Die „Einführung“ der Sozialversicherung im Lande Österreich – Sozialversicherung vor und nach dem „Anschluss“*
Die „Einführung“ der Sozialversicherung im Lande Österreich – Sozialversicherung vor und nach dem „Anschluss“*
Historisch eng verzahnt ist die Entwicklung der SV in Deutschland und Österreich. Beide gelten auf diesem Gebiet als Pionierländer. Bei beiden war die Hauptmotivlage auch die gleiche, nämlich die Integration der neuen Gesellschaftsgruppe des Fabriksarbeiters, um ihn der revolutionären Arbeiterbewegung zu entziehen.* Im Deutschen Reich wurde 1883 das Gesetz betreffend die KV der Arbeiter verabschiedet, 1884 ein Unfallversicherungsgesetz und 1889 das Gesetz betreffend die Alters- und Invaliditätsversicherung. In Österreich wurde 1887 das Arbeiter-Unfallversicherungsgesetz (RGBl 1888/1) verabschiedet, 1888 das Arbeiter-Krankenversicherungsgesetz (RGBl 1888/33). Ein Alters- und Invalidenversicherungsgesetz wurde in Österreich jedoch nicht beschlossen. 1906 folgte ein Pensionsversicherungsgesetz für die Angestellten (RGBl 1907/1). Dieses war auch politisch gewollt eine Bevorzugung der Angestellten gegenüber den Arbeitern. Auch inhaltlich lehnten sich die österreichischen Sozialversicherungsgesetze an den deutschen an.*
Beide Länder sind klassische Vertreter des sogenannten „Bismarck-Modells“ (benannt nach dem Schöpfer des gesetzlichen Sozialversicherungssystems im Deutschen Reich, Reichskanzler Otto von Bismarck) des Sozialstaates; eines Systems von SV, das auf Beitragsfinanzierung der AG und der AN (mit Zuschüssen des Staates, in Deutschland von Beginn und bewusst so gewollt, in Österreich zu Beginn vehement abgelehnt) und auf Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger unter staatlicher Aufsicht basiert.
Eine wesentliche Reform des österreichischen Sozialversicherungsrechts erfolgte in den Jahren 1926 bis 1928, nachdem sich die bürgerliche Regierung Seipel entschlossen hatte, die SV nach Berufsgruppen zu gliedern. Die Idee dahinter war einerseits, die SV den Versicherten näherzubringen. Ein zweiter Grund war laut der Regierungsvorlage das Bestreben von Verwaltungseinsparungen. Letztlich war die Maßnahme aber Teil der „Mittelstandpolitik“ der Regierung, der Bevorzugung des Mittelstands,* auch vor dem Hintergrund der Nationalratswahl von 1927.
Es entstanden in der Folge das Angestelltenversicherungsgesetz (BGBl 1926/366), das Arbeiterversicherungsgesetz (BGBl 1927/125) und das Landarbeiterversicherungsgesetz (BGBl 1928/235). Das Arbeiterversicherungsgesetz wurde jedoch bis auf die Altersfürsorge nicht wirksam, da sein Inkrafttreten an eine sogenannte „Wohlstandsklausel“* gebunden war; wirtschaftliche Parameter, die bis zum Ende des selbständigen Österreich nicht erfüllt werden sollten. Somit blieben das Arbeiter-Kranken- und das Arbeiter-Unfallversicherungsgesetz in der jeweiligen Fassung in Kraft. Die Alters- und Invalidenversicherung im Landarbeiterversicherungsgesetz war wiederum an das Inkrafttreten des Arbeiterversicherungsgesetzes gebunden,* trat also auch nicht in Wirksamkeit.
Eine zweite große Zäsur erfolgte mit dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz (GSVG) vom 30.3.1935 (BGBl 1935/107). Dieses Gesetz fasste70die drei klassischen Sozialversicherungszweige für die Arbeiter und Angestellten (mit Ausnahme der Landwirtschaft, der Bundesangestellten, der Notare und der Eisenbahner) in einer gesetzlichen Regelung zusammen. Das Gesetz war einerseits ideologisch geprägt vom autoritären System der Regierung Schuschnigg und andererseits Ergebnis der Reformbestrebungen, um die SV nach der Wirtschaftskrise wieder in finanzielles Gleichgewicht zu bringen. Die Wirtschaftskrise hatte durch hohe Arbeitslosigkeit zu sinkenden Beitragszahlungen und damit zu einer finanziellen Schieflage bei den Sozialversicherungsträgern geführt. Das Gesetz war also eigentlich ein Provisorium, das nach fünf Jahren überprüft werden sollte. Dazu sollte es dann freilich nicht mehr kommen.
Nachdem nach Überzeugung der Regierung Beitragserhöhungen und auch Staatszuschüsse ausgeschlossen waren, war das Gesetz vor allem von Leistungskürzungen geprägt. Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter wurde auch mit diesem Gesetz nicht in Wirksamkeit gesetzt – das war auch gar nicht mehr angestrebt. Die wesentlichen Leistungskürzungen waren: Das Krankengeld für Angestellte wurde um 20 % gekürzt, außerdem erhielten die Angestellten kein Krankengeld mehr, solange sie ihr Entgelt weiter bezogen. Auch gab es eine viertägige Karenzzeit beim Bezug des Krankengeldes. Statutarische Mehrleistungen in der KV wurden mit dem Gesetz untersagt. Auch der Kreis der anspruchsberechtigten Familienmitglieder wurde eingeschränkt.
Gekürzt wurde mit dem GSVG auch die Unfallrenten. Vollrenten bei den Angestellten wurden von 70 % auf 60 % der Bemessungsgrundlage gekürzt, die Unfallrenten der Arbeiter bei weniger als 50 % Erwerbsminderung wurden um 10 % gekürzt.
In der PV wurde der Grundbetrag von 35 % auf 30 % gesenkt; auch der Steigerungsbetrag wurde verändert. Das GSVG regelte schließlich auch die AlV. Es kürzte diese und kürzte damit auch die Altersfürsorgerente der Arbeiter, die sich über die AlV definierte.
Die wesentlichste Verbesserung des GSVG war, dass die UV auch bei den Arbeitern von einer Betriebsversicherung zur Personenversicherung wurde und alle krankenversicherungspflichtigen Arbeiter einschloss.
Eine wesentliche Änderung des GSVG, die Auswirkungen bis heute hat, war schließlich die Einführung der „abgeleiteten“ Selbstverwaltung; die Mandate der Selbstverwaltungskörper wurden nicht mehr per Wahl der Versicherten ermittelt, sondern von den gesetzlichen Interessenvertretungen in die Gremien beschickt. Die Sozialversicherungsmandate der sozialdemokratischen Versichertenvertreter waren ohnehin nach den Februarereignissen aberkannt worden. Die Selbstverwaltung in der SV wurde von der autoritären Regierung Dollfuß de facto liquidiert.
Zwar wurden mit der II. Novelle des GSVG* einige Erleichterungen und Leistungsverbesserungen geschaffen, dieses Gesetz, am 1.1.1938 in Kraft gesetzt, konnte aber keine Wirkung mehr entfalten.
Die erste Maßnahme der nationalsozialistischen Machthaber auf sozialversicherungsrechtlichem Gebiet war die Einführung der Rentenversicherung der Arbeiter „nach reichsrechtlichen Grundsätzen“ am 26.3.1938.* Damit erhielten die Arbeiter eine Invaliden- und Altersversicherung. Die Verantwortlichen konnten sich durch den Rückgang der Arbeitslosen, und damit der Ausgaben für sie, die Einführung der Invalidenversicherung leicht leisten. Dies wäre ursprünglich auch der Plan der österreichischen Regierung gewesen. Nur kam es nie zu einem Rückgang der Arbeitslosenkosten. Die Arbeitslosenbeiträge von 6,5 % für Arbeiter und 4 % für Angestellte wurden nicht reduziert, sondern deren Überschüsse für die Invalidenversicherung abgeschöpft.*) Freilich muss auch bedacht werden, wie die Arbeitslosigkeit bekämpft wurde; nämlich mit Investitionen in die Rüstung und Vorbereitung auf den Krieg.
Was eine große propagandistische Inszenierung des Regimes war, erwies sich in der Praxis allerdings als eher dürftig. Teilweise lagen die Invalidenrenten nach deutschem Reichsrecht unter den Altersfürsorgerenten nach österreichischem Recht. Wer 20 Jahre österreichische Vordienstzeiten nachweisen konnte, erhielt eine monatliche Invalidenrente von 28,50 RM (Reichsmark), nach den Bestimmungen der Altersfürsorgerente nach dem GSVG 1938 hätte derselbe Arbeiter je nach Beitragsklasse und Satz zwischen 26,60 RM und 34,60 RM erhalten.* Die geringe Höhe der Renten hatte ihren Grund darin, dass österreichische Vordienstzeiten nur im geringen Ausmaß anerkannt wurden.* Durch die Einführung der knappschaftlichen PV wurden die Leistungen verbessert.*
Überdies galten die Renten nur für Versicherungsfälle nach dem 31.12.1938. Für jene davor blieben die Altersfürsorgerenten aufrecht. Allerdings gab es für die Hinterbliebenen dieser Versicherten im Unterschied zum österreichischen Recht nun auch Witwen-, Witwer- und Waisenrenten.* Immerhin gab es damit auch eine Invalidenrente. Und es gab eine Versicherungsleistung, auf die der Versicherte einen Rechtsanspruch hatte71und keine Fürsorgeleistung, deren Gewährung an eine Bedürftigkeitsprüfung geknüpft war.*
Nach dem „Anschluss“ im März 1938 wurde in Österreich mit der sogenannten „Einführungsverordnung“ (EVO) vom 22.12.1938 mit Geltung ab 1.1.1939 das reichsdeutsche Sozialversicherungsrecht eingeführt.
Konkret war dies:
die Reichsversicherungsordnung aus dem Jahr 1911 (sie vereinte die Bestimmungen über die KV, UV und Invalidenversicherung),
das Angestelltenversicherungsgesetz von 1924,
das Reichsknappschaftsgesetz von 1926 und
das Gesetz über Arbeitsvermittlung und AlV von 1927.*
Diese Gesetze wurden jedoch nicht vollständig eingeführt. Vielmehr bestimmte § 2 der „EVO“, dass die Versicherungspflicht nach österreichischem Recht bestehen bleiben sollte, wo sie über das reichsdeutsche Recht hinausging.* So kannte etwa das österreichische Recht keine Versicherungsobergrenze. Die UV hingegen war in Österreich mit dem GSVG auch für die Arbeiter eine Personenversicherung geworden, in Deutschland war sie nach wie vor eine Betriebsversicherung. Dies änderte sich erst mit dem 6. Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942.* Damit wurde die allgemeine Unfallversicherungspflicht, die in Österreich schon seit dem GSVG bestanden hatte, übernommen. Die Versicherung wurde zur Personenversicherung.* Durch das System der Betriebsversicherung wurden alle landwirtschaftlichen Betriebe in die UV einbezogen – auch die selbständigen Bauern und deren Familienangehörige.* In Wien, Niederösterreich und Burgenland waren diese bereits seit 1928 in die UV einbezogen.
Die Landkrankenkassen konnten nach § 5 Abs 4 der EVO bis zum 31.12.1944 die Leistungen und Beiträge abweichend vom Reichsrecht regeln, was de facto bedeutete, dass sie mit den alten Satzungen weiterarbeiten konnten.*
Folgende Änderungen brachte das reichsdeutsche Sozialversicherungsrecht in organisatorischer Hinsicht.
Die Gebietskrankenkassen wurden in „Allgemeine Ortskrankenkassen“ umbenannt; die Angestelltenkrankenkassen wurden aufgelassen und als eine Sektion in die „Allgemeinen Ortskrankenkassen“ übergeführt. Auch die Angestellten in der Land- und Forstwirtschaft wurden in diesen Kassen erfasst. Die Zusammenlegung von Arbeiter- und Angestelltenkrankenkassen war nach 1945 ein wesentliches Argument, warum man nicht zum österreichischen Sozialversicherungsrecht vor 1938 zurückging.
Die Landwirtschaftskrankenkassen wurden in „Landkrankenkassen“ umbenannt.
Die Genossenschaftskrankenkassen wurden in „Innungskassen“ umbenannt.
Die Betriebskrankenkassen blieben.
Die österreichischen Krankenkassen wurden gemeinsam mit den in Deutschland bestehenden zu vier in Berlin bzw Essen bestehenden Reichsverbänden zusammengefasst.
Die österreichischen Unfallversicherungsträger wurden auf die Vielfalt von Berufsgenossenschaften nach deutschem Recht aufgeteilt. Diese waren in zwei in Deutschland ansässige Reichsverbände (je einen für die gewerblichen und für die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften) zusammengefasst. Es wurde die Ostmärkische Eisen- und Metall-Berufsgenossenschaft und die Ostmärkische Baugewerbe-Berufsgenossenschaft geschaffen. Alle übrigen österreichischen Betriebe, die nicht zu einer dieser beiden versicherungszuständig waren, wurden die Berufsgenossenschaften in Deutschland zuständig.
Für die landwirtschaftliche UV schuf man vier Berufsgenossenschaften in Wien, Graz, Linz und Innsbruck. Hinzu kamen vier Gemeinde-Unfallversicherungsverbände in Wien, Linz, Salzburg und Graz, die die Gemeindebetriebe und Haushaltungen zusammenfassten. Träger der Invalidenversicherung wurden die Landesversicherungsanstalten in Wien, Linz, Salzburg und Graz. Träger der PV der Angestellten wurde die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin. Auch die Rentenversicherungsträger waren in einem Reichsverband zusammengeschlossen.*
Die Selbstverwaltung in der SV wurde gänzlich ausgeschaltet und durch das „Führerprinzip“ ersetzt. Ein staatlich eingesetzter Leiter stand an der Spitze des Sozialversicherungsträgers, ihm stand ein Beirat mit beratender Funktion zur Seite. Auch die Schiedsgerichte der SV wurden abgeschafft. An ihre Stelle traten Oberversicherungsämter und das Reichsversicherungsamt.
Mit Erlass vom 30.5.1938 wurde das Ministerium für soziale Verwaltung mit dem Ministerium für Handel und Verkehr zum Ministerium für Arbeit und Wirtschaft vereinigt. Die Agenden des Gesundheitswesens wanderten zum neu gebildeten Innenministerium.*Hugo Jury, der Sozialminister der nationalsozialistischen Regierung Seyß-Inquart vom 12.3.1938, wurde am 9.6.1938 verabschiedet, neuer Leiter des Ministeriums für Arbeit und Wirtschaft wurde Finanzminister Hans Fischböck.* Mit der Auflösung des Landes Österreich als Verwaltungseinheit gingen mit dem Erlass des Reichsarbeitsministeriums vom 30.4.1940 über72die Übertragung von Befugnissen in der Reichsversicherung auf die Reichstatthalter in der Ostmark die Agenden der SV teilweise auf das Oberversicherungsamt in Wien, teilweise auf den Reichsstatthalter und teilweise auf den Reichsarbeitsminister oder sonstige oberste Verwaltungsbehörden des Reichs über.*
In der KV blieben die günstigeren Bestimmungen nach dem österreichischen Recht weitgehend bestehen. So konnten Krankenpflege und Krankengeld weiter bis zu einem Jahr gewährt werden. Nach der Reichsversicherungsordnung lag die Höchstdauer der Krankenhilfe grundsätzlich bei 26 Wochen, die Ausdehnung auf 52 Wochen war nur mit Zustimmung des Oberversicherungsamtes möglich. Die Familienhilfe (also Familienkrankenpflege, Familienwochenhilfe und Familiensterbegeld) erstreckte sich weiters auch, wie im österreichischen Recht, auf Pflegekinder. Die wesentlichste Erweiterung mit der Einführung des deutschen Rechts war die Familienkrankenpflege als Pflichtleistung. Nach dem GSVG war die Familienversicherung lediglich als Satzungsleistung konzipiert.* Außerdem wurde die freie Kassenarztwahl eingeführt, gegenüber dem Sprengelwahlsystem nach österreichischen Bestimmungen.
Eingeführt wurde schließlich auch das reichsdeutsche kassenärztliche System, das vom österreichischen völlig verschieden war.* Die Beziehungen zu den Ärzten wurden nicht in freien Verträgen, sondern im Gesetz geregelt. Die Krankenkassen waren gewissermaßen nur ausführendes Organ. Die wesentliche Organisation war die Kassenärztliche bzw die Kassenzahnärztliche Vereinigung.*
Die UV war nach reichsdeutschem Recht in einigen Punkten fortschrittlicher als das österreichische Recht. So war die Unfallheilbehandlung als Pflichtleistung festgesetzt. Diese war so lange zu gewähren, als eine Besserung der Verletzungsfolgen oder eine Steigerung der Erwerbsfähigkeit erwartet werden konnte. In Österreich war hingegen die UV nur ermächtigt, „das Heilverfahren für die Verletzten durch seine Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt an sich zu ziehen [...] und in die Pflichten und Rechte der Krankenkasse einzutreten
“. Pflichtleistung war nach deutschem Recht auch die Wiederherstellung eines durch einen Unfall beschädigten Körperersatzstückes. Mit 1.1.1939 hatten Unfallversehrte erstmals einen Anspruch auf Berufsfürsorge, dh auf Ausbildung zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbstätigkeit sowie Unterstützung bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Weiter entwickelt war im deutschen Recht auch die Unfallverhütung: Die Unfallversicherungsträger waren verpflichtet, Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen und deren Durchführung zu überwachen.*
Die Pensionen der Angestellten nach dem reichsdeutschen Recht waren niedriger als nach dem österreichischen. Zwar wurde, wenn ein Versicherter nach österreichischem Recht mindestens 60 anrechenbare Beitragsmonate hatte, der Grundbetrag nach österreichischem Recht zum 31.12.1938 berechnet, auch Steigerungsbeträge bis dahin wurden nach österreichischem Recht berechnet, Steigerungsbeträge nach dem 1.1.1939 wurden allerdings nach deutschem Recht berechnet, dessen Steigerungsbeträge niedriger waren.*) Dieses Manko versuchte man durch Einstufung der „Österreicher“ in einer höheren Beitragsklasse zu beheben, was jedoch im Resultat hieß, dass sie für gleiche Leistungen höhere Beiträge bezahlten.*
Die Organisation der SV wurde im Krieg vereinfacht. Mit der ersten und der zweiten Verordnung des Verfahrens der Reichsversicherung wurden die Spruchverfahren vereinfacht und die Rechte der Versicherten beschnitten.* Die Verordnungen zum Lohnabzugsverfahren vereinfachten die Beitragseinhebung. Diese wurde für die KV, Rentenversicherung und AlV zusammengefasst und den Krankenkassen übertragen.*
„Bestechungspolitik“ nennt Karl Teppe die Verbesserungen, die im Krieg eingeführt wurden:
„Die Sorge vor einem Popularitätsverlust und [...] die Furcht vor gesellschaftlichen Konflikten erzwangen sozialpolitische Konzessionen, die in Friedenszeiten für finanziell nicht tragbar und politisch inopportun erklärt worden waren. Insofern besaßen die Vergünstigungen durchaus Züge einer ‚Bestechungspolitik‘ [...].“*
Mit dem Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom 15.1.1941 wurden die Leistungen der KV verbessert. Die Krankenscheingebühr entfiel, Mehrleistungen in der KV wurden wieder zugelassen, wenn sie nicht zu einer Erhöhung der Beiträge führten.* Mit dem Erlass betreffend Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 20.5.1941 wurde die Krankenpflege ohne zeitliche Begrenzung gewährt, auch die Begrenzungen beim Bezug des Krankengeldes wurden weitgehend aufgehoben. Die Familienversicherung wurde ausgebaut: Sie sah für Ehegatten und Kinder die ärztliche73Behandlung zeitlich unbegrenzt vor, Krankenhauspflege wurde bis zu 26 Wochen gewährt.*
Durch das Gesetz über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom 15.1.1941, durch das erste Leistungsverbesserungsgesetz vom 24.7.1941 und den Erlass des Reichsarbeitsministers vom 4.12.1940 wurde ua auch die „ewige Anwartschaft“ wiedereingeführt. Die laufenden Renten der Arbeiter, der Angestellten sowie der knappschaftlichen PV wurden aus Mitteln des Reichs um 7 RM erhöht. Witwenrenten wurden um 5 RM, Waisenrenten um 4 RM erhöht. Für neue Renten wurde der Grundbetrag in der Invalidenversicherung der Arbeiter auf 156 RM, für Angestellte auf 444 RM im Jahr erhöht. Invalidenrentner und Rentner der Angestelltenversicherung wurden in die KV einbezogen. Barleistungen wurden jedoch nicht gewährt.* Mit dem zweiten Gesetz über Leistungsverbesserungen in der Rentenversicherung vom 19.6.1942 wurden ua die Kinderzuschüsse erhöht und es wurde insb die Möglichkeit geschaffen, dass auch geschiedene Ehefrauen eine Witwenrente bekommen konnten. Schließlich wurden auch die Leistungen in der Rentenversicherung im Bergbau erhöht.* Mit der Verordnung über Leistungsverbesserungen in der Rentenversicherung in den Alpen- und Donaureichsgauen vom 10.12.1942 wurden Zusatzrenten für Arbeiter gewährt, mit einer Verordnung vom 12.10.1943 auch für Angestellte.*
Im Krieg galt der Betreuung der Familienmitglieder eingerückter Soldaten ein besonderes Augenmerk. Diese erhielten, obwohl die Beitragspflicht des eingerückten Versicherten ruhte, Leistungen der KV, die zu 80 % vom Reich ersetzt wurden. Die Leistungen der KV wurden umfassend entfristet, so wurde Familienhilfe nun unbefristet gewährt. Rentner im Bergbau sowie Hinterbliebene der Wehrmacht, der Waffen SS, des Arbeitsdienstes und andere Personengruppen wurden in die KV einbezogen. Die Beiträge der Rentner wurden von den Versicherungsanstalten bezahlt.*
Auch die UV wurde an die Kriegsbedingungen adaptiert. Die bei Kriegsaufgaben unter erhöhter Gefahr Eingesetzten sollten die Gewissheit haben, dass sie und ihre Angehörigen versorgt wären. Die Träger der Rentenversicherung organisierten ein „Sozialerholungswerk“.* Detaillierte Pläne für eine Umgestaltung der SV werden im Übrigen unverdrossen bis in den März 1945 ausgearbeitet.*
Auch die Ideologie des Regimes schlug sich in der SV nieder. Die Kosten zur Unfruchtbarmachung zur Verhütung erbkranken Nachwuchses hatte die Krankenkasse zu tragen. Dies mit dem Argument, dass ihr dadurch für die Zukunft erhebliche Kosten erspart blieben. Beamte der SV konnten aus politischen Motiven oder wegen „nichtarischer Abstammung“ entlassen werden. Ebenso wurden „nichtarische“ und politisch missliebige Ärzte von der Kassenpraxis ausgeschlossen. Wer ausgeschlossen war, galt zugleich als „staatsfeindlich“ und hatte damit seine Betätigungsgrundlage als Arzt verloren. Umgekehrt war es „arischen“ Ärzten verboten, Juden zu behandeln. Die Aufnahme in städtische Krankenhäuser wurde Juden verwehrt. Jüdische Ärzte verloren aber 1938 die Erlaubnis zur Berufsausübung.*
Mit dem Rechts-Überleitungsgesetz vom 1.5.1945 wurden alle Gesetze und Verordnungen, die nach dem 13.3.1938 für das Gebiet der Republik Österreich erlassen worden waren, bis zur Neugestaltung der einzelnen Rechtsgebiete als österreichische Rechtsvorschriften in vorläufige Geltung gesetzt,* sofern sie nicht den Bestimmungen des § 1 desselben Gesetzes* zuwiderliefen. Damit blieb das reichsdeutsche Sozialversicherungsrecht vorläufig in Geltung. Die Oberversicherungsämter, die nach dem reichsdeutschen System als Aufsichtsbehörden eingesetzt worden waren, wurden durch das Behörden-Überleitungsgesetz vom 20.7.1945 aufgehoben und die Aufsicht an das Staatsamt für soziale Verwaltung übertragen.*
Endgültig außer Kraft gesetzt wurde das reichsdeutsche Sozialversicherungsrecht erst mit der Schaffung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), das am 1.1.1956 in Kraft trat. Der Weg dorthin war langwierig und geprägt von ideologischen Kämpfen und solchen um Macht und Einfluss. Schließlich ging und geht es in der SV um viel Geld.
Die Frage, warum man nicht einfach zur gesetzlichen Lage vor dem Anschluss zurückkehrte, erklärt sich nicht unwesentlich aus den Veränderungen, die das reichsdeutsche Recht gebracht hatte: Damit war endlich die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter eingeführt worden. Die Krankenkassen der Angestellten und der Arbeiter waren74zusammengeführt worden und nicht zuletzt hatte das deutsche Recht bedeutende Verbesserungen auf dem Gebiet der UV und der KV gebracht, die man nicht mehr rückgängig machen wollte und konnte.*
Ein erster wesentlicher Schritt auf diesem Weg war das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz (SV-ÜG) vom 12.6.1947 (BGBl 1947/142). Mit ihm wurde die Demokratisierung der SV in Form der Selbstverwaltung wiederhergestellt. Man blieb allerdings bei der mit dem GSVG 1935 eingeführten sogenannten „abgeleiteten Selbstverwaltung“; nicht die Versicherten und ihre AG wählten die Mandatare der Sozialversicherungsgremien, sondern diese wurden von den gesetzlichen Interessenvertretungen beschickt. Zweitens wurde mit dem SV-ÜG eine gesetzliche Basis für die Organisation der SV geschaffen. Schließlich wurden mit diesem Gesetz auch die Schiedsgerichte der SV wiedereingeführt. Mit dem ersten Sozialversicherungs-Neuregelungsgesetz vom April 1952* wurde die „ewige Anwartschaft“, die im Krieg eingeführt worden war, beseitigt. Es setzte an ihre Stelle die Dritteldeckung innerhalb der letzten drei Jahre und die Halbdeckung für den Anrechnungszeitraum, wobei dieser frühestens mit 1.1.1939 gerechnet werden sollte. War der Anrechnungszeitraum gedeckt, galten auch die Versicherungszeiten vor dem 1.1.1939. Darüber hinaus gab es zusätzliche Ausnahmebestimmungen. Schon die 7. SV-ÜG-Novelle hatte die Aufhebung aller Bestimmungen über Versicherungsfreiheit, die noch aus der Kriegszeit herrührten, gebracht.* Die Bestimmung, dass eine Rente nicht entzogen werden konnte, wenn jemand eine Beschäftigung aufnahm, wie sie während des Krieges zur Hebung der Kriegsmoral eingeführt worden war, wurde bereits mit der 3. SV-ÜG-Novelle aufgehoben.* Was jedoch blieb und mit dem ASVG noch ausgebaut wurde, sind die Verbesserungen im Leistungsrecht der KV und der UV. Das Pensionsversicherungssystem wurde hingegen im ASVG völlig neu geregelt. Hier ging man zur Idee der Lebensstandardsicherung und zum Muster nach dem österreichischen Angestelltenversicherungsrecht der Zwischenkriegszeit zurück.*
Mit dem „Anschluss“ wurde die Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter eingeführt. Das wird zumeist mit SV im Nationalsozialismus verbunden. Immer auch ein bisschen verschämt, im Nachhinein, dass dies im österreichischen System nicht gelungen war. Es ist zwar wahr, dass mit dem reichsdeutschen Sozialversicherungssystem die Invaliden- und Altersversicherung auch für Arbeiter eingeführt wurde, aber nicht wirklich von großer Bedeutung, da die Renten unzulänglich waren und das Pensionssystem mit dem ASVG völlig neu gestaltet wurde.* Von nachhaltiger Bedeutung waren sicher die Veränderungen im Bereich der KV und der UV, die Ausweitung des Versichertenkreises, die Leistungsverbesserungen und die Unfallverhütung. Nicht zu reden von der organisatorischen Zusammenlegung von Angestellten und Arbeitern in der KV, die ebenso nach 1945 nicht wieder rückgängig gemacht worden ist (Diskussionen darüber hat es noch in den 1950er-Jahren gegeben).
Das österreichische und das deutsche Sozialversicherungssystem hatten die gleichen Wurzeln und waren gleich aufgebaut. Von daher war die Angleichung nicht allzu schwierig. Im organisatorischen Bereich fällt vor allem die Zersplitterung im deutschen Unfallversicherungssystem auf. Im deutschen Reich wurde erst 1942 die Personenversicherung in der UV eingeführt. Das Leistungssystem in der UV war hinwieder weiterentwickelt als in Österreich.
In der KV und in der PV waren die Leistungen wiederum in Österreich besser. Leistungsverbesserungen während des Krieges, vor allem in der KV, blieben auch nach dem Krieg bestehen und wurden in das österreichische Sozialversicherungsrecht, das ASVG übernommen. Auch die organisatorische Zusammenfassung von Angestellten und Arbeitern in der KV wurde übernommen. Insofern hatte das Sozialversicherungsrecht des NS-Systems Einfluss auf die österreichische SV nach 1945. Die PV wurde jedoch nach dem Muster der Angestelltenversicherung in Österreich in der Ersten Republik neugestaltet.75