HelmrichMindestlohn zur Existenzsicherung?

Nomos Verlag, Baden-Baden 2015 307 Seiten, broschiert, € 59,–

NORAMELZER-AZODANLOO (GRAZ)

Die 2015 in Deutschland veröffentlichte Dissertation von Christian Helmrich hat sich der großen Herausforderung gestellt, an einer juridischen Fakultät die Frage des Mindestlohns zur Existenzsicherung aus rechts- und sozialwissenschaftlicher Perspektive zu beantworten. Dabei sollte allerdings – wie auch der betreuende Doktorvater im Geleitwort zum Werk ausführt – nicht die Debatte um den Mindestlohn als solches im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen, sondern vor allem die große „Frage nach den Kosten der Gleichheit“. Denn um „materielle Ungleichheit zugunsten des einen auszugleichen, müssen regelmäßig andere belastet werden.“ Soll diese Belastung die jeweilige Solidargemeinschaft treffen oder doch die AG?

Helmrich widmet den I. Teil seiner Arbeit der Bestimmung und Beschreibung des Niedriglohnsektors. Er klärt dabei ua Begriffe, die auch im österreichischen Diskurs immer wieder auftauchen, wie etwa „Normalarbeitsverhältnis“, „atypisches“ sowie „prekäres Beschäftigungsverhältnis“, „Niedriglohn“ und „äquivalenter Marktlohn“. Im Anschluss daran werden die „Working Poor“ und die „AufstockerInnen“ näher untersucht. Im II. Teil beschäftigt er sich mit dem „gerechten“ Lohn. Ausgehend von den Lohntheorien nach Adam Smith und der Neoklassik werden der „Einfluss der Arbeitsleistung auf die Lohnhöhe“ sowie die „Leistungs-“ und die „Bedarfsgerechtigkeit“ behandelt, wobei auch dieser Autor zum wenig überraschenden, aber immer wieder aufrüttelnden Ergebnis kommt, dass die absolute Höhe der Entgelte durch Marktgegebenheiten und die relative Höhe durch einen zwischen den Beteiligten bestehenden sozialen Konsens – also jeweils unabhängig von der Arbeitsleistung – bestimmt werden (S 70 f). Helmrich zufolge fehlt es letztlich an „plausiblen Kriterien“ für die Bewertung der Arbeitsleistung, die eben nur erreicht werden könnten, wenn diesbezüglich ein Konsens bestünde, der so tragfähig ist, dass alle AkteurInnen danach handeln (S 82). Zur Bedarfsgerechtigkeit kann der Autor ua schon auf die entsprechenden Forderungen in der katholischen Soziallehre, in Rerum Novarum aus 1891 und Quadragesimo Anno aus 1931, verweisen. „Gerechter Lohn“ sei demnach nicht nur das Existenzminimum, sondern als Familienlohn zu sehen; er solle ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe sichern (S 80 f). Das deutsche Mindestlohngesetz – und darauf bezieht sich der Autor auch mehrfach – orientiert sich insofern an der Bedarfssicherung der einzelnen AN, als in der Begründung zum Entwurf ausdrücklich auf das Erreichen des Existenzminimums durch den Mindestlohn hingewiesen wird (S 90, 225).

Auf das Gerechtigkeitskapitel folgt schließlich Teil III über „Tatsächliche Aspekte der Existenzsicherung durch Mindestlohn“. Von Interesse waren für die Rezensentin in diesem Zusammenhang insb die „Auswirkungen eines Mindestlohns auf die Beschäftigungsquote“. Eine gesicherte theoretische Prognose der Beschäftigungswirkungen eines Mindestlohns kann aber dem Autor zufolge weder mit der entsprechenden Erweiterung der neoklassischen Theorie noch mit anderen Ansätzen wie dem von Keynes gegeben werden. Sehr wohl konnte allerdings nachgewiesen werden, dass die Wirkungen von der Höhe des Mindestlohns abhängen (S 99). Die Kernaussage dazu findet sich schließlich auf S 105: Ob „ein Mindestlohn beschäftigungsfeindlich, beschäftigungsneutral oder beschäftigungsfördernd wirkt, ist in den Wirtschaftswissenschaft höchst umstritten. Es lassen sich theoretische und empirische Studien zu jeder dieser Varianten finden“. Zweifelhaft ist für den Autor insb auch die armutsbekämpfende Wirkung von Mindestlöhnen in Deutschland (S 107 f).

In Teil IV, „Freiheitsrechte“, findet sich die rechtliche Bewertung des Mindestlohns in Form einer – auch als solche im Geleitwort angekündigten – „systematischen, stringent präsentierten Auseinandersetzung mit dem Diskussionsstand“. Auf der nationalen Ebene ist für Helmrich bezüglich der Tarifautonomie das Ergebnis einer allfälligen Befassung des BVerfG mit dem Mindestlohn „schwer zu prognostizieren“; der Autor erwartet jedoch Zurückhaltung bei der Kontrolle. Anders bei der Berufsfreiheit: Hier vermag die Rechtfertigung des Mindestlohns seiner Ansicht nach jedenfalls zu gelingen. Dieser diene ja „dem Erhalt sozialer Standards und damit vernünftigen Gemeinwohlerwägungen“, und sei überdies verhältnismäßig (S 151). Auf unionsrechtlicher Ebene sei ein allgemeiner Mindestlohn (entsprechend dem Mindestlohngesetz) hingegen sowohl mit der Dienstleistungs- als auch der Koalitionsfreiheit vereinbar (S 180).

Eher fremd war der – juristischen – Rezensentin der letzte Teil der Arbeit, „Gleichheit – Mindestlohn als internalisierendes Sozialrecht“, der sich mit der auf Zacher zurückgehenden grundlegenden sozialrechtlichen „Unterscheidung zwischen internalisierenden und externalisierenden rechtlich verbindlichen Lösungen für soziale Probleme“ befasst (S 181). Wohlwollend gilt es zu bemerken, dass in diesem Teil, bei dem es nebenbei ua um die Stellung des Arbeitsrechts zwischen dem Privatrecht und dem öffentlichen Recht ging, auch das österreichische Schrifttum Eingang fand und mehrere Referenzen auf Walter Schwarz‘ „Öffentliches Recht und privates Recht in der arbeitsrechtlichen Systembildung“ entdeckt werden konnten (ua S 185). Auch die eingangs erwähnte Überfrage wird am Ende beantwortet: Die AG seien insb verantwortlich dafür, dass die AN ein möglichst großes Vertrauen in den Bestandschutz ihrer Arbeitsverhältnisse hätten. Der Kündigungsschutz sei zu stärken, besonders Zeitarbeit, geringfügige und befristete Arbeitsverhältnisse sollten die regulierte Ausnahme bleiben. „Für die finanzielle Bedarfssicherung des Arbeitnehmers aber ist der Arbeitgeber nicht verantwortlich“ (S 286).

Das Buch setzt sich, wie im Untertitel angekündigt, somit zusammengefasst mit vielen berücksichtigungswürdigen Fragestellungen zum Mindestlohn auseinander und bietet, nicht zuletzt aufgrund der starken Einbeziehung der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive, hilfreiche Argumente für die sicherlich noch länger anhaltenden Diskussionen über dieses Thema.238