Verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Mitteilung über den Leistungsanspruch nach § 47 Abs 1 AlVG idF SVÄG 2017

SARAHBRUCKNER (WIEN)
Mit dem Sozialversicherungs-Änderungsgesetz (SVÄG) 2017* wurden einige Bestimmungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AlVG) novelliert. Hinsichtlich der am 1.5.2017 in Kraft getretenen Neuregelung der Mitteilung über den Leistungsanspruch § 47 Abs 1 AlVG bestehen verfassungsrechtliche Bedenken.
  1. Einleitung

  2. Auslegung

  3. Verfassungsrechtliche Bedenken

    1. Grundrechte

      1. Recht auf den gesetzlichen Richter – Art 83 Abs 2 B-VG

      2. Recht auf Zugang zu einem tribunal – Art 6 EMRK

      3. Recht auf ein faires Verfahren – Art 6 EMRK

    2. Bedarfskompetenz – Art 11 Abs 2 B-VG

      1. Abweichen von einer einheitlichen Verfahrensbestimmung

      2. Rechtsprechung des VfGH

    3. Rechtsstaatliches Prinzip

      1. Fragestellung

      2. Rechtskraft im Verwaltungsrecht

      3. Rechtskraft und Normativität

  4. Zulässigkeit außerordentlicher Rechtsmittel?

    1. Wiederaufnahme des Verfahrens – § 69 AVG

    2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – § 71 AVG

  5. Fazit

1.
Einleitung

Für Verfahren in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung sind die Verfahrensvorschriften des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (AVG) (vgl Art 1 Abs 2 Z 1 EGVG [Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen]) und des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG) (§ 1, 11, 17) maßgeblich. Einige Verfahrensvorschriften sind im AlVG speziell geregelt. Typischerweise sind Verwaltungsverfahren mit Bescheid zu erledigen,* die Zuerkennung von Arbeitslosenversicherungsleistungen erfolgt hingegen formlos. § 18 Abs 1 AVG verlangt eine möglichst zweckmäßige, rasche, einfache und kostensparende Erledigung von Verwaltungsverfahren. Arbeitslosenversicherungsleistungen werden daher von Amts wegen nicht mit Bescheid zuerkannt.*

Mit BGBl I 1973/124 wurde die Mitteilung über den Leistungsanspruch im AlVG eingeführt. Diese ist als Anerkenntnis der Behörde zu qualifizieren.* Die Zuerkennung einer Arbeitslosenversicherungsleistung erfolgt mittels Mitteilung.* Die bis heute im Wesentlichen unveränderte Bestimmung (§ 47 Abs 1 erster Satz AlVG idF SVÄG 2017) lautet:

„Wird der Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe anerkannt, so ist der bezugsberechtigten Person eine Mitteilung auszustellen, aus der insbesondere Beginn, Ende und Höhe des Leistungsanspruches hervorgehen.“

Mit 1.5.2017 sind folgende Neuerungen betreffend die Mitteilung über den Leistungsanspruch in Kraft getreten (§ 47 Abs 1 zweiter bis vierter Satz AlVG idF SVÄG 2017):

„In der Mitteilung ist darauf hinzuweisen, dass die bezugsberechtigte Person, wenn sie mit der zuerkannten Leistung nicht einverstanden ist, das Recht hat, binnen drei Monaten nach Zustellung der Mitteilung einen Bescheid über den Leistungsanspruch zu verlangen.Wird der Anspruch nicht anerkannt oder binnen drei Monaten nach Zustellung der Mitteilung ein Bescheid verlangt, so ist darüber ein Bescheid zu erlassen.Wird binnen drei Monaten nach Zustellung der Mitteilung kein Bescheid über den Leistungsanspruch verlangt, so liegt eine entschiedene Sache vor, die keinem weiteren Rechtszug unterliegt.“

Diese Bestimmungen ersetzen die bis 30.4.2017 geltende Regelung (§ 47 Abs 1 zweiter Satz AlVG idF BGBl I 2015/106), die lediglich besagte, dass ein Bescheid auszufolgen war, wenn der Leistungsanspruch nicht anerkannt wurde. Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der mit dem SVÄG 2017 eingeführten Neuerungen. Insb das Vorliegen einer „entschiedenen Sache“ infolge einer Mitteilung wirft verfassungsrechtliche Fragestellungen auf. Der Behandlung dieser Fragestellungen wird ein kurzer Überblick über die Auswirkungen der Neuregelung für die Praxis sowie eine Anmerkung zu den rechtspolitischen Beweggründen für die Gesetzesänderung vorangestellt:

Im Erk Ro 2015/08/0028 vom 24.2.2016 hatte der VwGH über den Berechnungsmodus der Notstandshilfe (über die Auslegung von § 36 AlVG) zu entscheiden: Zusätzlich zum Grundbetrag einer Arbeitslosenversicherungsleistung gebührt unter bestimmten Voraussetzungen ein Ergänzungsbetrag (§ 21 Abs 4 AlVG). Unklar war, wie sich der Ergänzungsbetrag bei Personen berechnet, die Anspruch auf Familienzuschlag (§ 20 Abs 4 AlVG) haben. Das AMS vertrat die Auffassung, dass sich die Höhe des Ergänzungsbetrages um den Familienzuschlag reduziert. Der VwGH teilte diese Rechtsauffassung nicht.

Die Differenzen in der Leistungshöhe waren den betroffenen Personen infolge des VwGH-Erk nachzuzahlen. Nach der bis 30.4.2017 geltenden Rechtslage existierte im AlVG keine Regelung einer „entschiedenen Sache“ iZm der Mitteilung über den Leistungsanspruch. Für Berichtigungen zu Gunsten von LeistungsbezieherInnen* gab es keine Verjährungsregelung.* Die Differenzen in der Leistungshöhe waren daher rückwirkend bis 1.9.2010 (Einführung des Ergänzungsbetrages im AlVG mit dem SVÄG 2010, BGBl I 2010/63) nachzuzahlen. Bis März 2017 wurden rund 35 Mio € nachbezahlt,* der Gesamtbetrag* könnte sich auf bis zu 112 Mio € belaufen.* Wenngleich das VwGH-Erk Ro 2015/08/0028 vom 24.2.2016 in den parlamentarischen Materialien zum SVÄG 2017 nicht erwähnt wird, so ist doch anzunehmen, dass dieses Erk den Anlass für die Novellierung des § 47 Abs 1 AlVG gab. Nach der Rechtslage ab 1.5.2017 können keine Nachzahlungen begehrt19werden, wenn eine „entschiedene Sache“ vorliegt.* Die Neuregelung gilt für Ansprüche, die nach Ablauf des 30.4.2017 mit Bescheid oder Mitteilung erledigt werden; auf vor dem 1.5.2017 mit Bescheid oder Mitteilung erledigte Ansprüche ist § 47 Abs 1 AlVG weiterhin idF vor dem SVÄG 2017 anzuwenden (vgl § 79 Abs 160 AlVG).

2.
Auslegung

Die EB zur RV* sind für die Auslegung des § 47 Abs 1 AlVG wenig hilfreich. Es wird im Wesentlichen der Gesetzestext wiedergegeben, Erläuterungen im eigentlichen Sinn fehlen. Es wird lediglich auf die „ähnliche Vorgehensweise“ bei der Einstellung von Leistungen verwiesen. Die Einstellung einer Leistung (§ 24 Abs 1 AlVG) erfolgt seit der AlVG-Novelle des Budgetbegleitgesetzes 2003* ebenso wie die Zuerkennung einer Leistung (§ 47 Abs 1 AlVG) formlos mit Mitteilung. In den EB zur RV zum Budgetbegleitgesetz 2003* heißt es: „Aus verwaltungsökonomischen Gründen soll eine Bescheiderlassung auf Antrag der Betroffenen vorgesehen werden.

Bei der Einstellung der Leistung wurde – anders als im SVÄG 2017 bei der Zuerkennung – keine Frist zur Beantragung eines Bescheides eingeführt;* es handelt sich demnach nur insoweit um eine „ähnliche Vorgehensweise“, als der bezugsberechtigten Person in beiden Fällen nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag ein Bescheid auszustellen ist. Der telos der Neuregelung des § 47 Abs 1 AlVG liegt demnach in der Verwaltungsökonomie. Da rüber hinaus ist die Schaffung von Rechtssicherheittelos der Neuregelung. Dies ist in den parlamentarischen Materialien nicht erwähnt, die Regelung einer „entschiedenen Sache“ lässt mE aber eindeutig auf diesen Zweck schließen. Die Neuregelung des § 47 Abs 1 AlVG ist jedenfalls im Spannungsfeld von Rechtsrichtigkeit (Rechtmäßigkeit) und Rechtssicherheit in Bezug auf Beginn, Ende und Höhe der Arbeitslosenversicherungsleistung angesiedelt.

Für gewöhnlich handelt es sich bei einer „entschiedenen Sache“ um einen formell rechtskräftigen (dh mit einem ordentlichen Rechtsmittel nicht mehr anfechtbaren) Bescheid (§ 68 Abs 1 AVG) oder um eine formell rechtkräftige Entscheidung eines Gerichts. Es wäre daher an eine Auslegung des § 47 Abs 1 AlVG zu denken, wonach der Mitteilung nach der Rechtslage des SVÄG 2017 Bescheidcharakter zukommt. Bislang wurde in der Rsp* und Literatur* die Auffassung vertreten, dass es sich bei der Mitteilung nach § 47 AlVG um keinen Bescheid handelt. Da aber § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG nahezulegen scheint, dass Beginn, Ende und Höhe des Leistungsanspruches rechtsverbindlich festgelegt werden sollen, erscheint nach der Rechtslage des SVÄG 2017 eine Qualifikation als Bescheid nicht ausgeschlossen. Bei einem formlosen Schreiben des AMS, mit welchem ein Ratenansuchen abgelehnt wird, handelt es sich um einen Bescheid, da eine Verwaltungsangelegenheit normativ geregelt wird.* Selbiges könnte auch in Bezug auf die Mitteilung nach § 47 Abs 1 AlVG idF SVÄG 2017 argumentiert werden. Allein: Jede Auslegung findet ihre Grenze im äußersten Wortsinn des Gesetzestextes. Die im Gesetz festgelegte Erledigungsart „Mitteilung“ kann nicht als „Bescheid“ umgedeutet werden. (Im Unterschied dazu ist für die Ablehnung eines Ratenansuchens im AlVG die Erledigungsart nicht vorgegeben.) Zwar scheint der VfGH unter dem Titel der verfassungskonformen Interpretation gelegentlich zu einer „Umdeutung“ zu neigen und Auslegungen gegen den klaren Wortlaut eines Gesetzes vorzunehmen,* im hier gegenständlichen Kontext ist dies mE aber ausgeschlossen. Neben dem äußersten Wortsinn spricht auch die Systematik des § 47 Abs 1 AlVG gegen eine Auslegung der Mitteilung als Bescheid. Die Regelung des § 47 Abs 1 zweiter Satz AlVG würde keinen Sinn ergeben; es wäre binnen drei Monaten nach Zustellung „des Bescheides“ (der Mitteilung) ein Bescheid zu verlangen. Es bleibt daher dabei: Auch nach der Rechtslage des SVÄG 2017 handelt es sich bei einer Mitteilung über den Leistungsanspruch nicht um einen Bescheid.

Eine weitere Möglichkeit wäre, § 47 Abs 1 AlVG dahingehend auszulegen, dass der Mitteilung Rechtskraftfähigkeit zukommen soll (arg „entschiedene Sache“). Hier stellt sich die Frage, ob dies mit dem rechtsstaatlichen Prinzip vereinbar wäre. Bislang wurde von Rsp* und Literatur* die Auffassung vertreten, dass Mitteilungen nach dem AlVG nicht in Rechtskraft erwachsen können. Darüber hinaus gibt § 47 Abs 1 AlVG Anlass für verfassungsrechtliche Bedenken aufgrund des Abweichens vom AVG (kompetenzrechtliche Bedenken) und aufgrund des Ausschlusses eines weiteren Rechtszuges (grundrechtliche Bedenken).

3.
Verfassungsrechtliche Bedenken
3.1.
Grundrechte
3.1.1.
Recht auf den gesetzlichen Richter – Art 83 Abs 2 B-VG

Gem Art 83 Abs 2 B-VG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden, wobei unter „gesetzlichem Richter“ jede staatlichen Behörde*20zu verstehen ist. Art 83 Abs 2 B-VG ist auf den Schutz und die Wahrung der gesetzlich begründeten Behördenzuständigkeit gerichtet.* Gem § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG ist drei Monate nach Zustellung der Mitteilung ein weiterer Rechtszug – und somit der Zugang zum gesetzlichen Richter – ausgeschlossen. Der Fokus der Prüfung des gesetzlichen Richters liegt traditionellerweise auf der Vollziehung, darüber hinaus bindet Art 83 Abs 2 B-VG auch den Gesetzgeber.* Der Gesetzgeber muss die sachliche und örtliche Behördenzuständigkeit einschließlich der Zuständigkeit für Rechtsmittel präzise regeln.* Dieses Erfordernis ist erfüllt. Die Zuständigkeit des AMS (§ 44 AlVG) bzw des BVwG (Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG) ist klar geregelt. § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG idF SVÄG 2017 verletzt daher nicht das Recht auf den gesetzlichen Richter.

3.1.2.
Recht auf Zugang zu einem tribunal – Art 6 EMRK

Gem Art 6 Abs 1 erster Satz EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen (civil rights and obligations) oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht (tribunal) in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Beim Anspruch auf Arbeitslosengeld handelt es sich um ein civil right iSd Art 6 EMRK.* Während das Zivilrechtswesen (Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG) in der österreichischen Rechtsordnung auf Streitigkeiten der Bürger unter sich (§ 1 ABGB) beschränkt ist, ist der Begriff der civil rights in Art 6 EMRK weiter gefasst.* Die Rechtswegegarantie des Art 6 EMRK (Zugang zu einem tribunal) ist in Angelegenheiten der AlV aufgrund der Zuständigkeit des BVwG für Beschwerden gegen Bescheide des AMS (Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG) grundsätzlich erfüllt. Es stellt sich aber die Frage, ob auch die Regelung des § 47 Abs 1 AlVG den Anforderungen des Art 6 EMRK standhält. Nach der Rsp des EGMR sind Beschränkungen des Rechts auf Zugang zu einem tribunal zulässig, weil dieses Recht schon seiner Natur nach einer ausgestaltenden Regelung bedarf, bei der dem Staat ein gewisser Ermessensspielraum zukommt.* Beschränkungen dürfen nicht den Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu einem tribunal beeinträchtigen, sie sind aber mit Art 6 EMRK vereinbar, wenn sie ein legitimes Ziel verfolgen und ein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Ziel besteht.*

Art 6 EMRK verpflichtet nicht zur Schaffung eines Verfahrens, das in jeder Phase vor einem tribunal geführt wird. Es kann aus Gründen der Flexibilität und Effizienz gerechtfertigt sein, dass in der ersten Instanz eine Verwaltungsbehörde und a fortiori ein tribunal entscheidet.*) Die Regelung des § 47 Abs 1 AlVG verletzt daher nicht das Recht auf Zugang zu einem tribunal. Einen zeitlich unbegrenzten Zugang zu einem tribunal verlangt Art 6 EMRK mE nicht. Wenngleich es sich bei der Frist von drei Monaten in § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG nicht um eine Rechtsmittelfrist handelt, gibt die Rsp des EGMR zu Rechtsmittelfristen hier dennoch Orientierung: Demnach sind Rechtsmittelfristen im Allgemeinen mit Art 6 EMRK vereinbar, weil sie dem legitimen Ziel dienen, die Funktionsfähigkeit der Justiz zu wahren und Rechtssicherheit zu gewährleisten.* Selbiges gilt für Verjährungsfristen.* Rechtsmittelfristen müssen ausreichend klar geregelt sein und der Partei so deutlich wie möglich zur Kenntnis gebracht werden.*

3.1.3.
Recht auf ein faires Verfahren – Art 6 EMRK

Neben der Rechtswegegarantie beinhaltet Art 6 EMRK Verfahrensgarantien, insb das Recht auf ein faires Verfahren. Dieses Recht enthält eine Vielzahl an Teilgarantien, die alle auf das Ziel eines Verfahrensablaufs gerichtet sind, in dem die Parteien ihren Prozessstandpunkt effektiv vertreten können.* Die Ausfertigung einer Mitteilung nach § 47 AlVG erfolgt idR ohne Parteiengehör. Da sich die Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK nach der Rsp des EGMR auf ein tribunal beziehen, müssen diese im Verfahren vor dem AMS nicht erfüllt sein (sehr wohl aber im Beschwerdeverfahren vor dem BVwG).*

3.2.
Bedarfskompetenz – Art 11 Abs 2 B-VG
3.2.1

Abweichen von einer einheitlichen Verfahrensbestimmung

Während gem § 68 Abs 1 AVG einer „entschiedenen Sache“ ein formell rechtskräftiger Bescheid zugrunde liegt, normiert § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG idF des SVÄG 2017 das Vorliegen einer „entschiedenen Sache“ infolge einer Mitteilung. Art 11 Abs 2 B-VG erlaubt das Abweichen von einer einheitlichen Verfahrensregelung nur dann, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes „erforderlich“ ist. Mit dieser Bestimmung wird das Ziel der Wahrung einer Einheitlichkeit im Verfahrensrecht vor Verwaltungsbehörden verfolgt.* In stRsp des VfGH*21wird Art 11 Abs 2 B-VG dahingehend ausgelegt, dass die abweichende Bestimmung im Regelungszusammenhang mit den materiellen Vorschriften „unerlässlich“ sein muss. Es stellt sich zunächst die Frage, ob es sich bei § 47 Abs 1 erster Satz AlVG um eine vom AVG abweichende Verfahrensbestimmung handelt. Nach der Rsp des VfGH fallen die Subsidiärbestimmungen des AVG (Regelungen, die zur Anwendung kommen „soweit nichts anderes bestimmt ist“) nicht unter den Anwendungsbereich des Art 11 Abs 2 B-VG.* Gem § 18 Abs 1 AVG hat die Behörde die Sache möglichst zweckmäßig, rasch, einfach und kostensparend zu erledigen. Zwar handelt es sich bei § 18 AVG nicht um eine Subsidiärbestimmung; da aber keine bestimmte Erledigungsart für Verwaltungsverfahren vorgegeben wird (der Bescheid wird als eine mögliche Erledigungsart geregelt),* liegt mE keine Abweichung vom AVG vor, in Bezug darauf, dass im AlVG eine Erledigung mittels Mitteilung normiert wird.*

Gesondert zu prüfen ist, ob es sich bei § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG idF SVÄG 2017 („entschiedene Sache“) um eine vom AVG abweichende Verfahrensbestimmung handelt. Dies ist mE der Fall. Nach der Rsp des VfGH ist in Bezug auf Art 11 Abs 2 B-VG zu prüfen, ob der Gesetzgeber ein „Bedürfnis“ nach Erlassung einer einheitlichen Vorschrift hatte (Bedarfskompetenz).* Zwar sind die Rechtswirkungen einer Mitteilung im AVG nicht ausdrücklich geregelt, dies kann aber nicht dahingehend ausgelegt werden, dass kein Bedürfnis nach einer einheitlichen Regelung der „entschiedenen Sache“ vorhanden war. Vielmehr war und ist dieses Bedürfnis aufgrund der zentralen Bedeutung, die der Rechtssicherheit für den Rechtsstaat zukommt, evident. § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG idF SVÄG 2017 weicht von der einheitlichen Verfahrensbestimmung des § 68 Abs 1 AVG ab. Es ist daher zu prüfen, ob es sich um eine erforderliche bzw unerlässliche Abweichung handelt. Die EB zur RV* enthalten keinerlei Überlegungen zu dieser Frage.

3.2.2.
Rechtsprechung des VfGH

Unter www.ris.bka.gv.at/VfGHwww.ris.bka.gv.at/VfGH sind 53 Entscheidungen des VfGH zu Art 11 Abs 2 B-VG im Zeitraum 1980 bis 2017 dokumentiert.* Eine Analyse dieser Entscheidungen ergibt drei Fallgruppen: Erstens Fälle (die Mehrheit der Verfahren),* in denen der VfGH zum Ergebnis gelangt, dass Art 11 Abs 2 B-VG nicht anwendbar ist (entweder, weil die in Frage stehende Verfahrensvorschrift bei näherer Betrachtung nicht von einer einheitlichen Verfahrensvorschrift abweicht oder, weil der Sachverhalt nicht unter den Anwendungsbereich einer einheitlichen Verfahrensvorschrift fällt); zweitens Fälle,* in denen die Erforderlichkeit (Unerlässlichkeit) einer abweichenden Verfahrensvorschrift angenommen wurde; drittens Fälle,* in denen die in Frage stehende Verfahrensvorschrift verfassungswidrig war, weil ein Abweichen von der einheitlichen Verfahrensvorschrift nicht erforderlich war. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungszusammenhänge der jeweiligen Materiengesetze lässt sich aus der Rsp des VfGH keine einheitliche Judikaturlinie ablesen, einige Tendenzen sind mE aber erkennbar: In einigen Fällen hat der VfGH ein Abweichen von einer einheitlichen Verfahrensbestimmung aufgrund einer speziellen Gefahrenlage (besonderer Gefahrencharakter des Bergbaus,* besondere Gefahren und Risiken im Finanzmarktaufsichtsbereich,* Gefahr beim Betrieb von Luftfahrzeugen*) bzw aufgrund einer speziellen Schutzfunktion (AN-Schutz,* Mieterschutz*) als verfassungskonform erachtet. In einigen Fällen hielt der VfGH aufgrund der Besonderheiten der Rechtsmaterie (Vergaberecht,*) Universitätsgesetz*) eine abweichende Verfahrensbestimmung für erforderlich. ME rechtfertigen die Besonderheiten des Arbeitslosenversicherungsrechts nicht das Abweichen von § 68 Abs 1 AVG. So hat der VfGH – in Bezug auf die Einzelfallbeurteilung der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden gegen Bescheide des AMS (Abweichen von der einheitlichen Verfahrensbestimmung des § 13 VwGVG) – festgehalten, dass nicht ersichtlich sei, worin, anders als in anderen Verwaltungsrechtsmaterien, speziell im Arbeitslosenversicherungsrecht der beträchtliche Aufwand liege.*

Der VfGH beurteilt Verfahrensbestimmungen im Anwendungsbereich des Art 11 Abs 2 B-VG nicht ausschließlich anhand der Besonderheiten der jeweiligen Rechtsmaterie. In zahlreichen Erkenntnissen (vor allem,* aber nicht nur* iZm der aufschiebenden Wirkung von Rechtsmitteln) macht der VfGH die Zulässigkeit einer abweichenden Verfahrensbestimmung davon abhängig, ob diese dem rechtsstaatlichen Prinzip entspricht:

„Von den allgemeinen Bestimmungen der Verfahrensgesetze abweichende Regelungen sind nur dann zulässig, wenn sie nicht anderen Verfahrensbestimmungen, etwa dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes widersprechen.“*22
3.3.
Rechtsstaatliches Prinzip
3.3.1.
Fragestellung

Es stellt sich die Frage, ob die Regelung einer „entschiedenen Sache“ infolge einer Mitteilung mit dem rechtsstaatlichen Prinzip vereinbar ist. Damit zusammenhängend stellt sich die Frage, ob die Rechtskraftfähigkeit einer Mitteilung – so § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG dahingehend auszulegen ist (siehe Pkt 2) – mit dem rechtsstaatlichen Prinzip vereinbar wäre. Das rechtsstaatliche Prinzip beruht auf der Gesetzesgebundenheit der Vollziehung, der Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung sowie auf einem umfassenden System des Rechtsschutzes.* Der Begriff des Rechtsstaates ist weder im B-VG noch in sonstigen verfassungs- oder einfachgesetzlichen Bestimmungen ausdrücklich positiv-rechtlich verankert. Gelegentlich wird das Rechtsstaatsprinzip aus dem Legalitätsprinzip (Art 18 Abs 1 B-VG) abgeleitet.*

3.3.2.
Rechtskraft im Verwaltungsrecht

Die Frage nach der Rechtskraftfähigkeit einer Mitteilung nach § 47 AlVG führt zur Frage nach dem Wesen der Rechtskraft. Unter formeller Rechtskraft ist die Unanfechtbarkeit mit ordentlichen Rechtsmitteln zu verstehen.* Unter materieller Rechtskraft ist die Unabänderbarkeit einer Entscheidung zu verstehen. Die „Unabänderbarkeit“ von Recht ist ein rechtstheoretisches Postulat. Die Wiener Rechtstheoretische Schule befasste sich eingehend mit der Frage der Entstehung und dem Untergang von Recht und prägte die Theorie des Stufenbaus der Rechtsordnung. Recht sei „in all seinen Erscheinungsformen“ auf Ermächtigungen zur Rechtserzeugung zurückzuführen. Bei einem Verwaltungsakt handle es sich um neu erzeugtes Recht* auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung. Nach Merkl können Normen nicht untergehen, sie leben gewissermaßen „ewig“.* Für den Widerruf eines Verwaltungsaktes bedürfe es daher einer positiv-rechtlichen Ermächtigung; wo eine solche nicht vorhanden ist, sei ein Verwaltungsakt nicht abänderbar.* Zur Zeit der Entstehung der österreichischen Bundesverfassung vom 1.10.1920 war die Rechtskraftfähigkeit verwaltungsbehördlicher Akte noch höchst umstritten. 1919 schrieb Merkl: „Noch sucht die Verwaltungsrechtslehre dieselbe Rechtskraft, die ihre Schwester die Privatrechtswissenschaft schon längst gesichert in Händen hält. (...) In der bunten Fülle der Rechtskrafttheorien sind zwei Hauptrichtungen erkennbar, die aus zwei entgegengesetzten Weltanschauungen hervorgehen: Eine individualistische Richtung, die die Rechtskraft bejaht und eine kollektivistische, die sie verneint.*

Die kollektivistische Richtung verlangte die Abänderbarkeit von Verwaltungsakten im öffentlichen Interesse, die individualistische Richtung stellte die Interessen des Einzelnen in den Vordergrund und verlangte die Unabänderbarkeit von Verwaltungsakten. Merkl erstritt schließlich die Akzeptanz der Rechtskraft in der Verwaltung.* Die Rechtskraftfähigkeit von Verwaltungsakten ist dem AVG 1925 (BGBl 1925/274) zugrunde gelegt. Es existiert keine positiv-rechtliche Normierung des Begriffes, dass aber grundsätzlich von der Unabänderbarkeit eines Bescheides ausgegangen wurde, kommt insofern zum Ausdruck, als im dritten Abschnitt des IV. Teiles des AVG jene Voraussetzungen festlegt sind, unter denen ein Bescheid ausnahmsweise aufgehoben oder abgeändert werden kann bzw muss (Durchbrechung der Rechtskraft, §§ 68 bis 71 AVG).* Die materielle Rechtskraft im Verwaltungsverfahren ist als zentrale Errungenschaft des modernen Rechtsstaates anzusehen, da Verbindlichkeit sowohl für die Partei als auch für die Behörde erlangt wird.* Das rechtsstaatliche Prinzip verlangt die Gewährleistung von Rechtssicherheit.* Diese wird durch die Rechtskraft hergestellt. Mit Eintritt der Rechtskraft kann die Frage der Rechtmäßigkeit grundsätzlich nicht mehr neu aufgerollt werden. Zur Behebung einer schwerwiegenden Rechtswidrigkeit oder bei massivem Zuwiderlaufen gegen öffentliche Interessen kommt es ausnahmsweise zur Durchbrechung der Rechtskraft.*

3.3.3.
Rechtskraft und Normativität

Nicht alle Erledigungen im Verwaltungsverfahren sind rechtskraftfähig. Die Rechtskraftfähigkeit ist Folge der normativen Natur der Erledigung.* Normativität bedeutet, dass ein Bescheid wie ein „Individualgesetz“ wirkt.* Der Bescheid stellt eine selbständige individuelle Rechtsnorm dar.*Normativität bedeutet die verbindliche Gestaltung oder Feststellung der Rechtslage. Es gilt, was der Bescheid ausspricht.* Die Frage nach der Rechtskraftfähigkeit einer Mitteilung steht daher in Verbin-23dung mit der Frage nach dem normativen Gehalt einer Mitteilung. Normativität setzt ein autoritatives Wollen voraus:*Für das Vorliegen eines verbindlichen Abspruches in einer Verwaltungssache ist der Wille der Behörde, hoheitliche Gewalt zu üben, maßgeblich; fehlt dieser Wille, dann kommt dem betreffenden Akt kein normativer Gehalt zu.*

ME fehlt Mitteilungen nach § 47 AlVG ein autoritatives Wollen in Bezug auf die rechtliche Verbindlichkeit von Beginn, Ende und Höhe des Leistungsanspruches. Dies ergibt sich einerseits aus der Bezeichnung als Mitteilung* und andererseits aus dem in der Mitteilung enthaltenen Hinweis auf die Möglichkeit, einen Bescheid zu verlangen (§ 47 Abs 1 zweiter Satz AlVG). Die Möglichkeit, einen Bescheid zu verlangen, impliziert, dass der Mitteilung eben keine Verbindlichkeit zukommt. Autoritatives Wollen könnte allenfalls dergestalt angenommen werden, als dass dieses nach Ablauf der Frist zur Beantragung eines Bescheides (Vorliegen einer „entschiedenen Sache“) einsetzt. Auch aus einer solchen Sichtweise ließe sich aber nicht die Rechtskraftfähigkeit einer Mitteilung ableiten: Gegen einen, aufgrund autoritativen Wollens mit normativer Natur ausgestatteten, Bescheid kann ein Rechtsmittel eingebracht werden. Ist der Bescheid mit einem ordentlichen Rechtsmittel nicht mehr anfechtbar, so erwächst er „als Folge“ seiner normativen Natur in Rechtskraft. Da das autoritative Wollen und damit die normative Natur in Bezug auf eine Mitteilung nach § 47 AlVG vorab nicht gegeben sind, sondern allenfalls gleichzeitig mit der Rechtskraft einsetzen würde, würde die Mitteilung nicht „als Folge“ ihrer normativen Natur in Rechtskraft erwachsen. Die Rechtskraftfähigkeit der Mitteilung ist daher ausgeschlossen. Nicht umsonst ist aus der stRsp des VfGH aus dem rechtsstaatlichen Prinzip und aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsschutzkonzept ein für den Gesetzgeber bestehender Rechtstypenzwang abzuleiten.* Nach dem soeben Gesagten bleibt nur die Auslegung, dass § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG das Vorliegen einer „entschiedenen Sache“ ohne Vorhandensein einer rechtskräftigen Erledigung normiert. Dies stellt mE einen Verstoß gegen das rechtsstaatliche Prinzip dar.

4.
Zulässigkeit außerordentlicher Rechtsmittel?

Sofern bzw solange § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG vom VfGH nicht aufgehoben oder einer Novelle unterzogen wird, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Bestimmung zu anderen Verfahrensbestimmungen. Für die Praxis ist insb die Frage nach der Zulässigkeit außerordentlicher Rechtsmittel von Relevanz.

4.1.
Wiederaufnahme des Verfahrens – § 69 AVG

Dem Wortlaut des § 69 Abs 1 AVG nach zu schließen kommt eine Wiederaufnahme des Verfahrens bei Vorliegen einer „entschiedenen Sache“ infolge einer Mitteilung iSd § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG nicht in Betracht, weil kein mit Bescheid abgeschlossenes Verfahren vorliegt. ME ist § 69 AVG in Bezug auf § 47 AlVG aber analog anzuwenden. Dass die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens nicht explizit geregelt wurde, muss als planwidrige Unvollständigkeit gewertet werden. Das dem Institut der Wiederaufnahme zugrundeliegende und es rechtfertigende Ziel ist es, ein insgesamt rechtmäßiges Ergebnis zu erreichen.* Wenn sogar bei Bescheiden – deren normative Natur im Gegensatz zur Mitteilung unumstritten ist – der Rechtsrichtigkeit unter bestimmten Voraussetzungen Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit eingeräumt wird, so muss dies mE für Mitteilungen erst recht gelten.

4.2.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – § 71 AVG

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht (unmittelbar) gegen eine behördliche Entscheidung, sondern darauf gerichtet, die Rechtsfolgen einer unverschuldeten Säumnis zu beseitigen.* ME bedarf es daher in Bezug auf die Mitteilung nach § 47 AlVG keiner Analogie. Gegen die Versäumung der Frist von drei Monaten nach Zustellung der Mitteilung, innerhalb der gem § 47 Abs 1 zweiter Satz AlVG ein Bescheid über den Leistungsanspruch verlangt werden kann, besteht unter den Voraussetzungen des § 71 AVG die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Eine Wiedereinsetzung ist nur gegen die Versäumung einer verfahrensrechtlichen Frist zulässig.* Da § 47 im AlVG unter Art III „Verfahren“ zu finden ist und eine ablehnende Entscheidung betreffend einen Antrag auf Ausstellung eines Bescheides dem Wortlaut des § 47 Abs 1 vierter Satz AlVG nach („entschiedene Sache“) wohl auf Zurückweisung (nicht auf Abweisung) lautet, handelt es sich bei der Frist von drei Monaten nach Zustellung der Mitteilung um eine verfahrensrechtliche (nicht um eine materiellrechtliche) Frist.

5.
Fazit

Hinsichtlich der am 1.5.2017 in Kraft getretenen Neuregelung der Mitteilung über den Leistungsanspruch gem § 47 Abs 1 AlVG idF SVÄG 2017 bestehen verfassungsrechtliche Bedenken. Die Regelung einer „entschiedenen Sache“ infolge einer Mitteilung (§ 47 Abs 1 vierter Satz AlVG) widerspricht nach Ansicht der Verfasserin dieses Beitrags dem rechtsstaatlichen Prinzip und ist nicht mit Art 11 Abs 2 B-VG (Bedarfskompetenz) vereinbar.24