegt wurden, bringt die Kl keine inhaltlichen Argumente vor, welche den erkennenden Senat zu einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH veranlassen könnten.
10. Der erkennende Senat gelangt daher zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass die Vorinstanzen eine Berücksichtigung der von der Kl im Zeitraum vom 8.1.1972 bis 31.7.1978 in Italien zurückgelegten Kindererziehungszeiten als weitere Versicherungszeiten zu Recht abgelehnt haben.
Mit dieser E hat der OGH eine Frage – zumindest zum Teil – entschieden, die bisher unbeantwortet geblieben ist: Welche Trageweite hat Art 44 VO 987/2004 betreffend die Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung im Ausland und steht diese Regelung der VO in Übereinstimmung mit dem Primärrecht? Die bisherigen Entscheidungen des EuGH und auch des137 OGH mussten sich mit dieser Frage nicht befassen, da diese sich noch auf den Zeitraum vor dem Inkrafttreten des Art 44 bezogen und dieser Artikel daher noch nicht zur Anwendung gelangen konnte.
Um die E besser einordnen zu können, empfiehlt sich, die in den bisherigen Urteilen behandelten Sachverhalte zusammenzufassen.
Frau Elsen wohnte in Frankreich, war aber über den Zeitraum der Geburt ihres Sohnes hinaus in Deutschland als Grenzgängerin weiterhin erwerbstätig bzw im Mutterschaftsurlaub. Der EuGH entschied, dass für Frau Elsen zum Zeitpunkt der Geburt nach der VO 1408/71 deutsches Recht gegolten habe und dass die Anrechnung der in Frankreich zurückgelegten Erziehungszeiten für die deutsche Rente aufgrund der Grundsätze der AN-Freizügigkeit (nunmehr Art 45 und 48 AEUV) aber auch der Unionsbürgerfreizügigkeit (nunmehr Art 21 AEUV) geboten ist (EuGH Rs Elsen, C-135/99, EU:C:2000:647).
Frau Kauer arbeitete zunächst in Österreich, gab diese Erwerbstätigkeit allerdings dann auf und übersiedelte nach der Geburt von drei Kindern von Österreich nach Belgien. Welches Recht für Frau Kauer gegolten hat, musste der EuGH nicht entscheiden, vor allem, da es sich um einen Zeitraum vor dem österreichischen EU-Beitritt handelt; vielmehr konnte der EuGH unter Berufung auf die E in der Rs Elsen darauf verweisen, dass auch bei Frau Kauer ein Naheverhältnis zu Österreich gegeben sei. Da die Kinder in Österreich geboren wurden und auch nie in Belgien, sondern nur in Österreich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt worden ist, war die Anrechnung der in Belgien zurückgelegten Erziehungszeiten in der österreichischen PV – erneut unter Berufung auf die primärrechtlichen Freizügigkeitsrechte – geboten (EuGH Rs Kauer, C-28/00, EU:C:2002:82, ASoK 2002, 117 [Friedrich] = ZESAR 2003, 327 [Windisch-Graetz], das Urteil des EuGH bereits vorwegnehmend: Karl in ihrer Glosse zum Vorlagebeschluss des OGH10 ObS 151/99zDRdA 2000/56, hinsichtlich der legistischen Umsetzung des Urteils, W. Müller, Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, ASoK 2003, 408).
Frau Reichel-Albert arbeitete zunächst in Deutschland, bezog dann deutsches Arbeitslosengeld, übersiedelte nach Belgien und bekam dort zwei Kinder. Der EuGH folgert, dass für die Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung in diesem Fall Deutschland zuständig geblieben ist, da zu diesem Staat – unabhängig von der Frage, welcher Mitgliedstaat nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften (Titel II VO 1408/71) für den konkreten Zeitraum zuständig ist – eine hinreichende (enge) Verbindung bestanden hat. Offensichtlich konstruiert der EuGH in diesem Fall ein eigenes Regime der anzuwendenden Rechtsvorschriften für Kindererziehungszeiten, das neben die allgemeinen Zuständigkeitsregelungen (zB Zuständigkeit des Wohnstaates für alle anderen Leistungen) treten kann. Daher verpflichtet auch in diesem Fall die Unionsbürgerfreizügigkeit zur Berücksichtigung der ausländischen Erziehungszeiten in der deutschen Rente (EuGH Rs Reichel-Albert, C-522/10, EU:C:2012:475, ZESAR 2012, 483 [Bokeloh]).
Ganz anders sind die Sachverhalte, die der OGH unter der VO 1408/71 zu entscheiden hatte (diese beiden Fälle wurden in der vorliegenden E des OGH angesprochen): Eine Frau, die ab ihrer Geburt in Spanien lebte, dort dann auch ihre Kinder erzog und erst lange danach nach Österreich übersiedelte und hier auch eine Erwerbstätigkeit aufnahm, erfüllt nicht das verlangte Naheverhältnis zu Österreich im Zeitraum der Kindererziehung, sodass eine Anrechnung dieser Zeiten in der österreichischen PV nicht erforderlich ist (OGH10 ObS 55/05vDRdA 2007, 296 [Egger] = ASoK 2006, 353 = ÖJZ-LSK 2006/128 = ZAS-Judikatur 2006/108 = ASoK 2006, 436). Im zweiten Fall arbeitete die betroffene Frau zunächst in Österreich und im Vereinigten Königreich (UK), übersiedelte dann ins UK, arbeitete dort und bekam dann im UK zwei Kinder, die sie dort auch erzog. Jahrzehnte danach verlegte sie ihren Wohnort wieder zurück nach Österreich, wo sie auch arbeitete. Auch in diesem Fall wurde eine Anrechnung der ausländischen Erziehungszeiten abgelehnt, da während des in Betracht kommenden Zeitraums das UK der zuständige Staat gewesen sei und kein hinreichendes Naheverhältnis zur österreichischen SV bestehe (OGH10 ObS 175/06tASoK 2007, 487 = infas 2007, 19 = ARD 5750/5/2007 = RdW 2007/263).
Irritierend mag zunächst die Antwort des EuGH auf die Frage sein, auf welche Fälle die jeweils einschlägige EU-rechtliche Regelung anzuwenden ist. Ohne dass das ganz eindeutig ist, scheint der EuGH auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Anrechnung der Zeit und nicht auf den Zeitpunkt der Zurücklegung der Zeit abzustellen (EuGH-E vom 19.7.2012, C-522/10, Reichel-Albert, Rz 27 und 28). Deutlicher wird der EuGH in einer neueren E (Rs Wieland und Rothwangl, C-465/14, EU:C:2016:820, Rz 63 und 64). Der EuGH macht offensichtlich einen Unterschied zwischen „echten“ Versicherungszeiten (zB aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung), bei denen über den Zeitpunkt einer Rechtsänderung (zB EU-Beitritt eines Landes) nicht in die Vergangenheit zurückgegangen werden muss, und Kindererziehungszeiten, bei denen sehr wohl auch Zeiträume erfasst werden, die vor der Rechtsänderung lagen (zB in der Rs Kauer lag die Kindererziehung lange vor dem EU-Beitritt Österreichs), sofern nur im Zeitpunkt der Entscheidung die maßgebende Regelung schon in Kraft stand. Der EuGH scheint daher bei Kindererziehungszeiten eher von Maßnahmen der Leistungserhöhung für Zeiten der Kindererziehung (über die eben erst beim Leistungsanfall zu entscheiden ist) als von echten Versicherungszeiten auszugehen. Bei Regelungen, die die Zeiten der Kindererziehung einem ganz eindeutigen Zeitraum zuordnen (wie eben die Kindererziehungszeiten nach § 227a ASVG oder – aus systematischer Sicht – noch mehr Zeiten aufgrund der Teilversicherung nach § 8 Abs 1 Z 2 lit g ASVG), kann man sich aber die Frage stellen, ob diese Annahme des EuGH zutrifft, oder ob es138 nicht vielmehr so wie bei Beschäftigungszeiten auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Zurücklegung der Zeit ankommen sollte (so auch bereits Bokeloh in seinem Kommentar zur Rs Reichel-Albert, ZESAR 2012, 483 [488 f]). Das würde aber dazu führen, dass beim Fehlen einer EU-rechtlichen Verpflichtung zur Anrechnung zum Zeitpunkt der Kindererziehung in der Vergangenheit auch eine spätere EU-rechtliche Verpflichtung für solche Sachverhalte keine Auswirkungen haben kann. Allerdings kann das nur Auswirkungen auf Zeiten vor dem 1.1.1994 (Inkrafttreten des EWR-Abkommens) bzw vor dem 1.5.2010 (Inkrafttreten des Art 44 VO 987/2009) haben. Bei nach diesen Zeitpunkten gelegenen Zeiten ist auf jeden Fall das EU-Recht anwendbar. Daher sollte diese Frage – auch wegen der bisher eindeutigen Judikatur – nicht weiter verfolgt werden und auf die Hauptfrage näher eingegangen werden, in welchen Situationen Kindererziehungszeiten nach EU-Recht nunmehr angerechnet werden müssen. Im Übrigen geht auch der OGH in dieser E davon aus, dass Art 44 VO 987/2009 auf Zeiten vor dem 1.5.2010 anzuwenden ist, sofern der Stichtag nach diesem Datum liegt, sodass diese Regelung auch im vorliegenden Kotext näher untersucht werden muss.
Durch Art 44 VO 987/2009 wurde erstmals eine ausdrückliche Regelung betreffend die Anrechnung von ausländischen Zeiten der Kindererziehung im Sekundärrecht geschaffen. Danach ist der nach Titel II für den in Betracht kommenden Zeitraum nicht (mehr) zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, Kindererziehungszeiten nach seinem Recht anzurechnen, wenn
Solche Zeiten bei seiner Zuständigkeit anzurechnen gewesen wären (Art 44 schafft also keine Verpflichtungen, die zB über die nationale Begrenzung des in Betracht kommenden Zeitraums hinausgehen);
zum Zeitpunkt des Beginns der Anrechenbarkeit einer Kindererziehungszeit dieser bisher zuständig gewesene Mitgliedstaat aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit (wozu aber sicherlich auch die einer Erwerbstätigkeit nach Art 11 Abs 2 gleichgestellten Situationen zu zählen sind) nach Titel II VO 883/2004 zuständig gewesen ist;
der neu zuständig gewordene Mitgliedstaat keine Kindererziehungszeit berücksichtigt; und
die betreffende Person den Rechtsvorschriften des neu zuständig gewordenen Mitgliedstaates nicht aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unterliegt.
Diese Neuregelung wird immer wieder in einen Zusammenhang mit einer anderen Neuregelung der VO 883/2004 gestellt, nämlich der allgemeinen Sachverhaltsgleichstellung des Art 5. Da nach dieser Regelung aber immer nur der zuständige Mitgliedstaat die Gleichstellung vorzunehmen hat (ErwG Nr 11 VO 883/2004), muss Art 44, der immer nur den nicht (mehr) zuständigen Mitgliedstaat betrifft, als Ausdehnung dieses Grundsatzes (und nicht als Beschränkung) betrachtet werden (vgl Spiegel in
Offen ist bisher die Frage geblieben, ob Art 44 als abschließendes Regelungssystem betrachtet werden kann, oder ob nicht doch aufgrund des Primärrechts auch in Fällen, die nach Art 44 nicht vorgesehen sind, eine Anrechnung ausländischer Kindererziehungszeiten zu erfolgen hat. Immerhin darf nicht vergessen werden, dass in Sachverhalten, die den Rs Kauer und Reichel-Albert zu Grunde lagen, zwar Art 44 zu keiner Anrechnung verpflichtet hätte, der EuGH aber dennoch aufgrund der primärrechtlichen Grundfreiheiten eine solche Verpflichtung abgeleitet hat.
Mit der vorliegenden E des OGH wird diese Frage nicht abschließend beantwortet. Er verweist insb darauf, dass der Sachverhalt nicht mit jenem in der Rs Reichel-Albert vergleichbar sei, da im vorliegenden Fall vor der Kindererziehung keine Zeiten der Erwerbstätigkeit in Österreich lagen. In diesem Punkt ist dem OGH vorbehaltlos zuzustimmen, da bei diesem Sachverhalt vor der Kindererziehung tatsächlich viel zu geringe Anknüpfungspunkte zur österreichischen SV vorlagen, um in der Nichtanrechnung einen Verstoß gegen die primärrechtlichen Freizügigkeitsrechte erkennen zu können.
Man könnte aber den Schluss ziehen, dass der OGH damit schon implizit zu erkennen gab, dass in Fällen, die mit den Sachverhalten in Reichel-Albert (und Kauer?) vergleichbarer sind, aufgrund von Art 21 AEUV – über den Wortlaut des Art 44 VO 987/2009 hinausgehend – Kindererziehungszeiten angerechnet werden müssen.
Aus der Sicht der Praxis stellt sich damit weiterhin die Frage, in welchen Fallkonstellationen Kindererziehungszeiten anzurechnen sind, selbst wenn Art 44 VO 987/2009 dazu nicht verpflichten würde (sind es nur die Fälle, in denen die erziehende Person vorher ausschließlich in Österreich gearbeitet hat?).
Zwingend ist es mE nicht, dass man aufgrund der bisherigen Judikatur des EuGH davon ausgehen muss, dass Art 44 zu eng gefasst ist oder gar dem Primärrecht widerspricht. Der EuGH hat nämlich die Verpflichtung zur Anrechnung der Erziehungszeiten bisher daraus abgeleitet, dass die VO 1408/71 keine entsprechende Regelung enthält (Rs Reichel-Albert,139 Rz 30) und deswegen Art 21 AEUV zu prüfen ist, der bei einer entsprechend starken Bindung gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat aufgrund der ausschließlich dort ausgeübten Erwerbstätigkeit vor der Geburt die Nicht-Anrechnung wegen der damit ausgelösten Behinderung der Freizügigkeit verbietet (Rs Reichel-Albert, Rz 35 und 45). Diese Argumentationskette ist konsequent, da Art 21 AEUV die Rechte aufgrund des Grundsatzes der Freizügigkeit der Unionsbürger nur unter Vorbehalt einräumt („vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“). Daher kann man die Auffassung vertreten, dass mit Art 44 VO 987/2009 eben eine solche Beschränkung und Bedingung geschaffen wurde, die alle Sachverhaltselemente abschließend regelt, in denen ein an sich nicht zuständiger Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat anrechnen muss. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung künftige Entscheidungen des EuGH oder nationaler Gerichte gehen werden und ob schließlich doch Art 44 als alleinige Regelung für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten durch den nicht zuständigen Mitgliedstaat übrigbleibt, oder ob aufgrund des Primärrechtes in bestimmten Fällen da rüber hinaus gegangen werden muss.
Aber selbst, wenn diese – zweifellos wichtigste – Frage beantwortet sein wird, sind damit nicht alle offenen Punkte geklärt (siehe dazu ua Pöltl in
Strittig ist aber, was genau darunter zu verstehen ist, dass der an sich zuständige Mitgliedstaat keine Kindererziehungszeit „berücksichtigt“. Darunter kann man einerseits verstehen, dass dieser Staat im konkreten Einzelfall keine Kindererziehungszeit anrechnet oder dass ganz generell dieser Staat Kindererziehungszeiten im Katalog seiner Pensionsversicherungszeiten nicht kennt. Als Beispiel wäre an einen Mitgliedstaat zu denken, der nur das erste Jahr nach der Geburt eines Kindes als Kindererziehungszeit anrechnet. Verlegt eine Person aus Österreich erst zum zweiten Geburtstag des Kindes den Wohnort in diesen Staat, dann würde – wenn die erste Annahme zutrifft – Österreich noch für zwei weitere Jahre Kindererziehungszeiten anrechnen müssen (sofern die Voraussetzungen des Art 44 VO 987/2004 erfüllt sind), während das bei Zutreffen der zweiten Annahme nicht erforderlich wäre. ME ist die zweite Annahme zutreffend, da es im Verhältnis zu einem bestimmten Mitgliedstaat nicht von den Zufälligkeiten des Einzelfalles abhängen sollte, ob ein Staat weiterhin Kindererziehungszeiten gewähren muss oder nicht.
Allerdings scheint der OGH der ersten Auffassung zuzuneigen. Er weist nämlich einleitend darauf hin, dass Italien die Anrechnung von Kindererziehungszeiten abgelehnt hat und konkretisiert Art 44 dahingehend, dass er Österreich zur Anrechnung verpflichtet, wenn solche Zeiten in Italien nicht „erworben wurden“ (Rz 7.2., was auf eine konkrete Anrechnung hinweist). Fehlzeiten am Arbeitsplatz aufgrund der Kindererziehung oder der Versorgung eines pflegebedürftigen Erwachsenen sind nach den italienischen Rechtsvorschriften aber als Beitragszeiten zu betrachten (siehe MISSOC-vergleichende Tabellen). Wäre der OGH daher der zweiten Auffassung gefolgt, hätte er jegliche Prüfung sofort mit dem Hinweis abbrechen können, dass unter bestimmten Voraussetzungen Italien Kindererziehungszeiten anrechnet und daher Österreich als nicht zuständiger Mitgliedstaat im Verhältnis zu Italien nie ausländische Kindererziehungszeiten anrechnen muss. Auch in dieser Frage muss daher wohl eine ergänzend klarstellende Judikatur abgewartet werden.
Mit dieser E hat der OGH klargestellt, dass bei Fällen, wie dem konkret untersuchten, in denen vor der Zeit der Kindererziehung im Ausland in Österreich keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde, das erforderliche Naheverhältnis zu Österreich nicht vorliegt, um zu einer Anrechnung dieser Zeiten zu verpflichten. Offen geblieben ist, ob damit nur in den bereits durch Art 44 VO 987/2009 ausdrücklich erfassten Fallkonstellationen eine Anrechnung durch den an sich nicht zuständigen Mitgliedstaat zu erfolgen hat, oder ob es darüber hinaus auch noch weitere Fälle geben kann. Sollte Letzteres zutreffen (was mE nicht zwingend ist), blieben wir auf weitere Urteile angewiesen, um Klarheit darüber zu bekommen, wo genau die Grenze zu ziehen ist, um jene Fälle, in denen noch das erforderliche Naheverhältnis vorliegt, von allen anderen abzugrenzen. So müssten insb die folgenden Fragen beantwortet werden (siehe bereits Bokeloh in seinem Kommentar zur Rs Reichel-Albert, ZESAR 2012, 483 [489 f], bzw Friedrich in seiner Glosse zur Rs Kauer, ASoK 2002, 117 [Rz 4.2. und 4.3.]): Muss eine Erwerbstätigkeit vorher in Österreich vorliegen oder genügt auch eine solche nach der Kindererziehungszeit? Muss diese Zeit der Erwerbstätigkeit ein bestimmtes Mindestausmaß überschreiten? Hebt diese Verpflichtung Österreichs schon eine kurze Zeit der Erwerbstätigkeit im Ausland auf? Sollte es tatsächlich auch in nicht bereits durch Art 44 abgedeckten Fallkonstellationen zu einer Verpflichtung zur Anrechnung ausländischer Kindererziehungszeiten kommen, müsste eine entsprechende Adaptierung des Art 44 angestrebt werden, um die erforderliche Klarheit und eine einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen.140