Leonhard/Steinmetz (Hrsg)Semantiken von Arbeit. Diachrone und vergleichende Perspektiven

Böhlau Verlag, Köln 2016, 413 Seiten, gebunden, € 60,–

ANDREASRAFFEINER (BOZEN)

In seiner Einleitung erklärt das Herausgeberduo Leonhard und Steinmetz den für unser Leben so aktuellen und semantischen Zeitenwandel, eine Auflösung unterteilter Bedeutungsreferenzen und eine vernetzte Verschränkung von Produktionsprozessen. Diese ergeben ungleiche Arbeitskulturen und -strukturen in einem engmaschigeren Beziehungsgeflecht. Durch einen mehr als überstrapazierten Gebrauch des Begriffs „Arbeit“ geht die Überlegenheit verloren. Dadurch verschwimmt die frühere Isolierung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit immer mehr. Aus diesem Grund sinkt die Hoffnung, die Semantiken der Arbeit mit politischen Augen anzusehen. Einen Einblick in die semantische Pluralisierung des Begriffs, seine Entgrenzung und die Verlagerung ins Objektive des „unternehmerischen Selbst“ bieten die Texte von Süß und Bröckling im zu rezensierenden Werk.

Das gestellte Gutachten kann nicht folgenlos für die historisch-semantische Untersuchung bleiben. Die Auflösungserscheinungen und Entgrenzungen stellen die Schilderungen über Arbeit in Frage, wie sie in Conzes Text im Nachschlagewerk „Geschichtliche Grundbegriffe“ überwiegen, und lassen eine Neuvermessung des Fachs unumgänglich erscheinen. Im Hinblick auf die Kontingenzerfahrungen der Jetztzeit und eines unbeherrschbaren Erwartungshorizonts in Bezug auf herannahende Strömungen richtet sich der Blick auf den epochalen Erfahrungsraum. Dort suchen die Autoren keineswegs nach einer neuen Wahrnehmung der Erzählung, sondern nach Knotenpunkten, Beständigkeiten und Brüchen in einem semantischen Netz. Diese überlieferte Semantik lässt sich als eine Problemgeschichte der Gegenwart erfassen, wie sie Hockerts entworfen hat.

Um das Beziehungsgeflecht zu begreifen und aufzulösen, bedarf es eines spracharchäologischen Handwerkszeugs. Von der älteren Begriffsgeschichte wollen sich die Herausgeber durch den Umfang ihres Ansatzes unterscheiden. Sie lehnen die auf den Begriff hin gerichtete Analyse ab. Stattdessen schlagen sie eine große Begriffsgeschichte zur Untersuchung von Wortbedeutungslehren vor.

Erstens soll der Untersuchungszeitraum ausgeweitet werden. Diese Öffnung entspricht der Anforderung nach einer Geschichtsschreibung der longue durée, wie sie in den letzten Jahren immer wieder verständlich wurde. Der angenehm lesbare Sammelband trägt dem Rechnung, indem er von der früheren Zentrierung begriffshistorischer Forschung auf die „Sattelzeit“ um 1800 abrückt und eine Epoche vom Frühmittelalter bis ins späte 20. Jahrhundert einbezieht. Daher verschieben sich Werte, es tauchen neue Kontinuitäten und Brüche auf und das Bild wird abwechslungsreicher. Es hat bestimmt seine Anziehungskraft, Kuchenbuchs Beitrag über die Semantiken von Arbeit in der Regel Benedikts aus dem 6. Jahrhundert oder Ehmers Auflösung der Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts neben Beiträgen zum 19. und 20. Jahrhundert zu sehen. Noch interessanter wäre es, wenn die Gewichtung der gesammelten Abhandlungen nicht so augenfällig zu Gunsten der letztgenannten Epoche ausgefallen wäre. So erscheint es leider wie ein mediävistisch-frühneuzeitliches Feigenblatt – der Dialog über Epochengrenzen hinweg bleibt im Ansatz stecken.

Zweitens verlassen die fundiert und sauber recherchierten Beiträge den engen räumlichen Bezugsrahmen der nationalen und europazentrierten Geschichtsschreibung und folgen so dem schon länger erkennbaren Trend hin zu einer internationaleren, zunehmend weltumspannenden Perspektive in der geschichtlichen Analyse. Gezielt werden ungleiche Sprachräume und Kulturkreise einbezogen. Seibert befasst sich in ihrem Artikel beispielsweise mit der Lohnarbeit im kolonialen Kongo, Schulze untersucht Arbeit als Forschungsgegenstand der arabischen Sozialgeschichte, und Shimada betrachtet die überlieferte Entstehung von Arbeitsbegriffen im Japan des 20. Jahrhunderts. In allen drei Beiträgen wird nicht nur die historische Semantik innerhalb eines anderen soziokulturellen und sprachlichen Bezugsrahmens analysiert. Vielmehr geraten auch Transferprozesse in den Blick. Shimada skizziert etwa die Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte englisch- und französisch-, später auch deutschsprachiger Texte in Japan. Das sind aussichtsreiche Ansätze, von denen man gern mehr hören und lesen würde.

Drittens zeigen die Texte eine eindrucksvolle methodisch-disziplinäre Breite, die gegenüber der älteren Begriffsgeschichte einen großen analytischen Gewinn bringt. Diese Öffnung führt dessen ungeachtet nicht zu Beliebigkeit. Was die hier schreibenden Forscher verbindet, ist der aufmerksame Blick auf das Situative des Sprachgebrauchs, auf die anschauliche Praxis der Verständigung. Die Herausgeber sprechen von „concepts in action“. Ein mehr als gelungenes Beispiel dafür ist Neuheisers Gegenüberstellung der Wertewandelsdebatte der 1970er-Jahre und der darin enthaltenen neuen Semantiken der Arbeit mit der Sprache der betrieblich-gewerkschaftlichen Praxis in einem Daimler-Benz-Werk. Der sozialwissenschaftlich befeuerten, politisch aufgeladenen Expertendebatte mit ihrem Credo einer postmaterialistisch geprägten Arbeits- und Lebenswelt stellt Neuheiser das relativ bodenständige Arbeitsethos der Menschen im Daimler-Werk gegenüber; offensicht-323lich wird auf diese Weise eine große Zäsur zwischen wissenschaftlichen Denkspielen und sozialer Praxis. An der Werkbank in Untertürkheim, so urteilt der Autor abschließend, „finden sich in den siebziger Jahren jedenfalls keine Hinweise auf einen fundamentalen Wertewandel und eine dramatische Veränderung in den Einstellungen der Belegschaft zur Arbeit“.

Einige, den positiven Gesamteindruck keinesfalls schmälernde Einsprüche seien gestattet: Erstens räumt Neuheiser ein, dass die Gruppe klein ist. Nicht nur, dass sie aus einem Werk stammt – es sind nicht einmal die Angestellten desselben Unternehmens mit im Blick. Dem Autor ist beizustimmen, dass hier mehr Forschung notwendig wäre. Zweitens befanden sich die Arbeiter im Daimler-Werk Untertürkheim in einem stabilen Umfeld. Schließlich drittens: Dass in einer Zeit, in der Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auseinanderdriften, alte Denkmuster eine Hochkonjunktur haben, können wir nicht zuletzt in unserer Gegenwart erkennen. Solche Beharrungstendenzen lassen sich befolgen, wenn wie im Fall der Glasgower Hafen- und Werftarbeiter die Personen keineswegs nur ihre Arbeit verloren, sondern der ganze Zweig Schiffbruch erlitt.

Das Beispiel zeigt, dass die Analyse geschichtlicher Semantiken nie in der Untersuchung stecken bleiben darf. Man sollte den Herausgebern folgen und „in die konkrete Geschichte von Arbeit integriert werden“. Die Artikel bieten Ausgangspunkte für neue Fragen. Die Prüfung überlieferter Wortbedeutungslehren nach Leonhard und Steinmetz steht am Beginn eines epochalen Weges. Wird die Vorgabe schlüssiger umgesetzt, kann ein guter Versuch zur Historisierung der Wortbedeutungslehren des letzten Jahrhunderts entstehen.