TonkaBuchengasse 100 – Geschichte einer Arbeiterfamilie
Promedia Verlag, Wien 2016, 232 Seiten, € 17,90
TonkaBuchengasse 100 – Geschichte einer Arbeiterfamilie
Autobiografische Lebensgeschichten von AN-Familien gehören nicht gerade zu den verbreitetsten literarischen Produkten. Nicht zuletzt deshalb, da der Großteil236der AN nach getaner, anstrengender Tagesarbeit wohl kaum noch die Muße zur Verschriftlichung von Erinnerungen fand, zum anderen da die Kundigkeit des autobiografischen Schreibens, insb bei jenen im industriellen und handwerklichen Bereich Tätigen, nicht sehr verbreitet war. Darum muss ein Buch, welches penibel die Geschichte einer AN-Familie seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1955 aufzeichnet, besonderes Interesse verdienen. Oswalda Tonka (1923-1999) begann in späten Jahren ihre und ihrer Vorfahren Lebensgeschichte aufzuzeichnen, was ihre Tochter Gitta, die über 17 Jahre die VHS Favoriten leitete, bewog, diese Notizen, verbunden wohl mit eigenen Recherchen und (leider nicht als solche ersichtlichen) Kommentaren, als Buch einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die Erzählung beginnt mit der aus dem Mährischen stammenden Schlosserfamilie Sokopp. Großvater Jakob verlor bereits im ersten Lebensjahr seinen Vater, wodurch die Familie gezwungen war, auf den verschuldeten Bauernhof der Urgroßmutter zu ziehen. Er wurde von dieser aufgezogen, da seine Mutter nach Wien zog und mit einem jener frühen Sozialisten eine Beziehung begann. Der Großvater folgte als Sechzehnjähriger und nahm in der Reichs- und Residenzstadt eine Lehrstelle an. Der Lebensgefährte seiner Mutter führte den jungen Burschen in die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ein. Bereits mit 19 Jahren nahm Jakob 1874 am sozialdemokratischen Parteitag in Neudörfl teil, kam in Kontakt mit den Gewerkschaftern Karl Höger und Jakob Reumann (dem späteren Wiener Bürgermeister der Zwischenkriegszeit) und heiratete schließlich seine nun ebenfalls nach Wien übersiedelte Jugendliebe Marianne, die einen Job als Dienstmädchen angenommen hatte. Gemeinsam bekamen sie 13 Kinder, von welchen allerdings fünf in frühen Jahren verstarben. Jakob, der Mitte der 1880er-Jahre in einem metallverarbeitenden Betrieb arbeitete, stellte zusammen mit Franz Domes (dem späteren Obmann der sozialdemokratischen Metallergewerkschaft und ersten Präsidenten der Arbeiterkammer 1921-1927) Flugblätter für die Gewerkschaft her. Mitte der achtziger Jahre wurde Jakob durch den von der Regierung verhängten Ausnahmezustand und wegen „staatsfeindlicher Umtriebe“ aus Wien verbannt. Nach Wien zurückgekehrt, fand die Familie 1908 in der Buchengasse 100, wo sich Jakob, Mitbegründer der Fachgruppe der Metalldrucker im Metallarbeiterverband, im Souterrain eine kleine Schlosserwerkstätte eingerichtet hatte, ein neues Heim, wo sie mit sechs Kindern – darunter Jakob (genannt Gobi), dem Vater der Erzählerin – in engen Verhältnissen lebten. 1923 heiratete „Gobi“, der im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden war, die ebenfalls aus Mähren stammende und sich als Dienstbotin verdingende Steffi. Das junge Paar zog zu den Großeltern in die Buchengasse 100, wo denn auch Oswalda Tonka zur Welt kam. Bereits nach drei Jahren bekamen die Eltern von Oswalda, wohl durch das politische Engagement des Vaters, eine Gemeindewohnung und einen kleinen Schrebergarten. Das Glück dauerte jedoch nicht lange, da bereits 1929 der Vater verstarb und die Mutter nun die beiden Töchter Oswalda und die 1926 geborene Trude bis zu ihrem Tod 1936 alleine aufziehen musste. Die Darstellung der politisch ereignisreichen Jahre geht überwiegend auf die Schilderung der sozialdemokratisch geprägten Tante von Oswalda zurück.
Hat man in der Erzählung der familiären Vorgeschichte von Oswalda Tonka noch den Eindruck, eingeflochtene Passagen über politische Ereignisse wären einem sozialdemokratischen Geschichtslehrbuch entnommen, so gewinnt der Text ab Mitte der Dreißiger Jahre (S 103 ff) an Authentizität. Nach dem Tode ihrer Mutter wird Oswalda als 13-Jährige in ein evangelisches Waisenhaus gebracht, darf jedoch regelmäßig ihre Tanten in der Buchengasse besuchen. Diese sind es denn auch, die sie sozialdemokratisch sozialisieren. Sie erlebt nicht nur die mannigfaltigen Restriktionen, Einschüchterungen und Demütigungen im Waisenhaus, sondern verfolgt den Austrofaschismus, die Verfolgung von Sozialdemokraten und Kommunisten sowie die Annexion Österreichs aus faschismuskritischer Perspektive. 1938 gelingt es dem nun 15-jährigen Mädchen, aus dem Waisenhaus zu flüchten, und es findet nach einem Selbstmordversuch bei ihren Tanten in der Buchengasse 100 Unterschlupf. Den Tanten gelingt es, das Sorgerecht für das Kind zu bekommen, welches nun nach Abschluss der Handelsschule als Lohnverrechnerin bei der „Deutschen Post“ einen Job findet. Beeinflusst durch ihre Tanten, tritt sie dem illegalen Kommunistischen Jugendverband bei, wird zum Arbeitsdienst eingezogen und besucht in den Jahren 1942-1944 die Maturaschule. Nachdem das NS-Terrorregime Verwandte von Oswalda verfolgt, verhaftet, interniert und einen Onkel infolge seiner Tätigkeit für den kommunistischen Widerstand zum Tode verurteilt und hinrichtet hat, gelingt es dem Mädchen, sich nach Kärnten durchzuschlagen. Es schließt sich der jugoslawischen Partisanenbewegung an, wird dort ausgebildet, beteiligt sich am Untergrundkampf gegen die NS-Herrschaft und kann durch viel Glück das Kriegsende erleben. Es sind dies die stärksten und prägendsten Passagen des Buches.
Die Erzählung mag beispielgebend für viel (Er-)Leben politisch engagierter AN-Familien sein. Es zeigt die Höhen und Tiefen, die Not und die kleinen Freuden des Alltäglichen, den Einfluss des Politischen auf die komplizierte und vielfach anstrengende Lebensbewältigung, welche die Reproduktion des Alltags in einem nicht begüterten Umfeld mit sich bringt. An den Schicksalen der Familienmitglieder lässt sich die Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung – von den ersten zaghaften Treffen in Arbeiterbildungsvereinen über die Betätigung in der (freien) Gewerkschaftsbewegung bis hin zum „Roten Wien“ und seine gewaltsame Zerstörung durch die Faschismen – nachvollziehen, denn die Familie war über all die Jahrzehnte hinweg ein Teil dieser Österreich bis heute prägenden solidarischen Bewegung.
Während HistorikerInnen wohl kritisieren werden, dass von der Herausgeberin Gitta Tonka editorische Grundsätze zu Gunsten der Präsentation einer literarischen Erzählung negiert wurden, kein Vor- oder Nachwort darüber informiert, auf welchen von ihrer Mutter nachgelassenen Schriftstücken die Darstellung beruht, es überdies auch manchmal schwerfällt, den sich zeitlich überlappenden Schilderungen des Schicksals einzelner Familienmitglieder zu folgen, bietet das Buch doch auch JuristInnen eine durchaus interessante und vor allem auch lehrreiche Lektüre.237