Fischer-Lescano/Preis/UlberVerfassungsmäßigkeit des Mindestlohns
Nomos Verlag, Baden Baden 2015 219 Seiten, broschiert, € 49,–
Fischer-Lescano/Preis/UlberVerfassungsmäßigkeit des Mindestlohns
Im Rahmen des Tarifautonomiestärkungsgesetzes wurde in Deutschland 2014 ein Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz – MiLoG) verabschiedet, durch das dort seit 1.1.2015 erstmals ein flächendeckender und branchenübergreifender gesetzlicher Mindestlohn gilt. Beim hier vorzustellenden Buch handelt es sich um die Veröffentlichung zweier Gutachten zu diesem Themenbereich. Im ersten untersuchte Andreas Fischer-Lescano im Auftrag des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung und des DGB die grundsätzliche Vereinbarkeit eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland mit dem Grundgesetz sowie dem Völker- und Europarecht. Das zweite Gutachten wurde von Ulrich Preis und Daniel Ulber – ebenfalls im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung – auf der Basis des Referentenentwurfs des BM für Arbeit und Soziales erstellt, wobei sein Schwerpunkt auf der Vereinbarkeit des gesetzlichen Mindestlohns mit der Koalitionsfreiheit nach Art 9 Abs 3 GG liegt. Obwohl das Werk somit nur die deutsche Rechtslage betrifft und bereits 2015 veröffentlicht worden ist, kann es auch für die in Österreich gerade wieder geführte Diskussion zu einem „allgemeinen Mindestentgelt für alle Beschäftigten“ fruchtbar gemacht werden.
Die Ausgangslage in Deutschland vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns unterschied sich von jener in Österreich in mehreren Bereichen: So war in Deutschland die Tarifbindung allein in den Jahren 1998-2012 von 74 % auf 58 % der Arbeitsverhältnisse gesunken. Mit Ausnahme des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes beziehen sich die kollektiven Rechtsgestaltungsmittel nur auf einzelne Branchen oder bestimmte Wirtschaftssektoren; die Ausdehnung von Mindestlohnbestimmungen verlangt einen Tarifvertrag als Grundlage. Auch vermochten es die Allgemeinverbindlicherklärung sowie die per Rechtsverordnung erlassenen tarifgestützten Mindestlöhne offenbar nicht, eine existenzsichernde Mindestentgelthöhe sicherzustellen. In Österreich hingegen bewegt sich der Erfassungsgrad kollektiver Entgeltbestimmungen zwischen 95 und 98 % der Arbeitsverhältnisse. Mit Satzung und Mindestlohntarif bestehen zwei kollektive Rechtsgestaltungsmittel, die für verbands- bzw kollektivvertragslose Bereiche erlassen werden können. Das ArbVG bietet überdies mit General-KollV und General-Satzung Möglichkeiten der branchenübergreifenden und österreichweiten Einbeziehung von Arbeitsverhältnissen.
Mehrfach wird in den Gutachten betont, dass der gesetzliche Mindestlohn das bestehende System des deutschen Arbeitsrechts bloß ergänzen soll. Dieses Nebeneinander von staatlicher und tarifvertraglicher Setzung von Mindestarbeitsbedingungen war den Autoren zufolge „selbstverständlicher Ausgangspunkt“ zur Zeit der Verabschiedung des GG. Die Tarifvertragsparteien haben zwar ein Normsetzungsrecht, aber in dem für tarifvertragliche Regelungen zugänglichen Bereich eben kein Normsetzungsmonopol.
Die gesetzlichen Mindestlohnregelungen werden von den Gutachtern jedenfalls als verhältnismäßige Eingriffe in die Tarifautonomie gesehen: So greift der gesetzliche Mindestlohn ohnehin nur, wenn die Tarifregelungen unterhalb der gesetzlichen Entgeltgrenze von ursprünglich € 8,50 (seit 1.1.2017: € 8,84) liegen. Es sind somit lediglich die untersten Entgeltgruppen von der legistischen Maßnahme betroffen. In den Bereichen, in denen überhaupt keine Tarifverträge bestehen, kann wiederum kein Eingriff in die Tarifautonomie vorliegen. Den Sozialpartnern wurde außerdem genügend Zeit gegeben, sich auf die neue Rechtslage einzustellen. Kein Gegenargument ist für die Gutachter, dass die Koalitionen Mitglieder verlieren oder neue nicht für sich gewinnen könnten, weil deren Lohn nunmehr ohnehin der Staat festsetzt. Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf den Organisationsgrad iS eines Mitgliederschwunds ließen sich empirisch nicht belegen.
Die weiteren Änderungen der Mindestlohnhöhe kommen auf Vorschlag der Mindestlohnkommission zustande; die erste – in den Gutachten so naturgemäß noch nicht abgehandelte – Erhöhung geschah zum 1.1.2017, der Mindestlohn wurde von € 8,50 auf € 8,84 angehoben. Die Mindestlohnkommission ist eine mit dem österreichischen Bundeseinigungsamt vergleichbare Behörde, in der die VertreterInnen der Spitzenorganisationen von AN und AG stimmberechtigt sind, sodass – iSd Förderung der Tarifautonomie – die Interessen der Tarifvertragsparteien entsprechend berücksichtigt werden können.
Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz, in dessen Rahmen das MiLoG verabschiedet wurde, werden verschiedene Ziele verfolgt: Neben der Kompensation der strukturellen Unterlegenheit der AN werden vor allem die Stabilisierung und Funktionssicherung des Sozialversicherungssystems (insb Verbesserung der Altersrenten, Erhöhung des Beitragsaufkommens, Verringerung von Sozialtransfers), die Bekämpfung von Lohnkostenwettbewerb sowie die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie genannt. Bei der Bejahung der Verhältnismäßigkeit durch die Autoren spielt vor allem eine Rolle, dass „mildere“ Mittel zur Erreichung all dieser Ziele nicht erkennbar sind. Insb weisen sie darauf hin, dass – ohne gesetzlichen Mindestlohn – letztlich immer Schutzlücken bezüglich des Mindestlohns bleiben würden. Hier würde sich die österreichische Rechtslage doch deutlich abheben: Im Zusammenspiel aller kollektiven Rechtsgestaltungsmittel nach dem ArbVG, dh General-KollV, General-Satzung und Mindestlohntarif eingeschlossen, könnte ein dichtes Netz gesponnen werden. Auch wenn die Tarifautonomie „versagt“, könnten somit mildere Mittel als die Festlegung durch Gesetz gefunden werden, um die AN bzw die Höhe ihres Mindesteinkommens und ihrer Pension zu schützen sowie sachlich nicht gerechtfertigte Wettbewerbsvorteile nicht kollektiv-gebundener AG zu verhindern.
Für die Zulässigkeit der gesetzlichen Entgeltregelungen in Bezug auf die Berufsfreiheit der AG nach Art 12 Abs 1 GG spricht den Gutachtern zufolge vor allem, dass den Vertragsparteien schließlich nicht jeglicher Verhandlungsspielraum genommen, sondern lediglich verhindert worden ist, dass die Verhandlungsstärke ausgenutzt und eine unangemessen niedrige Vergütung vereinbart wird.
Bezüglich der Möglichkeit von Ausnahmen von einem umfassenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland wurden in den Gutachten mehrere Aspekte angesprochen: Zunächst wird einmal betont, dass ein239verfassungsgesetzliches Gebot einer Differenzierung nach Branchen oder Personengruppen nicht besteht. Weiters wird dargelegt, dass sich selbst dann, wenn im Einzelfall Vergütungsregelungen zur Existenzgefährdung einzelner Betriebe führen sollten, daraus noch keine Verfassungswidrigkeit ergibt. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn ist den Autoren zufolge von seiner Grundkonzeption, Begründung und Zielsetzung her betrachtet geradezu als ausnahmefeindlich zu verstehen. Zu Recht ist der deutsche Gesetzgeber bezüglich der Ausnahmen vom gesetzlichen Mindestlohn daher auch eher zurückhaltend gewesen. Er muss sich allerdings insb für einen der Ausnahmetatbestände, nämlich jenen zu den jugendlichen Beschäftigten unter 18 Jahren, nicht nur in den vorliegenden Gutachten, sondern auch in weiterführenden Kommentaren, wie jenem von Düwell/Schubert, deutliche Kritik wegen Verfassungs- und Unionswidrigkeit gefallen lassen.
Aufgrund der – hier teilweise auch aufgezeigten – strukturellen Unterschiede zwischen den deutschen und den österreichischen kollektiven Rechtsgestaltungsmitteln können die Ergebnisse der deutschen Gutachten keinesfalls eins zu eins auf Österreich übertragen werden. Sie können aber wertvolle Anregungen und Hintergrundinformationen in den Diskussionen um die Schaffung eines „Mindestlohns für alle“ auch hierzulande bieten.