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Der Überweisungsbetrag als Freizügigkeitshindernis

MARTINATHOMASBERGER (WIEN)

Bestimmungen, nach denen Ruhegenussanwartschaften von Beamten, die ihr Dienstverhältnis wegen der Aufnahme einer Beschäftigung in einem anderen Mitgliedsstaat beenden müssen, mit einem wesentlich geringeren Wert in die gesetzliche Rentenversicherung überführt werden, stellen ein Freizügigkeitshindernis iSd Art 45 AEUV dar.

[...]

17 Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass das geltende Recht im Land Nordrhein-Westfalen Herrn Pöpperl für die beabsichtigte Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses in Österreich keine andere Möglichkeit geboten habe, als aus dem Beamtenverhältnis auszuscheiden. Anders als bei einem Wechsel des Dienstherrn innerhalb der Bundesrepublik Deutschland – sei es etwa von einem Land zu einem anderen oder in den Bundesdienst – gebe es keine Möglichkeit einer Versetzung oder Abordnung in den Dienst eines anderen Mitgliedstaats unter Beibehaltung der bisher erworbenen Ruhegehaltsansprüche.

18 Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

[...]

1. Ist Art 45 AEUV dahin auszulegen, dass er nationalem Recht entgegensteht, nach dem eine in einem Mitgliedstaat verbeamtete Person ihre Anwartschaften auf Ruhegehalt (Versorgungsbezüge) verliert, weil sie zwecks Aufnahme einer neuen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat auf eigenen Wunsch aus dem Beamtenverhältnis entlassen wurde, wenn das nationale Recht gleichzeitig vorsieht, dass diese Person unter Zugrundelegung193der in dem früheren Beamtenverhältnis erreichten Bruttobezüge in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert wird, wobei die daraus folgenden Rentenansprüche niedriger als die verlorenen Ruhegehaltsanwartschaften sind?

2. Falls Frage 1 – für alle oder für bestimmte Beamte – bejaht wird: Ist Art 45 AEUV dahin auszulegen, dass mangels anderweitiger nationaler Regelung die frühere Anstellungskörperschaft des betroffenen Beamten entweder diesem das Ruhegehalt unter Zugrundelegung der in dem früheren Beamtenverhältnis zurückgelegten ruhegehaltsfähigen Dienstzeit und unter Minderung um die aus der Nachversicherung entstandenen Rentenansprüche zu zahlen oder den Verlust des Ruhegehalts auf andere Weise finanziell auszugleichen hat, obwohl nach nationalem Recht nur die nach diesem Recht vorgesehenen Versorgungsleistungen gewährt werden dürfen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage [...]

19 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, nach der eine in einem Mitgliedstaat verbeamtete Person, die auf eigenen Wunsch aus dem Beamtenverhältnis ausscheidet, um eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, ihre Ansprüche auf Ruhegehalt aus der Beamtenversorgung verliert und in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert wird, wobei die daraus folgenden Altersrentenansprüche niedriger als die Ruhegehaltsansprüche sind. [...]

22 [...] (D)ie Mitgliedstaaten (sind) zwar weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig [...], doch müssen sie dabei das Unionsrecht und insb die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit der AN und die Niederlassungsfreiheit beachten (vgl Urteile vom 1.4.2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn 43, sowie vom 21.1.2016, Kommission/Zypern, C-515/14, EU:C:2016:30, Rn 38).

23 Nach stRsp des Gerichtshofs sollen sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Bürgern der Europäischen Union die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die die Unionsbürger benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als ihrem Herkunftsmitgliedstaat eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen. In diesem Zusammenhang haben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten insb das unmittelbar aus dem Vertrag abgeleitete Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um sich zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten (vgl Urteile vom 15.12.1995, Bosman, C-415/93, EU:C:1995:463, Rn 94 und 95, vom 1.4.2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn 44, sowie vom 21.1.2016, Kommission/Zypern, C-515/14, EU:C:2016:30, Rn 39).

24 Zwar kann das Primärrecht der Union einem Versicherten nicht garantieren, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat als seinen Herkunftsmitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit, insb in Bezug auf Leistungen bei Krankheit und Altersrenten, neutral ist, da ein solcher Umzug aufgrund der Unterschiede, die in diesem Bereich zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für die betreffende Person je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in Bezug auf den sozialen Schutz haben kann, doch ist nach stRsp eine nationale Regelung für den Fall, dass ihre Anwendung weniger vorteilhaft ist, nur mit dem Unionsrecht vereinbar, soweit ua diese nationale Regelung den betreffenden Erwerbstätigen im Vergleich zu Personen, die ihre gesamten Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem diese Regelung gilt, nicht benachteiligt und nicht nur dazu führt, dass Beitragsleistungen erbracht werden, denen kein Anspruch auf Gegenleistungen gegenübersteht (vgl Urteil vom 21.1.2016, Kommission/Zypern, C-515/14, EU:C:2016:30, Rn 40 und die dort angeführte Rsp).

25 Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, würde der Zweck der Art 45 und 48 AEUV verfehlt, wenn Wander-AN, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, die Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren würden, die ihnen allein die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern (vgl Urteile vom 1.4.2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn 46, sowie vom 21.1.2016, Kommission/Zypern, C-515/14, EU:C:2016:30, Rn 41).

26 Ferner soll nach der Rsp des Gerichtshofs mit den Art 45 und 48 AEUV insb verhindert werden, dass ein AN, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und in mehr als einem Mitgliedstaat beschäftigt war, ohne objektiven Grund schlechter gestellt wird als ein AN, der seine gesamte berufliche Laufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat (vgl Urteile vom 30.6.2011, da Silva Martins, C-388/09, EU:C:2011:439, Rn 76, sowie vom 21.1.2016, Kommission/Zypern, C-515/14, EU:C:2016:30, Rn 42).

27 Wie der Generalanwalt in den Nrn 41 bis 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, steht fest, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, nach der ein Beamter des Landes Nordrhein-Westfalen, wenn er vor dem Eintritt in den Ruhestand aus dem Dienst ausscheidet, um eine Beschäftigung im Privatsektor in der Bundesrepublik Deutschland oder eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, auf seinen Beamtenstatus verzichten muss, für diesen unabhängig von der Dauer seiner Beschäftigung als Beamter zum einen den Verlust der Ruhegehaltsansprüche aus der Beamtenversorgung und zum anderen die Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet, wobei die daraus folgenden Altersrentenansprüche erheblich niedriger als die verlorenen Ansprüche sind.

28 Eine solche Regelung stellt eine Beschränkung der AN-Freizügigkeit dar, da sie, auch wenn sie für Beamte des Landes Nordrhein-Westfalen gilt,194die aus dem Dienst ausscheiden, um in ihrem Herkunftsmitgliedstaat im Privatsektor zu arbeiten, geeignet ist, diese Beamten zu hindern oder davon abzuhalten, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um eine Stelle in einem anderen Mitgliedstaat anzunehmen. Diese Regelung beeinflusst somit unmittelbar den Zugang der Beamten des Landes Nordrhein-Westfalen zum Arbeitsmarkt in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland und ist daher geeignet, die Freizügigkeit der AN zu behindern (vgl in diesem Sinne Urteile vom 15.12.1995, Bosman, C-415/93, EU:C:1995:463, Rn 98 bis 100 und 103, sowie vom 21.1.2016, Kommission/Zypern, C-515/14, EU:C:2016:30, Rn 47).

29 Nach gefestigter Rsp können nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, nur dann zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (vgl ua Urteil vom 12.9.2013, Konstantinides, C-475/11, EU:2013:542, Rn 50).

30 Das Land Nordrhein-Westfalen und die deutsche Regierung machen geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung durch das legitime Ziel, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung sicherzustellen, gerechtfertigt sei, da mit ihr ua für die Loyalität der Beamten und somit die Kontinuität und die Beständigkeit des öffentlichen Dienstes Sorge getragen werde. In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hat das Land Nordrhein-Westfalen erläutert, dass dieses Ziel ganz allgemein in der öffentlichen Verwaltung und im Besonderen in der Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen verfolgt werde.

31 Insoweit ist [...] darauf hinzuweisen, dass eine solche Beschränkung jedenfalls geeignet sein muss, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist.

32 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung könnte zwar geeignet sein, die Erreichung des Ziels der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung zu gewährleisten, da sie einen Beamten vom Ausscheiden aus der Verwaltung abhalten und so die personelle Kontinuität sicherstellen kann, die eine Beständigkeit bei der Wahrnehmung der Aufgaben dieser Verwaltung gewährleistet.

33 Doch sind nach der Rsp des Gerichtshofs eine nationale Regelung und die verschiedenen einschlägigen Regeln nur dann geeignet, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl in diesem Sinne Urteile vom 10.3.2009, Hartlauer, C-169/07, EU:C:2009:141, Rn 55, und vom 19.5.2009, Apothekerkammer des Saarlandes ua, C-171/07und C-172/07, EU:C:2009:316, Rn 42).

[...]

36 Der dem Gerichtshof vorliegenden Akte und insb den mündlichen Erklärungen des Landes Nordrhein Westfalen ist zu entnehmen, dass es einem Landesbeamten, wenn das Land seiner Versetzung zustimmt, freisteht, aus dem Dienst bei diesem Land auszuscheiden, um eine Stelle im öffentlichen Dienst eines anderen Landes oder des Bundes anzunehmen, ohne in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert zu werden, was ihm somit ermöglicht, Ansprüche auf ein Ruhegehalt zu erwerben, das höher ist als die Altersrente nach der gesetzlichen Rentenversicherung, und die jenen vergleichbar sind, die er bei seinem ursprünglichen Dienstherrn erworben hatte.

37 Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass das Ziel, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung im Land Nordrhein-Westfalen sicherzustellen, insb indem die Treue der Beamten zum öffentlichen Dienst gefördert wird, nicht in kohärenter und systematischer Weise verfolgt zu werden scheint, da ein Beamter im Falle seiner Versetzung auch dann Ansprüche auf ein Ruhegehalt erwerben kann, das höher ist als die Altersrente, die ihm aufgrund der Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung zustünde, wenn er aus der öffentlichen Verwaltung, in der er beschäftigt ist, ausscheidet und in die Verwaltung eines anderen Landes oder des Bundes wechselt. Somit hält die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung die Beamten nicht unter allen Umständen davon ab, aus der öffentlichen Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen auszuscheiden.

38 Folglich kann diese Regelung nicht als geeignet angesehen werden, die Erreichung des Ziels zu gewährleisten, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung im Land Nordrhein-Westfalen sicherzustellen. Daher kann sie nicht durch dieses Ziel gerechtfertigt werden. [...]

40 Scheidet ein Beamter, der mehr als 20 Jahre im öffentlichen Dienst gearbeitet hat, vor Eintritt in den Ruhestand aus dem Dienst aus, führt diese Regelung nämlich zum Verlust aller seiner der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit iSd Beamtenversorgung entsprechenden Ruhegehaltsansprüche sowie zur Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung, wobei die daraus folgenden Altersrentenansprüche erheblich niedriger als die Ruhegehaltsansprüche sind. Außerdem ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass nach dem Recht einiger Länder ehemalige Beamte, die aus dem öffentlichen Dienst dieser Länder ausgeschieden sind, ihre Beamtenversorgungsansprüche behalten können, was eine weniger beschränkende Maßnahme als die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung darstellt. [...]

Zur zweiten Frage

42 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Fall einer Bejahung der ersten Frage wissen, welche Konsequenzen es daraus zu ziehen hat, um die Anforderungen des Art 45 AEUV zu erfüllen.

43 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Gerichten verlangt, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zustän-195digkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl in diesem Sinne Urteile vom 24.1.2012, Dominguez, C-282/10, EU:C:2012:33, Rn 27 und die dort angeführte Rsp, sowie vom 11.11.2015, Klausner Holz Niedersachsen, C-505/14, EU:C:2015:742, Rn 34).

44 Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl in diesem Sinne Urteile vom 15.4.2008, Impact, C-268/06, EU:C:2008:223, Rn 100, und vom 15.1.2014, Association de médiation sociale, C-176/12, EU:C:2014:2, Rn 39).

45 Wenn eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, ist das nationale Gericht verpflichtet, das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen, indem es notfalls jede Bestimmung unangewendet lässt, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde (vgl in diesem Sinne Urteil vom 18.12.2007, Frigerio Luigi & C., C-357/06, EU:C:2007:818, Rn 28).

46 Wenn das nationale Recht unter Verstoß gegen das Unionsrecht eine unterschiedliche Behandlung von mehreren Personengruppen vorsieht, haben die Angehörigen der benachteiligten Gruppe Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Betroffenen. Die für die Angehörigen der bevorzugten Gruppe geltende Regelung bleibt, solange das Unionsrecht nicht richtig durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem (vgl in diesem Sinne Urteile vom 26.1.1999, Terhoeve, C-18/95, EU:C:1999:22, Rn 57, vom 22.6.2011, Landtová, C-399/09, EU:C:2011:415, Rn 51, und vom 19.6.2014, Specht ua, C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12, EU:C:2014:2005, Rn 95).

47 Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen und bereits in Rn 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, stehen den Betroffenen bei einem Dienstherrenwechsel innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, zB von einem Land in ein anderes oder von einer Landesverwaltung zur Bundesverwaltung, Ruhegehaltsansprüche zu, die jenen vergleichbar sind, die sie bei ihrem ursprünglichen Dienstherrn erworben hatten. Daher stellt dieser rechtliche Rahmen ein solches gültiges Bezugssystem dar.

48 Dementsprechend müssen deutschen Beamten, die auf ihren Status verzichtet haben, um eine ähnliche Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland auszuüben, ebenfalls Ruhegehalts- bzw Altersrentenansprüche zustehen, die jenen vergleichbar sind, die sie bei ihrem ursprünglichen Dienstherrn erworben hatten.

49 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass es dem nationalen Gericht obliegt, für die volle Wirksamkeit dieses Artikels Sorge zu tragen und den AN in einem Fall, wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, Ruhegehalts- bzw Altersrentenansprüche zuzuerkennen, die jenen von Beamten vergleichbar sind, die trotz eines Dienstherrenwechsels der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit entsprechende Ruhegehaltsansprüche behalten, indem es das innerstaatliche Recht im Einklang mit diesem Artikel auslegt oder, falls eine solche Auslegung nicht möglich ist, entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewendet lässt, um dieselbe Regelung anzuwenden, die für diese Beamten gilt. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Art 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung [...] entgegensteht, nach der eine in einem Mitgliedstaat verbeamtete Person, die auf eigenen Wunsch aus dem Beamtenverhältnis ausscheidet, um eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedsstaat auszuüben, ihre Ansprüche auf Ruhegehalt aus der Beamtenversorgung verliert und in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert wird, wobei die daraus folgenden Altersrentenansprüche niedriger sind als die Ruhegehaltsansprüche.

2. Art 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass es dem nationalen Gericht obliegt, für die volle Wirksamkeit dieses Artikels Sorge zu tragen und den AN in einem Fall, wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, Ruhegehalts- und Altersrentenansprüche zuzuerkennen, die jenen von Beamten vergleichbar sind, die trotz eines Dienstherrenwechsels der ruhegenussfähigen Dienstzeit entsprechende Ruhegehaltsansprüche behalten, indem es das innerstaatliche Recht im Einklang mit diesem Artikel auslegt oder, falls diese Auslegung nicht möglich ist, entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewendet lässt, um dieselbe Regelung anzuwenden, die für diese Beamten gilt. [...]

ANMERKUNG
1.
Das Ausgangsverfahren

Der Kl des Ausgangsverfahrens hatte in den Jahren von 1978 bis 1999 als auf Lebenszeit beamteter Lehrer des Landes Nordrhein-Westfalen ruhegenussfähige Dienstzeiten erworben. Da er in ein Lehrerdienstverhältnis in Österreich wechselte, musste er, den dienstrechtlichen Bestimmungen entsprechend, das Beamtendienstverhältnis auflösen.

Das anzuwendende Recht sieht in diesen Fällen vor, dass an die Stelle der Ruhegenussversorgung des Beamtendienstrechts eine Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung tritt, was im Fall des Kl auch erfolgte. Er hat unstrittig einen Anspruch auf eine Altersrente der Deutschen Rentenversicherung.196

Der Kl beantragte bei Erreichen des gesetzlichen Rentenalters beim Land Nordrhein-Westfalen die Auszahlung des seiner ruhegenussfähigen Dienstzeit entsprechenden Beamtenversorgungsbezuges. Der ehemalige DG lehnte dies unter Verweis auf die anzuwendenden gesetzlichen Regelungen ab und verwies auf den Leistungsanspruch aus der gesetzlichen Rentenversicherung. In der dagegen erhobenen Klage machte der Kl den Verstoß der Nachversicherungspflicht gegen Art 45 AEUV geltend.

Aus den Feststellungen im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Düsseldorf geht hervor, dass der Unterschied zwischen dem Leistungsanspruch aus der gesetzlichen Rentenversicherung und dem, was dem Kl als Ruhegenuss zustünde, € 1.677,51 beträgt. Zwischen dem System der gesetzlichen Rechtenversicherung und dem System der BeamtInnenversorgung bestehen im deutschen Recht erhebliche Unterschiede, die sich aus den Besonderheiten des BeamtInnendienstverhältnisses ergeben. Das BeamtInnenverhältnis orientiert sich grundsätzlich an der umfassenden Verpflichtung des Beamten gegenüber dem Dienstherrn, den eine Alimentationsverpflichtung trifft und am Lebenszeitprinzip, woraus sich die Besonderheiten der Altersversorgung von BeamtInnen ergeben. Mit der Beendigung des BeamtInnenverhältnisses entfallen regelmäßig die besonderen wechselseitigen Verpflichtungen. Um die Altersversorgung in solchen Fällen zu sichern, besteht die Verpflichtung zur Nachversicherung, die den ehemaligen Beamten so stellen soll, als habe er in seiner Dienstzeit in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt.

2.
Das Verfahren vor dem EuGH

Der EuGH zitiert seine gefestigte Rsp, nach der die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit des Versicherten nicht garantieren können, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat sich neutral auf Ansprüche aus den Systemen der sozialen Sicherheit auswirkt. Eine Regelung darf aber nicht dazu führen, dass ein mobiler AN im Vergleich zu Personen, die ihr Erwerbsleben nur in dessen Herkunftsstaat verbracht haben, schlechter gestellt wird (Rz 23 bis 28).

Der EuGH verweist in Rz 29 bis 33 auf seine gefestigte Rsp, nach der Regelungen, die zu einer Behinderung von Grundfreiheiten führen, nur zugelassen werden können, wenn sie einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses in kohärenter und systematischer Weise verfolgen. Das Land Nordrhein-Westfalen machte im Verfahren geltend, dass diese Besonderheiten des Beamtendienstverhältnisses zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes erforderlich seien, dass dies ein legitimes Ziel sei und dass die Regelung über das Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis und die nachfolgende Nachversicherung dieses Ziel in angemessener Weise verfolgen würden und daher gerechtfertigt seien. Der EuGH erspart sich die Prüfung des Allgemeininteresses und lehnt dieses Argument mit der Begründung ab, dass der Verlust großer Teile der Alterssicherung eines ausscheidenden Beamten (Rz 40) nicht in kohärenter Weise mit einer Beschränkung der Freizügigkeit in Übereinstimmung gebracht werden kann. Das Beamtenrecht des Landes Nordrhein-Westfalen sieht vor, dass Ruhegenussansprüche beim Wechsel in ein Dienstverhältnis zu anderen Gebietskörperschaften erhalten bleiben, beim Wechsel in den privaten Sektor oder ins EU-Ausland aber verloren gehen. Der EuGH beurteilt dies als eine weniger beschränkende Regelung, die eine bestimmte Gruppe von öffentlich Bediensteten begünstigt.

Stehen Unionsrecht und nationales Recht im Widerspruch, müssen die nationalen Gerichte und Behörden das anzuwendende Recht unionsrechtskonform auslegen; ist dies nicht oder nur durch eine Auslegung contra legem möglich, müssen die nationalen Gerichte und Behörden Bestimmungen, die eine Personengruppe bevorzugen, auch zugunsten der durch die Regelung benachteiligten Gruppe anwenden (Rz 46). Auf diesem Weg kommt der EuGH zum Ergebnis, dass die Bestimmungen über das Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst und die Nachversicherung in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung ehemals öffentlich Bedienstete benachteiligen, ein Freizügigkeitshindernis darstellen und – bis zu einer Regelung durch den Gesetzgeber – bei Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit unangewendet bleiben müssen.

3.
Zu den österreichischen Bestimmungen

Die im Vorlageverfahren relevanten Regelungen des deutschen Rechts weisen große Ähnlichkeiten zu den österreichischen Bestimmungen auf, die den Übergang von einem „pensionsversicherungsfreien Dienstverhältnis“ iSd § 311 Abs 1 ASVG in ein Beschäftigungsverhältnis im privaten Sektor mit entsprechender Pflichtversicherung oder in ein Beschäftigungsverhältnis im (europäischen) Ausland regeln. Daher ist das vorliegende EuGH-Urteil auch hier von Interesse.

Bei Beendigung des Beamtendienstverhältnisses muss der ehemalige DG nach den Bestimmungen in § 311 ASVG einen Überweisungsbetrag an den Pensionsversicherungsträger leisten. Die Berechnungsgrundlage richtet sich nach dem letzten vollen Monatsentgelt des/der ausscheidenden BeamtIn, auf das bei Vollbeschäftigung Anspruch bestanden hätte; sie ist für Zeiten, in denen gekürzte Bezüge (etwa aufgrund einer Teilzeitbeschäftigung) gezahlt wurden, um den entsprechenden Prozentanteil zu kürzen. Die Berechnungsgrundlage wird mit der sozialversicherungsrechtlichen Höchstbeitragsgrundlage gedeckelt (Abs 6). Für jeden Monat des Dienstverhältnisses, der zur Berechnung des Ruhegenusses heranzuziehen gewesen wäre („ruhegenussfähige Dienstzeit“) müssen 22,8 % der Berechnungsgrundlage als Überweisungsbetrag gezahlt werden (BGBl I 2016/18, in Kraft ab 1.2.2016, vorher 8 %). Der Überweisungsbetrag wird dann ins Pensionskonto nach APG eingetragen und dient in der Folge als Bemessungsgrundlage für die spätere ASVG-Pension.

Es würde einen Kurzbeitrag bei weitem sprengen, auf die Besonderheiten des österreichischen Beam-197tInnenpensionsrechts ausführlicher einzugehen. Für die Zwecke dieses Beitrags muss es ausreichen, darauf zu verweisen, dass die „Harmonisierung“ noch mehrere Jahrzehnte benötigen wird, bis ihr Ziel erreicht ist – die Zusammenführung der BundesbeamtInnen-Pensionen mit den ASVG-Pensionen bei gleichzeitiger Anpassung der DN- und DG-Beiträge auf den Beitragssatz des gesetzlichen Pensionssystems. Es sei auch nur kurz erwähnt, dass die Landesgesetzgebungen den Weg des Bundes bei der Harmonisierung mit noch längeren Übergangsfristen bzw mit erheblichen Anpassungen zugunsten ihrer Beschäftigten nachvollziehen. Zur Begrenzung der finanziellen Verluste, die die volle Anwendung des Pensionskontorechts nach APG für die Pensionen von BundesbeamtInnen bedeutet, wurde ein komplexes System von Verlustdeckelungen eingeführt. Auch die Begrenzung aller Berechnungsgrundlagen für BeamtInnenpensionen auf die ASVG-Höchstbeitragsgrundlage erfolgt erst am Ende des Harmonisierungsprozesses. Bis dahin zahlen BundesbeamtInnen und ihre DG höhere Pensionsbeiträge, Aktive und PensionistInnen müssen Pensionssicherungsbeiträge leisten und die Berechnungsgrundlagen für Pensionen sind nicht gedeckelt (ausgenommen jene Fälle, in denen für ab 1955 und vor 1975 Geborene, vor 2005 ins Beamtenverhältnis übernommene Personen ab 2005 in Teilen der BeamtInnen-Parallelrechnung das Pensionskonto aufzubauen und für die spätere Pensionsbemessung heranzuziehen ist). Daraus resultieren trotz der Anhebung von Durchrechnungszeiträumen und langsamer Absenkung der Pensionsbeiträge im Rahmen der Pensionsharmonisierung jetzt und wohl noch für längere Zeit höhere Pensionen als sie BundesbeamtInnen mit denselben Versicherungszeiten im gesetzlichen Pensionssystem erzielen würden; man muss also davon ausgehen, dass der Überweisungsbetrag ebenso finanzielle Verluste bei der Altersversorgung nach sich ziehen wird wie die Nachversicherung im deutschen Recht.

Der EuGH hat klargestellt, dass der entschiedene Sachverhalt nur aufgrund seiner grenzüberschreitenden Elemente zur Vorabentscheidung vorgelegt werden konnte und zeigt auf, wie BeamtInnenpensionsrechte in Fällen anzuwenden wären, die parallel zum hier entschiedenen Sachverhalt laufen. Der EuGH hat es im Rahmen seiner Zuständigkeiten den nationalen Gerichten und Behörden vorbehalten, darüber zu entscheiden, wie eine allfällige Differenz zwischen dem aus der ruhegenussfähigen Dienstzeit resultierenden Versorgungsanspruch und der auf Basis der Nachversicherung bzw des Überweisungsbetrags berechneten gesetzlichen Pension in jenen Fällen zu begleichen wäre, in denen der/die ehemalige BeamtIn eine Beschäftigung im EU-Ausland aufgenommen hat. Er hat aber keinen Zweifel daran gelassen, dass bei Vorliegen einer Differenz in der Anspruchshöhe eine finanzielle Abgeltung erfolgen muss.

Bei rein innerstaatlichen Sachverhalten kann das Argument des EuGH nicht greifen, dass der finanzielle Verlust durch die Nachversicherung/Überweisung ins gesetzliche Pensionssystem ein Hindernis für die AN-Freizügigkeit darstellt. Sollten aber der Gesetzgeber oder die Gerichte des öffentlichen Rechts solche Ansprüche in grenzüberschreitenden Sachverhalten anerkennen (und es wird ihnen auf der Grundlage dieser EuGH-E keine andere Wahl bleiben), dann stellen sich in weiterer Folge rechtliche Fragen danach, ob nicht auch in Fällen rein innerstaatlicher Sachverhalte bei einem Wechsel zwischen öffentlichem Dienst und privatem Sektor Pensionsverluste unter dem Titel des Sachlichkeitsgebots ausgeglichen werden müssten, da sonst eine sachlich wohl nicht gerechtfertigte Bevorzugung von Personen erfolgen würde, die ihr Recht auf AN-Freizügigkeit in der EU ausüben. Auch dieser Aspekt kann hier nur erwähnt und nicht weiter ausgeführt werden.198