Steiner60 Jahre Allgemeines Sozialversicherungsgesetz – Der Sozialstaat ist die wichtigste Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts
Verlag des ÖGB, Wien 2015 216 Seiten, gebunden, € 29,90
Steiner60 Jahre Allgemeines Sozialversicherungsgesetz – Der Sozialstaat ist die wichtigste Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts
Der Autor Dr. Guenther Steiner, von der Ausbildung her Politologe und Historiker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Konfliktforschung und in den letzten Jahren schon mit einigen Veröffentlichungen zur Geschichte des österreichischen Sozialversicherungsrechts hervorgetreten. Einer Arbeit über Friedrich Hillegeist im Jahr 2013 folgten Studien über die Sozialversicherung 1918-1938, im Besonderen über Sozialminister Josef Resch (2014) und – nebst einer Reihe von Zeitschriftenbeiträgen in der „Sozialen Sicherheit“ und in DRdA – über Sozialminister Anton Proksch (2015). Eine frühere, thematisch ähnliche Arbeit beschäftigte sich schon 2009 mit 60 Jahren Hauptverband der Sozialversicherungsträger. Nun liegt also eine Geschichte des ASVG aus Anlass der 60. Wiederkehr seines Inkrafttretens am 1.1.1956 vor. Es ist sehr zu begrüßen, dass Steiner – einer Selbstauskunft auf der Website des Instituts für Konfliktforschung zufolge – einen seiner Forschungsschwerpunkte auf die Geschichte und Entwicklung der SV und der Sozialpolitik in Österreich gelegt hat. Wie der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Gerhard Melinz jüngst in der Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (Sozialrechtsgeschichte in Österreich: Status quo und quo vadis? Rg24 20,16 402-411) zurecht beklagte, liegt die Sozialrechtsgeschichte (von vereinzelten Beiträgen einmal abgesehen) hierzulande eher im Argen. Nicht einmal die disziplinäre Wissenschaftsverortung (reine Rechtsgeschichte, interdisziplinäre, intradisziplinäre oder transdisziplinäre Forschungskonzepte und -strategien) sei bisher geklärt. Sozialrecht im Allgemeinen und Sozialversicherungsrecht im Besonderen zählen halt nicht zu den allgemein als attraktiv angesehenen Forschungsgebieten, weshalb es da auch in der Rechtswissenschaft kein allzu großes Gedränge gibt. Gilt Sozialrecht schon für Juristen (wenn auch ganz zu Unrecht) als trocken und schwierig und wenig geeignet, sich wissenschaftliche Lorbeeren zu verdienen, die über die einschlägige Community der Praktiker hinaus wahrgenommen werden, umso weniger kann man sich von (Rechts-)Historikern erwarten, sich in dessen Stromschnellen zu begeben. Ausnahmen, wie der leider früh verstorbene, an der Universität Wien tätig gewesene Rechtshistoriker Herbert Hofmeister, bestätigen die Regel. Umso erfreulicher, dass sich ein junger Historiker nun anschickt, sich dieses Themenkreises nachhaltig zu bemächtigen.
Die vorliegende Arbeit ist keine übertrieben tiefschürfende, auf Primärquellen zurückgreifende historische Arbeit; das will sie auch nicht sein. Sie trifft den Charakter einer Jubiläumsgabe und beschreibt unter reichhaltiger Verwendung von Sekundärliteratur – nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit – den Ablauf der Gesetzgebung nach 1945 im Vorfeld der Kodifikation des ASVG und schließlich die Geschichte des ASVG selbst mit seinen wichtigsten (Novellen-)Stationen bis zur 78. Novelle zum ASVG (Stichwort: Abschaffung der befristeten Invaliditätspensionen für unter 50-Jährige, Einführung des Rehabilitationsgeldes). Der Autor gliedert das Werk in die Abschnitte „Organisatorisches“, „Krankenversicherung“, „Unfallversicherung“ und „Pensionsversicherung“, wodurch die Gewinnung eines geordneten Überblicks über die Rechtsentwicklung gewährleistet wird. Bemerkenswert ist, dass der Rezensent (in DRdA 2015, 489 [495]), der Autor (im rezensierten Werk 163) und Theodor Tomandl (ZAS 2016, 3 [12]) zur selben Diagnose gelangt sind und den Zeitraum von 1956 bis zur ersten großen Pensionsreform 1984 unabhängig voneinander als das „Goldene Zeitalter“ der PV bezeichnet haben: Dies ungeachtet dessen, dass man manche Entwicklungen dieser Zeit durchaus kritisch sehen kann und soll, soweit sie im242Zeitalter der Vollbeschäftigung eher „Sozialpolitik pur“ als langfristig durchdacht gewesen sind.
Die Darstellung ist bei aller Kürze detailreich: So bleibt nicht unerwähnt, dass das SRÄG 2000 (Anm: im Zeitalter besonders rasch vorangetriebener Legistik – „speed kills“) wegen eines Kundmachungsfehlers zweimal im Bundesgesetzblatt publiziert wurde und dass der VfGH im Jahr 2001 die Bestimmungen über die Ambulanzgebühr aufgrund einer fehlerhaften Kundmachung (Abweichung des Textes vom Parlamentsbeschluss) aufgehoben hat. Der Nachteil des Detailreichtums: Die Darstellung kommt über eine mitunter schlagwortartige Beschreibung nicht hinaus. Einigen Zeitdruck bei der Herstellung dürfte es auch gegeben haben, wie zB der Umstand vermuten lässt, dass man in Bezug auf die Hauptverbandsreform 2001 zweimal kurz hintereinander erfährt, dass damit die Selbstverwaltung gestärkt und Mehrgleisigkeiten in der Organisationsstruktur beseitigt werden sollten (63 und 67). Wie überhaupt kritisch anzumerken wäre, dass die Darstellung zum Teil unter der vom Autor gewählten Methode leidet, durchwegs unkommentiert und ohne jedes Fragezeichen auf die in den Gesetzesmaterialien angegebenen Motive zurückzugreifen; dies führt an manchen Stellen, wie zB bei der Behandlung der Hauptverbandsreform 2001, zum Eindruck einer Art Hofberichterstattung, die den (durchaus partei-)politischen Hintergrund der Reform völlig ausblendet. Insofern ist bei der Verwendung des Werkes als Sekundärquelle auch Vorsicht geboten. Allerdings wird in der Titelei offengelegt, dass die Studie im Auftrag des Hauptverbandes erstellt wurde, sodass man schon aus diesem Grund die Erwartungshaltung an eine kritische Auseinandersetzung nicht allzu hoch spannen muss.
Das Sozialversicherungsrecht ist Ausdruck des politisch Machbaren und zugleich Spiegelbild des gesellschaftlichen Wandels – das ist für den Autor der Sukkurs in seiner zusammenfassenden Betrachtung. Ein Bildteil, ein informativer Tabellenteil und ein Literaturverzeichnis runden das Werk ab. Die kritischen Anmerkungen ändern nichts daran, dass das Werk eine Lücke schließt. Es handelt sich um ein insgesamt sehr angenehm und leicht verständlich geschriebenes Werk, das außerdem ausgesprochen wohlfeil ist und das daher jeder zur Hand nehmen sollte, der sich für die Geschichte der Sozialpolitik in Österreich im Allgemeinen und die Geschichte der SV im Besonderen interessiert. Die historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des österreichischen Sozialversicherungsrechts der Nachkriegszeit steht freilich noch aus. Wenn Guenther Steiner seinem Forschungsschwerpunkt treu bleibt, dann wäre er vielleicht der richtige Mann dafür.