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Gesetzliches Pensionsrecht der Beamten als betriebliches System der sozialen Sicherheit

CHRISTOPHKIETAIBL (KLAGENFURT)
RL 79/7/EWG; RL 86/378/EWG; RL 2000/78/EG; RL 2006/54/EG
  1. Die gesetzliche Pensionsvorsorge für Bundesbeamte ist ein betriebliches System der sozialen Sicherheit iSd Art 6 Abs 2 der RL 2000/78/EG, bei dem die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass die Festlegung einer Mindestaltersgrenze für die Mitgliedschaft zum Vorsorgesystem keine Altersdiskriminierung ist.

  2. Art 2 Abs 1, Art 2 Abs 2 Buchst a und Art 6 Abs 2 der RL 2000/78/EG sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, welche die Anrechnung von Lehr- und Beschäftigungszeiten, die ein Beamter vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegt hat, für die Gewährung eines Ruhegehaltsanspruchs und die Berechnung der Höhe seines Ruhegehalts ausschließt. Die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht gilt unter der Voraussetzung, dass diese Regelung bei einem Pensionssystem für Beamte die einheitliche Festsetzung einer Altersgrenze für die Mitgliedschaft und einer Altersgrenze für den Bezug von Altersrente im Rahmen dieses Systems gewährleisten soll.

[...]

9 Bis zu seiner Übernahme als Beamter leistete Herr Lesar während seines Lehr- und Beschäftigungsverhältnisses – auch als er noch keine 18 Jahre alt war – Pensionsbeiträge an die Versicherungsanstalt. [...]

14 Am 19.8.2011 beantragte Herr Lesar bei seinem AG, die vor Vollendung des 18. Lebensjahrs gelegenen Lehr- und Beschäftigungszeiten bei der Berechnung seiner Pensionsansprüche [...] zu berücksichtigen. Das Personalamt lehnte diesen Antrag [...] ab.

15 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts würde die Ablehnung der Anrechnung von vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegten Lehr- und Dienstzeiten als Vordienstzeiten eine Ungleichbehandlung wegen des Alters darstellen, und es möchte wissen, ob diese gerechtfertigt sein könnte. [...]

17 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 2 Abs 1, Art 2 Abs 2 Buchst a und Art 6 Abs 1 der RL 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Anrechnung von Lehr- und Beschäftigungszeiten, die ein Beamter vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegt hat, für die Gewährung eines Ruhegehaltsanspruchs und die Berechnung der Höhe seines Ruhegehalts ausschließt, während diese Zeiten angerechnet werden, wenn sie nach Erreichen dieses Alters zurückgelegt wurden. [...]

20 Gem § 53 Abs 2 lit a PG 1965 ist die in einem Dienst-, Ausbildungs- oder sonstigen Arbeitsverhältnis bei einem inländischen öffentlich-rechtlichen DG zurückgelegte Zeit als Ruhegenussvordienstzeit anzurechnen. § 54 Abs 2 lit a PG 1965 beschränkt diese Anrechnung jedoch auf die Zeit, die der Beamte nach Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegt hat.

21 [...] Eine solche Vorschrift schafft damit eine Ungleichbehandlung, die unmittelbar auf dem Kriterium des Alters [...] beruht [...].

22 Gleichwohl ist zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung gem Art 6 Abs 2 der RL 2000/78 gerechtfertigt sein kann. [...]

23 Nach Art 6 Abs 2 der RL 2000/78 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit die Festsetzung von Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität keine Diskriminierung wegen des Alters darstellt.

24 Da diese Vorschrift den Mitgliedstaaten gestattet, eine Ausnahme vom Verbot der Diskriminierung wegen des Alters vorzusehen, ist sie eng auszulegen (Urteil vom 26.9.2013, HK Danmark, C-476/11, EU:C:2013:590, Rn 46 und die dort angeführte Rsp).

25 Der Gerichtshof hat in diesem Sinne entschieden, dass Art 6 Abs 2 der RL 2000/78 nur für betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit gilt, die die Risiken von Alter und Invalidität abdecken (Urteil vom 26.9.2013, HK Danmark, C-476/11, EU:C:2013:590, Rn 48 und die dort angeführte Rsp). [...]

26 Vorliegend ist also zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung Teil eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit ist, das die Risiken von Alter oder Invalidität abdeckt. Sollte dies zutreffen, ist weiter zu prüfen, ob diese Regelung von den in dieser Vorschrift genannten Fällen, also der „Festsetzung von Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität“, erfasst wird.

27 Zum einen ist festzustellen, dass die RL 2000/78 nicht definiert, was unter einem „betrieblichen System der sozialen Sicherheit“ zu verstehen ist. Dagegen enthält Art 2 Abs 1 Buchst f der RL 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl 2006, L 204, S 23) eine Definition dieses Begriffs. Danach sind betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit 191Systeme, die nicht durch die Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl 1979, L 6, S 24) geregelt werden und deren Zweck darin besteht, den abhängig Beschäftigten und den Selbstständigen in einem Unternehmen oder einer Unternehmensgruppe, in einem Wirtschaftszweig oder den Angehörigen eines Berufes oder einer Berufsgruppe Leistungen zu gewähren, die als Zusatzleistungen oder Ersatzleistungen die gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit ergänzen oder an ihre Stelle treten, unabhängig davon, ob der Beitritt zu diesen Systemen Pflicht ist oder nicht“.

28 Wie der Generalanwalt in Nr 45 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, geht insoweit aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass es sich bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystem der Bundesbeamten um ein System handelt, das iSd Art 2 Abs 1 Buchst f der RL 2006/54 den Angehörigen einer Berufsgruppe Leistungen gewährt, die als Ersatzleistungen an die Stelle der Leistungen eines gesetzlichen Sozialversicherungssystems treten. Bundesbeamte sind aufgrund ihrer Beschäftigung in einem Dienstverhältnis beim Bund vom Rentenversicherungssystem des ASVG ausgenommen, weil ihnen aus ihrem Dienstverhältnis die Anwartschaft auf ein Ruhe- und Versorgungsgehalt zusteht, das den Leistungen dieser PV gleichwertig ist.

29 Zum anderen hat die österreichische Regierung geltend gemacht, dass bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden System ein Alter festgesetzt wird, ab dem die an das Rentensystem der Bundesbeamten angeschlossenen Personen beginnen, Beiträge zu zahlen und einen Anspruch auf den Erhalt der Höchstpension erwerben, um ua insoweit eine Gleichbehandlung der Beamten zu gewährleisten.

30 Unter diesen Umständen ist, wie der Generalanwalt in Nr 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausdruck der den Mitgliedstaaten in Art 6 Abs 2 der RL 2000/78 zuerkannten Freiheit, bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einem Beamtenpensionssystem oder den Bezug von Altersrente im Rahmen dieses Systems festzusetzen. Die Mitgliedstaaten können nach dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht nur unterschiedliche Altersgrenzen für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen bzw Kategorien von Beschäftigten festsetzen, sondern auch im Rahmen eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit eine einheitliche Altersgrenze für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente festsetzen.

31 Somit ist davon auszugehen, dass eine solche Regelung die „Festsetzung von Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität“ iS von Art 6 Abs 2 der RL 2000/78 gewährleisten soll.

32 Folglich ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art 2 Abs 1, Art 2 Abs 2 Buchst a und Art 6 Abs 2 der RL 2000/78/EG dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die die Anrechnung von Lehr- und Beschäftigungszeiten, die ein Beamter vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegt hat, für die Gewährung eines Ruhegehaltsanspruchs und die Berechnung der Höhe seines Ruhegehalts ausschließt, nicht entgegenstehen, sofern diese Regelung bei einem Pensionssystem für Beamte die einheitliche Festsetzung einer Altersgrenze für die Mitgliedschaft und einer Altersgrenze für den Bezug von Altersrente im Rahmen dieses Systems gewährleisten soll. [...]

ANMERKUNG

1. Bislang hat der EuGH die Nichtanrechnung von vor dem 18. Lebensjahr erworbenen Vordienstzeiten bei der Entgeltbemessung stets als Altersdiskriminierung verworfen (falls danach erworbene Vordienstzeiten berücksichtigt werden). Anders als in den bisherigen Entscheidungen ging es in der vorliegenden aber nicht um die richtige Einstufung in ein senioritätsabhängiges Entlohnungsmodell samt Berechnung der entsprechenden Vorrückungsstichtage, sondern um die Berücksichtigung der Vordienstzeiten als Ruhegenusszeiten im Rahmen der Beamtenvorsorge. Hier hat der EuGH die bloße Berücksichtigung nach dem 18. Lebensjahr verbrachter Beschäftigungszeiten zugelassen; und zwar unter Berufung auf die Ausnahmeregel in Art 6 Abs 2 der RL 2000/78/EG, wonach die Mitgliedstaaten Mindestaltersgrenzen für die Mitgliedschaft zu betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit vorsehen dürfen.

2. Nach allgemeinem Begriffsverständnis erscheint die Qualifizierung des gesetzlichen Pensionsrechts der Beamten als betriebliches System der sozialen Sicherheit überraschend. Art 6 Abs 2 der RL definiert diesen Begriff nicht näher, und üblicherweise werden darunter Betriebspensionssysteme verstanden. Der EuGH legt den Begriff aber anhand der weiten Begriffsbestimmung in den Richtlinien zur Geschlechtergleichbehandlung im Arbeitsverhältnis aus, konkret anhand Art 2 der RL 2006/54/EG, welche ihrerseits die Begriffsbestimmung aus der Vorgängerregelung in Art 7 der RL 86/378/EWG übernommen hat. Danach gelten als betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit alle Systeme, die nicht durch die RL 79/7/EWG geregelt werden, und deren Zweck darin besteht, den unselbständig oder selbständig Erwerbstätigen eines Unternehmens, eines Wirtschaftszweigs oder den Angehörigen eines Berufes oder einer Berufsgruppe Leistungen zu gewähren, die als Zusatzleistungen oder Ersatzleistungen die gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit ergänzen oder an ihre Stelle treten, unabhängig davon, ob der Beitritt zu diesen Systemen Pflicht ist oder nicht. Die Geschlechtergleichbehandlung in allgemeinen gesetzlichen Systemen der sozialen Sicherheit, wie insb der allgemeinen gesetzlichen PV, ist hingegen in der RL 79/7/EWG geregelt. Aus Sicht der Geschlechtergleichbehandlung ist die Abgrenzung zwischen betrieblichen und allgemeinen Vorsorgesystemen deshalb wichtig, weil die allgemeine PV192(mangels Bezugs zu einem bestimmten AG oder Beschäftigungsverhältnis) kein Entgelt iSd Art 157 AEUV ist, und weil Art 7 der RL 79/7/EWG in der allgemeinen gesetzlichen PV ein nach Geschlecht unterschiedliches Pensionsantrittsalter erlaubt. Für die Abgrenzung zwischen allgemeiner und betrieblicher Vorsorge kommt es nach den genannten Richtlinien zur Geschlechtergleichbehandlung nicht auf die Rechtsgrundlage oder die Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zum Vorsorgesystem an, sondern darauf, ob nach dem fraglichen System die Pensionsleistung auf Grund einer Beschäftigung in einer bestimmten Branche oder bei einem bestimmten AG gebührt. Dieser Zusammenhang besteht jedenfalls bei Betriebspensionszusagen des AG; daneben aber auch bei gesetzlichen Systemen wie der Beamtenvorsorge, wenn und weil diese an die Beschäftigung beim Staat als AG anknüpft (vgl EuGH 28.9.1994, C-7/93, Beune). Für den Bereich der Geschlechtergleichbehandlung ist daher seit langem klar, dass der Begriff „betriebliches System der sozialen Sicherheit“ weit zu verstehen ist und auch das gesetzliche Pensionsrecht der Beamten erfasst. Ausdrücklich (und in Festschreibung der zitierten Rsp des EuGH) sagt dies auch Art 7 Abs 2 der RL 2006/54/EG.

3. Diesen weiten Begriff der betrieblichen Vorsorge überträgt der EuGH in der vorliegenden E auf den Bereich der Altersdiskriminierung. Dies ist vertretbar, wobei für einen Gleichlauf bereits das Streben nach einheitlicher und kohärenter Begriffsbildung innerhalb des Antidiskriminierungsrechts insgesamt sprechen könnte. Zwingend ist diese Sichtweise aber nicht, und im konkreten Fall könnten Normzweck und Regelungskontext auch ein unterschiedlich weites Begriffsverständnis nahe legen. Denn das weite Begriffsverständnis in der RL 2006/54/EG zur Geschlechtergleichbehandlung beschränkt zugleich den Anwendungsbereich der Ausnahme für das geschlechtsspezifische Anfallsalter in der RL 79/7/EG (die ja nur für allgemeine Systeme gilt). Damit steht hier das weite Begriffsverständnis im Einklang mit der vom EuGH in stRsp vertretenen (wenn auch in der Sache fragwürdigen) These, dass Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot eng auszulegen sind, um dem Diskriminierungsverbot eine möglichst umfassende Wirkung zu verleihen. Im Bereich der Altersdiskriminierung bewirkt das weite Begriffsverständnis aber das Gegenteil, weil hier die betriebliche Vorsorge Tatbestandsmerkmal der Ausnahme vom Diskriminierungsverbot ist: nur bei betrieblichen Systemen sind nach Art 6 Abs 2 der RL 2000/78/EG Mindestaltersgrenzen zugelassen und daher vom Verbot der Altersdiskriminierung ausgenommen. Diese unterschiedliche Wirkung könnte gegen die Übernahme des weiten Begriffsverständnisses aus dem Recht der Geschlechtergleichbehandlung sprechen. Unabhängig davon könnte im Recht der Altersdiskriminierung gegen das weite Begriffsverständnis auch der Normzweck der Ausnahmeregelung in Art 6 Abs 2 der RL sprechen. Sieht man den Zweck der partiellen Freistellung vom Altersdiskriminierungsverbot in der Förderung der betriebliche Vorsorge durch (private) AG, so verlangt dies ebenfalls keine Freistellung auch des gesetzlichen Pensionsrechts für Beamte.

4. Im Ergebnis bewirkt die E des EuGH für die Vordienstzeitanrechnung von Beamten eine „gespaltene“ Rechtslage: Bei Berechnung des Aktivbezuges (Einstufung und Vorrückung) sind sämtliche Vordienstzeiten zu berücksichtigen, wohingegen bei der Ruhegenussberechnung eine Berücksichtigung bloß nach dem 18. Lebensjahr verbrachter Vordienstzeiten zulässig ist. Mittelbar sind die bis zum 18. Lebensjahr erworbenen Vordienstzeiten freilich dennoch pensionswirksam, weil sie eine höhere Einstufung in der Aktivzeit bewirken und die Pensionshöhe von der Höhe des Aktivbezuges abhängt.