Dimmel (Hrsg) (Über)Leben an der Grenze

Pro mente edition, Linz 2015, 2 Bände in Schuber Bd 1: 376 Seiten, Bd 2: 388 Seiten, € 64,90

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Die beiden umfangreichen Bände (376 und 388 Seiten im Großformat) sind das Ergebnis eines von Nikolaus Dimmel koordinierten Forschungsprojekts, das in der Tradition der berühmten Studie von Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel über die Arbeitslosen von Marienthal die ökonomische, politische und soziale Situation einer Region im niederösterreichischen Oberen Waldviertel (es geht um die Gemeinden Schrems und Heidenreichstein, die als Modellfälle für von Deindustrialisierung betroffene Orte an der Peripherie gelten können) beschreibt, analysiert und theoretisch durchdringt. Auch mögliche Entwicklungsperspektiven werden aufgezeigt. Ein Schwerpunkt der Untersuchung ist die soziale Situation der ehemaligen Industriearbeiterschaft in der heutigen Phase der sozialen Verunsicherung und des Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Standards durch den neoliberalen Marktradikalismus. Das vorrangige Interesse des Projektteams galt Menschen, die durch die laufenden „Modernisierungsprozesse“ unter Finanzierungs- und alltäglichen Bewältigungsdruck geraten.

Im ersten Band bietet das Werk – nach einer lesenswerten kompakten Darstellung des Forschungsstandes – Reflexionen zu Prekarität, ökonomischer Depression und der Situation in räumlichen Peripherielagen. Methodisch orientiert sich das Projekt an der erwähnten Studie von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld. Sie ist bekanntlich ein Meilenstein der qualitativen Sozialforschung und gleichzeitig Modell für die Folgen einer Erosion von ökonomischen und sozialen Lebensgrundlagen. Dem Projekt ging es nicht primär um eine negative Dramatisierung und Skandalisierung der Lebensverhältnisse der AN, sondern um die Freilegung von Potenzialen (Resilienz, soziale Bewältigungskompetenz, Flexibilität im Umgang mit herausfordernden und schwierigen Lebensbedingungen). Genau deswegen aber vermittelt die Studie in fast allen ihren Facetten das Bild einen transformationspolitischen Desasters. Das Forschungsfeld wird inter- und transdisziplinär aus ökonomischer, psychologischer, soziologischer, soziographischer und regionaler geschichtlicher Perspektive beleuchtet, reflektiert und theoretisch ausgelotet. Es wurden Fragebögen ausgewertet, Bürger, Unternehmer, Sozialexperten und Vertreter der Zivilgesellschaft befragt sowie Arbeits- und Einkommensdaten verarbeitet.

Der Vielzahl an Befunden und Hypothesen kann eine kurze Rezension nicht annähernd gerecht werden. Ausgewählte Themen seien hier aber kurz angeführt, auch, um den gewaltigen Aufwand, von dem dieses Projekt getragen wurde, zu verdeutlichen. In einem brillanten Einführungskapitel („Zwischen Marienthal und Heidenreichstein“) beschreibt Nikolaus Dimmel die Verbindungen zwischen Mikro- und Makroperspektiven sozialer und ökonomischer Entwicklungen. Das scheinbar Besondere des Waldviertels und seiner Entwicklung wird mit dem Allgemeinen der kapitalistischen Dynamik im Übergang vom fordistischen Austro-Keynesianismus zu einem neoliberal inspirierten „austriazistischen Postfordismus“ verbunden. Für Dimmel spiegelt das Exempel Schrems/Heidenreichstein als ein Schauplatz an der Peripherie jene Schockwellen, die heute die kapitalistischen Metropolen erschüttern. Die Studie wird in diesem Kapitel durch Dimmel – unter Miteinbeziehung einer ungemein reichhaltigen Theoriebasis – auf das Top-Level der kritischen sozialwissenschaftlichen Diskurse unserer Zeit gehoben und in diese eingebettet. Dimmel bezieht sich dabei auch bewusst auf die Fragestellungen der Marienthal-Studie. Eine spannendere Einführung in die Gesellschaftstheorie des Kapitalismus unserer Zeit und seiner Subsysteme lässt sich235kaum denken. Der Beitrag strukturiert und konturiert die nachfolgenden Ergebnisse der multidimensionalen Erfassung des glokalisierten Raum-Zeit-Kontinuums Schrems/Heidenreichstein und seiner Bewohner.

Franz Schandl thematisiert in seinem Beitrag „Vom Hochbetrieb zur Depression“ die depressiv-fatalistische Grundstimmung individueller Lebensführung in Zeiten der Deindustrialisierung. Manuela Brandstetter („Engführungen im Diskurs rund um Ländlichkeit und soziale Probleme in ländlichen Gemeinden und Regionen“) beschreibt in einer Fallstudie über 50 armutsgefährdete Familien, wie stigmatisierende Raumbilder und zielgruppenbezogene Etikettierungen zu einer problematischen Generalisierung von Annahmen über Sozialfälle führen.

Im Abschnitt 2 geht es um Demographie, Raum und Mobilität. Barbara Mair beschreibt Deindustrialisierung und Strukturwandel in der Region vor allem an Hand der Medienberichterstattung und konfrontiert diese mit Zeitzeugeninterviews. Nikolaus Dimmel analysiert und deutet den demographischen Umbruch. Katharina Auer und Stefanie Hengl fragen, wie das Obere Waldviertel als Sozialraum wahrgenommen wird. Gertrude Gehring untersucht die Zu- und Abwanderung aus der Sicht von ProfessionistInnen der Sozialen Arbeit. Neben Arbeitsmobilität werden auch Mobilitätszwänge sozialer Reproduktion diskutiert. Reiter/B. Wimmer/P.Wimmer geht es um Typen der Bewältigung der Deindustrialisierung im Oberen Waldviertel. Sie konstatieren dabei Dynamiken der Entgrenzung, Entleerung und eine ubiquitäre Unsicherheit sowie die dahinter stehenden Orientierungskonzepte und deren Realisationsformen.

Der Abschnitt Wirtschaft, Wirtschafts- und Regionalpolitik enthält neun Beiträge, die ein genaues und differenziertes Bild der wirtschaftlichen Situation und der herrschenden Dynamiken vermitteln. Man lernt den Wirtschaftsstandort näher kennen, die Möglichkeiten der Regionalpolitik, die regionale Tourismuspolitik und auch Selbstverwaltungsexperimente und eine Regionalwährung („Der Waldviertler“).

In Band II werden die Themen Arbeitswelt und Arbeitsmarkt, Haushalt und soziale Reproduktion, Zivilgesellschaft und Politik, Sozialpolitik und Soziotechnik umfassend erörtert. Die Studie schließt mit methodischen und philosophischen Anmerkungen. Hervorgehoben seien die Beiträge zum lokalen Alltag im globalen Wandel (Franz Schandl), Haushaltsökonomie und Konsumkulturen (Barbara Mait), Zivilgesellschaft (Regina Asen), Haltungen und Mentalitäten (Franz Schandl), Macht, Wahlen und Wahlverhalten (Nikolaus Dimmel), Armutsgefährdung (Nikolaus Dimmel), hilfeunwürdige und hilfewürdige KlientInnen (Sonja Faltin).

Auch hier kennzeichnet die Abhandlungen die fruchtbare und spannende Verbindung von empirischen Befunden, qualitativer Sozialforschung und einer hoch entwickelten kritischen Theorie. Exkurse in die Literatur und das großartige Bildmaterial zeigen exemplarisch, was Sozialforschung leisten könnte, um eine radikal andere Politik anzuleiten, die sich von den ideologischen Schablonen des neoliberalen Herrschaftssystems löst.

Dass die beiden Bände hinsichtlich der Entwicklungsperspektiven und der zivilgesellschaftlichen Potenziale ein düsteres Bild vermitteln, zeigt nur, mit welch unerhört destruktiven Wirkungen das neoliberale Setting aus Ökonomie, Destruktion staatlicher Regulierungsfähigkeit und abgefeimter Psychopolitik arbeitet und jegliche Transformationsperspektiven hegemonial, dh über die Dispositionen der Subjekte und deren individualisierter Alltagskultur, abschneidet. IdS stellt Dimmel schon einleitend fest, der öffentliche Raum sei und bleibe leer. Bestimmend seien Praktiken der Selbst-Abschottung. Soziale Marginalisierung und Prekarität sind für Dimmel öffentlich unsichtbar. Das Leiden findet daheim vor dem PC-Bildschirm und den medialen Blödmaschinen des TV statt. An die Stelle des öffentlichen Raums trete die Shopping-Welt der Einkaufszentren.

Den Abschluss bilden theoretische und philosophische Reflexionen. Sie beweisen abermals, wie intensiv in diesem Projekt die Vernetzung von Theorie und „Wirklichkeit“ realisiert wurde. Wenn etwa B. Wimmer/P. Wimmer auf Milan Kunderas Diktum zu sprechen kommen, die Anhänger des Selbstverständlichen, der Wahrheiten und des scheinbar Offensichtlichen seien falsche Dichter. Mit Adorno wird festgestellt, dass alle Soziologie nur über jene Daten verfügt, die durch eine gesellschaftliche Totalität vorab strukturiert sind. Sie wenden sich, was für das gesamte Projekt als Grundverständnis gilt, gegen eine sozialtechnologische Soziologie, die den Anspruch, Nachfolgerin der Philosophie zu sein, aufgibt.

Zusammenfassend ist das Werk als ein Glücksfall der zeitgenössischen Sozialwissenschaft zu bezeichnen. Sieht man es hedonistisch, so erlebt man eine spannende Reise und liest einen ungemein reflektierten, zum Mitdenken anregenden und die theoretische Neugierde herausfordernden Report. Er eignet sich bestens als Bühnenbild für eine literarische oder filmische Darstellung („Braunschlag“), sei es von Familiendramen, Horrorgeschichten, Verbrechen, Psychodramen, Verschwörungen und nicht zuletzt einem Alltagswahnsinn zwischen Kafka, Beckett und Huxley. Die wissenschaftliche Verlässlichkeit und theoretische Qualität (das Literaturverzeichnis umfasst 36 großformatige Seiten), die hinter den empirischen Beschreibungen permanent hervorleuchtet, könnte auch als Paradigma für ein denkendes Leben und einer erneuerten wissenschaftlichen Fundierung sozialistischer Gesellschaftsentwürfe dienen. Wissenschaftspolitisch ist es dringend geboten, derartige Projekte in großer Zahl zu unterstützen, um die medialen Scheinwelten, die ideologische Präformierung von Sprache und Denken und die politischen Machtspiele zu dekonstruieren. Eben deswegen bleiben solche Studien auch eine seltene Ausnahme. Betroffen macht der die gesamte Studie begleitende Eindruck depressiver Ausweglosigkeit. Ob dahinter auch ein faschistoides Potenzial lauert, wäre eine der vielen durch das Werk aufgeworfenen Fragen.