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Betriebsübergang – Konkursausnahme greift nur bei vollständiger Betriebsliquidation

MARGITMADER
Art 3 bis 5 der RL 2001/23/EG (Betriebsübergangs-RL)
EuGH 22.6.17, C-126/16, Federatie Nederlandse Vakvereniging ua gegen Smallsteps BV
AUSGANGSVERFAHREN UND VORLAGEFRAGEN

Bis zu ihrem Konkurs war die Estro Groep BV (im Folgenden: Estro‑Gruppe) das größte Unternehmen für Kinderbetreuung in den Niederlanden. Sie unterhielt etwa 380 Einrichtungen und beschäftigte rund 3.600 AN. Ab November 2013 war absehbar, dass die Estro‑Gruppe ohne zusätzliche Finanzierung ihren Zahlungsverpflichtungen im Sommer 2014 nicht mehr würde nachkommen können. Auf der Suche nach einer solchen Finanzierung führte die Estro‑Gruppe zunächst mit ihren größten Geldgebern und Anteilseignern sowie mit weiteren Investoren Gespräche, um neue Finanzmittel zu erhalten. Diese Gespräche blieben jedoch erfolglos. Parallel zu diesen Verhandlungen arbeitete die Estro‑Gruppe einen alternativen Plan aus. Dieser sah einen Neustart eines wesentlichen Teils der Estro‑Gruppe im Anschluss an ein Pre-pack vor. Dieser Neustart sollte auf der Grundlage erfolgen, dass 243 Einrichtungen von 380 wiedereröffnet, etwa 2.500 Arbeitsplätze von insgesamt rund 3.600 erhalten und die Dienstleistungen in allen Einrichtungen im Juli 2014 fortgeführt werden.

Seit 2012 greifen mehrere niederländische Gerichte auf das Pre-pack zurück. Es handelt sich dabei um ein Geschäft über das Aktivvermögen, das vor der Konkurseröffnung zusammen mit dem von einem Gericht bestellten Verwalter in spe („beoogd curator“, „in Aussicht genommener Verwalter“) vorbereitet und von diesem unmittelbar nach der Konkurseröffnung vollzogen291wird. Im Rahmen dieses Pre-pack wird von dem Gericht auch ein Konkursrichter in spe bestellt. Bisher sind weder die Vorbereitungsphase noch das Pre-pack als solches in den Niederlanden Gegenstand einer gesetzlichen Regelung; sie haben sich ausschließlich in der Praxis herausgebildet.

Am 5.6.2014 beantragte die Estro‑Gruppe bei der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) die Bestellung eines Verwalters in spe. Dieser wurde am 10.6.2014 bestellt. Am 20.6.2014 wurde Smallsteps gegründet, die einen Großteil der Kindertagesstätten der Estro‑Gruppe übernehmen sollte. Am 4.7.2014 stellte die Estro‑Gruppe bei der Rechtbank Amsterdam einen Antrag auf Zahlungsaufschub. Am 5.7.2014 wurde dieser Antrag in einen Antrag auf Eröffnung des Konkurses umgewandelt, der am selben Tag eröffnet wurde. Ebenfalls am 5.7.2014 wurde ein Pre-pack zwischen dem Verwalter und Smallsteps unterzeichnet, wonach Letztere rund 250 Einrichtungen erwarb und sich verpflichtete, etwa 2.600 Beschäftigten der Estro‑Gruppe am Tag der Konkurseröffnung einen Arbeitsplatz anzubieten. Am 7.7.2014 entließ der Verwalter alle AN der Estro‑Gruppe. Rund 2.600 AN, die zuvor bei der Estro‑Gruppe beschäftigt waren, wurde von Smallsteps ein neuer Arbeitsvertrag angeboten, während mehr als 1.000 letztlich entlassen wurden.

Die Federatie Nederlandse Vakvereniging (FNV) als zuständige Gewerkschaft und vier weitere Mitkl, die in von Smallsteps übernommenen Einrichtungen tätig waren, denen jedoch nach der Eröffnung des Konkurses über das Vermögen der Estro‑Gruppe keine neuen Arbeitsverträge angeboten wurden, erhoben bei dem vorlegenden Gericht Klage auf Feststellung, dass die RL 2001/23 auf das zwischen der Estro‑Gruppe und Smallsteps vereinbarte Prepack anwendbar und somit davon auszugehen sei, dass die erwähnten vier Mitkl nun von Rechts wegen zu unveränderten Arbeitsbedingungen für Smallsteps arbeiteten. Die Rechtbank Midden-Nederland (Gericht der zentralen Niederlande) beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob die RL 2001/23 – und insb ihr Art 5 Abs 1 – dahin auszulegen ist, dass der in den Art 3 und 4 dieser RL gewährleistete Schutz der AN in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens aufrechterhalten wird, in der der Übergang eines Unternehmens im Anschluss an eine Konkurseröffnung im Zusammenhang mit einem Pre-pack stattfindet, das vor der Konkurseröffnung vorbereitet und unmittelbar danach vollzogen wird und in dessen Rahmen ua ein von einem Gericht bestellter Verwalter in spe die Möglichkeiten für eine etwaige Fortführung der Tätigkeiten dieses Unternehmens durch einen Dritten prüft und sich darauf vorbereitet, kurz nach der Konkurseröffnung Handlungen vorzunehmen, um diese Fortführung zu verwirklichen. Weiters ist fraglich, ob es für die Beurteilung dieser Frage darauf ankommt, dass das Pre-pack sowohl auf die Fortführung der Geschäftstätigkeit des in Rede stehenden Unternehmens als auch auf die Maximierung des Erlöses aus der Übertragung für die Gesamtheit der Gläubiger dieses Unternehmens abzielt.

Unter bestimmten Voraussetzungen sieht Art 5 Abs 1 der RL 2001/23 Ausnahmen von der Schutzregelung in den Art 3 und 4 vor, sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen. Diese Bestimmung ist jedoch eng auszulegen (vgl zu Art 3 Abs 3 der RL 77/187 in der durch die RL 98/50 geänderten Fassung, EuGH 4.6.2002, C-164/00, Beckmann, EU:C:2002:330, Rn 29). Die Niederlande haben keine abweichende Regelung vorgesehen.

Folglich ist Art 5 Abs 1 der RL 2001/23, soweit er eine Abweichung von der Schutzregelung für AN erlaubt, auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar, jedoch nur unter der Bedingung, dass das betreffende Verfahren die in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen erfüllt.

In diesem Zusammenhang ist in Art 5 Abs 1 der RL 2001/23 kumulativ vorgesehen, dass gegen den Veräußerer ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes (Insolvenz-)Verfahren eröffnet worden sein muss. Außerdem muss dieses Verfahren unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet worden sein.

Im vorliegenden Fall ist das Pre-pack zwar vor der Konkurseröffnung vorbereitet, aber erst danach vollzogen worden. Ein solcher Vorgang, der tatsächlich einen Konkurs impliziert, kann daher unter den Begriff „Konkursverfahren“ iS von Art 5 Abs 1 der RL 2001/23 fallen.292

Art 5 Abs 1 der RL 2001/23 verlangt, dass das Konkursverfahren oder das entsprechende (Insolvenz-)Verfahren zum Zweck der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet worden sein muss, um eine möglichst hohe kollektive Befriedigung der Gläubiger zu erreichen. Ein Verfahren, das auf die Fortführung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens abzielt, erfüllt diese Voraussetzung nicht (vgl in diesem Sinne EuGH 25.7.1991, C-362/89, d’Urso ua, EU:C:1991:326, Rn 31 und 32, sowie EuGH7.12.1995, C-472/93, Spano ua, EU:C:1995:421, Rn 25). Ein Verfahren zielt dann auf die Fortführung der Geschäftstätigkeit ab, wenn es primär auf die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Unternehmens oder der bestandsfähigen Unternehmenseinheiten gerichtet ist.

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass ein Pre-pack wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verfahren die Übertragung des Unternehmens im Detail vorbereiten soll, um einen schnellen Neustart bestandsfähiger Unternehmenseinheiten nach der Konkurseröffnung zu ermöglichen, in dem Bestreben, den Bruch, der sich aus einer abrupten Beendigung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zum Zeitpunkt der Konkurseröffnung ergäbe, zu verhindern, und damit den Unternehmenswert und die Arbeitsplätze zu erhalten. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass dieser Vorgang letztlich nicht auf die Liquidation des Unternehmens abzielt und sich mit dessen wirtschaftlichen und sozialen Zweck weder erklären noch rechtfertigen lässt, dass die Beschäftigten des betroffenen Unternehmens bei dessen völligem oder teilweisem Übergang jene Rechte verlieren sollen, die ihnen die RL 2001/23 zuerkennt (vgl entsprechend EuGH 7.12.1995, C-472/93, Spano ua, EU:C:1995:421, Rn 28 und 30).

Daraus folgt, dass ein derartiger Vorgang, der das primäre Ziel hat, das insolvente Unternehmen zu erhalten, nicht unter Art 5 Abs 1 der RL 2001/23 fallen kann.

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass das in Art 5 Abs 1 der RL 2001/23 genannte Verfahren unter der Aufsicht einer öffentlichen Stelle stehen muss, und die Phase eines Pre-pack, die der Konkurseröffnung vorausgeht, keine Grundlage in den fraglichen nationalen Rechtsvorschriften hat. Dieser Vorgang wird nicht unter der Aufsicht des Gerichts, sondern durch die Unternehmensleitung durchgeführt, die die Verhandlungen führt und die Entscheidungen zur Vorbereitung des Verkaufs des insolventen Unternehmens trifft. Auch wenn der Verwalter in spe und der Konkursrichter in spe wie hier im Anlassfall vom Gericht auf Antrag des insolventen Unternehmens bestellt werden, stehen ihnen formell keine Befugnisse zu. Sie unterliegen auch keiner Aufsicht durch eine öffentliche Stelle. Daher kann diese Vorgehensweise nicht der in Art 5 Abs 1 der RL 2001/23 genannten Voraussetzung der Aufsicht durch eine solche Stelle genügen.

Daraus ergibt sich, dass ein Pre-pack wie das im Ausgangsverfahren vorliegende nicht alle in Art 5 Abs 1 der RL 2001/23 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt und daher von der Schutzregelung in den Art 3 und 4 dieser RL nicht abgewichen werden kann.

Die RL 2001/23 – und insb ihr Art 5 Abs 1 – ist demnach dahin auszulegen, dass der in den Art 3 und 4 dieser RL gewährleistete Schutz der AN in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens aufrecht bleibt.

Die sogenannte „Konkursausnahme“ kommt somit nicht zur Anwendung. Die Arbeitsverträge gehen auf den Erwerber über.