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Rechtslücke bei der Bemessung des Wochengeldes nach Entgeltausfall wegen Krankenstand

MARTINATHOMASBERGER (WIEN)
  1. Die Regelung in § 162 Abs 3 lit b ASVG ist im Hinblick auf § 122 Abs 2 lit b ASVG lückenhaft.

  2. Der Beobachtungszeitraum für die Bemessung des Wochengeldes ist in Fällen, in denen der Versicherungsfall der Mutterschaft während eines Krankengeldbezugs eintritt, so weit auszudehnen, dass sich ein Entgeltzeitraum von vollen drei Kalendermonaten ergibt.

[...]

1. Gegenstand des Ersturteils über die Verpflichtung der Bekl, der Kl ab 3.2.2015 (ohne zeitliche Beschränkung, etwa mit dem Ende des Anspruchs auf Krankengeld) ein tägliches Wochengeld im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, blieb von der Berufung der Bekl ausdrücklich unangefochten und ist – infolge sachlicher Abtrennbarkeit von den übrigen Punkten des Urteilsspruchs – in Teilrechtskraft erwachsen. Zu entscheiden ist daher allein darüber, ob die Kl ab 3.2.2015 gegen die Bekl einen Anspruch auf Erbringung einer vorläufigen Zahlung nach § 89 Abs 2 ASGG hat, der aus dem – dem Grunde nach bereits rechtskräftig feststehenden, auf § 122 Abs 2 Z 1 lit b ASVG gegründeten – Anspruch auf Wochengeld resultiert. [...] Aufgrund dessen ist der Rechtsmittelantrag der Bekl so zu verstehen, dass die Höhe der vorläufigen Zahlung mit Null zu bemessen sei.

[...]

3. Zur Höhe des Wochengeldanspruchs der Kl

3.1. Da der Versicherungsfall der Mutterschaft bei der Kl gem § 120 ASVG mit Beginn des vorzeitigen Mutterschutzes am 3.2.2015 eingetreten ist, wäre als maßgeblicher Beobachtungszeitraum zunächst der Zeitraum von 1.11.2014 bis 31.1.2015 heranzuziehen (RIS-Justiz RS0084115), in dem die Kl durchgehend Krankengeld bezog.

3.2. Zu beurteilen ist, ob in diesem Fall die Regelung des § 162 Abs 3 lit b ASVG heranzuziehen ist, wonach Zeiten, während derer die Versicherte infolge Krankheit „nicht das volle Entgelt bezogen hat“, bei der Ermittlung des durchschnittlichen Arbeitsverdienstes im Beobachtungszeitraum außer Betracht bleibt. Damit soll eine nicht zu rechtfertigende Herabsetzung des Wochengeldes, die mit einer Berücksichtigung von Zeiten eines verminderten Bezuges einherginge, verhindert werden (vgl 147/A zu 512 BlgNR 9. GP).

3.3. Gegen die Anwendbarkeit dieser Norm im konkreten Fall, der durch das Fehlen eines aufrechten Arbeitsverhältnisses gekennzeichnet ist, bringt die Bekl zum einen den Wortlaut ins Spiel („nicht das volle Entgelt bezogen hat“), zum anderen auch das Erfordernis einer Reduktion des Anwendungsbereichs auf Fälle des aufrechten Arbeitsverhältnisses.

3.4. [...] Zwingend ist dieser Schluss freilich nicht. Insb würde auf diese Weise – wie auch der vorliegende Fall zeigt – der dem Grunde nach zustehende Leistungsanspruch nach § 122 Abs 2 Z 1 lit b ASVG konterkariert. Dass ein aufrechtes Arbeitsverhältnis nicht stets Voraussetzung für den Wochengeldanspruch ist, zeigen etwa die Fälle des § 122 Abs 3 ASVG [...].

3.5. Insoweit § 162 Abs 3 lit b ASVG mit der Bezugnahme auf das offensichtlich aus einem Arbeitsverhältnis stammende Entgelt abstellt, erweist sich die Regelung für den Ausnahmefall des § 122 Abs 2 Z 1 lit b ASVG, in dem der Wochengeldanspruch kein aufrechtes Arbeitsverhältnis voraussetzt, als lückenhaft. Die Lücke ist planwidrig, weil für den Fall, in dem ein Wochengeldanspruch dem Grunde nach besteht, eine Regelung zur Höhe fehlt.

4. Schließung der planwidrigen Lücke durch Verlängerung des Beobachtungszeitraums

Die planwidrige Lücke lässt sich durch entsprechende Verlängerung des Beobachtungszeitraums, wie sie in § 162 Abs 3 Satz 7 angeordnet wird, schließen, weshalb das Fehlen eines aufrechten Arbeitsverhältnisses bei fortwährendem Krankengeldbezug nicht sofort zur Bemessung des Wochengeldes mit Null führt.

[...]

4.2. Der Wortlaut des § 162 Abs 3 Satz 7 ASVG geht lediglich von einer Verlängerung des Beobachtungszeitraums um eine 13-Wochen-Periode aus [...]. Dem steht allerdings der in den Gesetzesmaterialien zur 9. ASVG-Novelle (BGBl 1964/13) zum Ausdruck gebrachte Zweck der Neuregelung in § 162 Abs 3 Satz 5 lit b ASVG entgegen, wonach die Ausnahmezeiten der lit b „in Anlehnung an § 14 MSchG (BGBl Nr 76/1957) Vorsorge getroffen [wurde], dass Zeiten der Krankheit oder der vorübergehenden Kurzarbeit [...] bei der Ermittlung des Arbeitsverdienstes der letzten 13 Wochen außer Betracht bleiben sollten, um zu verhindern, dass das Wochengeld dadurch eine nicht zu rechtfertigende Herabsetzung erfährt“ (147/a zu 517 BlgNR 9. GP). Dass eine Bemessung des – dem Grunde nach zustehenden – Wochengeldes mit Null nicht den gesetzgeberischen Intentionen entspricht, findet eine Stütze in § 165 ASVG. Wie bereits das Berufungsgericht ausgeführt hat, kann dem Gesetzgeber schwerlich zugesonnen werden, dass er die weitere Gewährung von Krankengeld infolge des Eintritts des Versicherungsfalles der Mutterschaft und der Eröffnung des Wochengeldanspruchs versagt, gleichzeitig aber zulässt, dass das Wochengeld mit Null bemessen wird, während ohne Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft weiterhin Anspruch auf Krankengeld bestanden hätte.

4.3. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass sich der Beobachtungszeitraum nicht nur einmalig nach hinten verschiebt, sondern so lange, bis ein Zeitraum von vollen drei Kalendermonaten erreicht wird, aus dem sich ein durchschnittlicher Arbeitsverdienst errechnen lässt. [...]150

ANMERKUNG

Der vorliegenden E lag eine Konstellation zugrunde, die aufgrund des ab Bekanntgabe der Schwangerschaft an den AG geltenden Bestandschutzes nicht eben üblich ist – die AN erhielt aufgrund eines längeren Krankenstandes Krankengeld; das Arbeitsverhältnis, aus dem der Krankengeldanspruch resultierte, war bereits längere Zeit vor dem Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft beendet worden, der Versicherungsfall trat während der Arbeitsunfähigkeit und dem daraus gebührenden vollen Krankengeldanspruch ein. Im vorliegenden Sachverhalt lag die letzte echte Einkommensperiode so weit zurück, dass die bekl KV davon ausging, keine gesetzliche Grundlage für die Bemessung des Wochengeldes iSd § 162 Abs 3 ASVG vorzufinden. In Zukunft könnten vergleichbare Sachverhalte aufgrund der gestrafften Voraussetzungen für vorzeitige Freistellungen aber häufiger vorkommen (vgl Mutterschutz-VO BGBl II 2017/310 vom 10.11.2017, mit der die bisher auf der Ebene eines Ministerialerlasses geregelten medizinischen Voraussetzungen für vorzeitige Freistellungen abschließend normiert wurden). Da vorzeitige Freistellungen, die den Anspruch auf Wochengeld auslösen, nur aufgrund medizinisch relativ eng gefasster Kriterien möglich sind, liegen bei nicht von der VO erfassten Schwangerschaftsbeschwerden Krankenstände vor, aufgrund derer ebenfalls eine Erstreckung des Beobachtungszeitraums für die Bemessung des Wochengeldes ausgelöst werden könnte.

Aufgrund des langen zeitlichen Abstandes zwischen dem Ende des Arbeitsverhältnisses und dem Beginn der vorzeitigen Freistellung ging der bekl Krankenversicherungsträger davon aus, dass der Beobachtungszeitraum nicht erstreckt werden könne, weil wegen des vollständigen Entfalls des Entgeltanspruchs keine Kürzung eines Arbeitsverdienstes vorgelegen sei. Der Zeitverlauf schloss auch die Anwendung der Nachwirkung der KV nach § 122 Abs 3 ASVG aus (was im Verfahren auch nicht weiter bestritten wurde).

Die Kl machte dagegen geltend, dass gem § 122 Abs 2 Z 1 lit b auch für Versicherungsfälle aus der gesetzlichen KV, die während eines Kranken- oder Wochengeldbezugs eintreten, Leistungsansprüche für Versicherte (und ihre Angehörigen) entstehen, dies auch in Fällen, in denen die „auslösende“ Pflichtversicherung bereits beendet ist. Da der Versicherungsfall der Mutterschaft während des Bezuges von Krankengeld eingetreten sei, ergebe sich daraus folglich ein Anspruch auf Wochengeld.

Als strittige Rechtsfrage war zu entscheiden, ob der dem Grunde nach zustehende Wochengeldanspruch mit Null zu bemessen sei oder ob § 162 Abs 3 Satz 6 lit b ASVG so auszulegen ist, dass auch Zeiten des Krankengeldbezuges (der die rechtliche Voraussetzung für den Leistungsanspruch iSd § 122 Abs 2 Z 1 bildet) als Zeiten anzusehen sind, in den „infolge Krankheit ... nicht das volle Entgelt bezogen wird“.

Das Berufungsgericht, dessen Rechtsansicht vom OGH bestätigt wurde, entschied, dass § 162 Abs 3 Satz 6 lit b ASVG nicht nur auf Fälle anzuwenden ist, in denen bei weiter aufrecht bestehendem Arbeitsverhältnis die Entgeltfortzahlung gemindert oder eingestellt ist. Dies träfe auch bei Krankenständen zu, in denen – resultierend aus einem noch bestehenden oder bereits beendeten Arbeitsverhältnis – die Entgeltfortzahlung ausgeschöpft ist und noch Krankengeld bezogen wird.

Systematisch ist gem § 122 Abs 1 ASVG bei Geld- und Sachleistungsansprüchen aus der KV davon auszugehen, dass diese grundsätzlich entstehen, wenn es eine Kongruenz zwischen Bestand der Pflichtversicherung und Eintritt des Versicherungsfalles gibt (Windisch-Graetz in

Mosler/Müller/Pfeil
[Hrsg], Der SV-Komm § 122 ASVG Rz 3 mwN). Um Schutzlücken zu schließen, werden in § 122 Abs 2 ASVG Ansprüche auf Leistungen, vorrangig auf Sachleistungen, auch in Fällen eingeräumt, in denen keine Pflichtversicherung mehr besteht (aaO Rz 6 bis 8); dies umfasst gem § 122 Abs 2 Z 1 lit b ASVG auch Personen, die aufgrund des Bestehens einer Pflichtversicherung und des Eintritts eines Versicherungsfalls Kranken- oder Wochengeld beziehen. Systematisch ist diese „Nachversicherung“ weder der Pflichtversicherung noch einer Teilversicherung iSd § 8 Abs 1 ASVG zugeordnet.

Grundsätzlich ging die Praxis vor dem vorliegenden Urteil davon aus, dass sich aus § 122 Abs 2 Z 1 ASVG nur Sachleistungsansprüche ableiten lassen. Diese Ansicht konnte zB damit begründet werden, dass § 138 Abs 1 ASVG den Anspruch auf Krankengeld für Fälle der Nachwirkungsfrist iSd § 122 Abs 2 ASVG ausdrücklich (und eingeschränkt auf Versicherungsfälle in den ersten drei Wochen der Nachwirkung) regelt (vgl auch Drs, SV-Komm § 138 ASVG Rz 12 und Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG § 138 Anm 4). Für das Wochengeld gibt es eine eigene Nachfristregelung in § 122 Abs 3 ASVG (Windisch-Graetz in Der SV-Komm § 122 ASVG Rz 21 bis 27), auf die in der Bemessungsregelung des § 162 Abs 3 ASVG ausdrücklich verwiesen wird, während es keine entsprechende Verweisung auf § 122 Abs 2 Z 1 ASVG gibt. Systematisch ergab sich nach Ansicht des OGH daraus, dass ein Versicherungsfall der Mutterschaft, der außerhalb der Pflichtversicherung und außerhalb der Fristen des § 122 Abs 3 ASVG eintrat, keinen Anspruch auf Leistungen auslöst; der OGH sah in den Regelungen auch keine Lücke, die sich im Wege einer Rechtsfindung durch ergänzende Auslegung schließen lassen könnte (OGH10 ObS 312/98z SSV-NF 13/1; vgl auch Wolfsgruber, RdW 2000/17).

Der OGH schloss sich trotz dieser Vorentscheidung im vorliegenden Fall allerdings der Rechtsansicht des Berufungsgerichts an, das den Anspruch auf Wochengeld dem Grunde nach aus der Regelung des § 122 Abs 2 Z 1 ASVG ableitete; dies wurde in der Berufung der bekl KV nicht weiter aufgegriffen. Die Bekl bekämpfte nur die Festsetzung einer vorläufigen Leistung durch das Erstgericht und machte geltend, dass die Bemessung des Wochengeldes in diesem Fall nur mit Null erfolgen könne.

Das Berufungsgericht ging übereinstimmend mit dem Erstgericht davon aus, die Regelung in § 162 Abs 3 Satz 6 lit b ASVG sei so auszulegen, dass in Fällen eines lang dauernden Krankenstandes so151lange zurückgegangen werden müsse, bis sich ein voller dreimonatiger Bemessungszeitraum für das Wochengeld ergebe; auch wenn die Entgeltfortzahlung des AG beendet ist, werde „nicht das volle oder kein Arbeitsentgelt“ bezogen.

Der OGH griff in diesem Fall trotz der Vorjudikatur auf die systematisch-teleologische Interpretation der Regelungen zurück. Die Regelung des § 162 Abs 3 Satz sechs ASVG erweise sich für den Ausnahmefall in § 122 Abs 2 Z 1 lit b ASVG – nach dem der Anspruch auf Wochengeld allein durch den Eintritt des Versicherungsfalles der Mutterschaft, während der Leistungsanspruch auf Krankengeld ausgelöst wird – durch das Fehlen einer Verweisung als lückenhaft. Die Ermittlung der Bemessungsgrundlage bzw des Bemessungszeitraumes für den Anspruch auf Wochengeld kann nur durch eine entsprechende Verlängerung des Beobachtungszeitraums erfolgen. Dies sei auch durch den Zweck der Regelungen über das Wochengeld geboten, das dem Einkommensersatz in einem Zeitraum dient, in dem Schwangeren die Ausübung einer (unselbständigen) Erwerbsarbeit verboten ist (§§ 3 und 5 MSchG).

Es ist also nunmehr davon auszugehen, dass der Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft während eines Krankengeldbezuges dem Grunde nach den Anspruch auf Wochengeld auslöst, selbst wenn – wie im vorliegenden Sachverhalt – das Beschäftigungsverhältnis, das der Auslöser für den Anspruch auf Krankengeld war, bereits beendet war. Bei konsequenter Anwendung der teleologischen Betrachtungsweise dürfte es grundsätzlich auch keine Zweifel geben, dass – anders als bei Anwendung von § 122 Abs 3 ASVG – in dieser Konstruktion auch die Beendigungsart (vgl dazu Windisch-Graetz in Der SV-Komm § 122 ASVG Rz 24 und 25) unerheblich ist. Auch eine Beendigung durch eine begründete Entlassung könnte den Leistungsanspruch nicht vernichten, solange sich der Krankengeldanspruch aus der aus dem vorzeitig beendeten Arbeitsverhältnis resultierenden Pflichtversicherung ergibt (die Arbeitsunfähigkeit also in den ersten drei Wochen der Nachwirkung eintritt). Aus § 122 Abs 2 Z 1 iVm § 138 Abs 1 ASVG kann nicht geschlossen werden, dass der Krankengeld anspruch, der aus dem beendeten Pflichtversicherungsverhältnis resultiert, aufgrund bestimmter Beendigungsarten versagt werden kann. Soweit der Versicherungsfall der Mutterschaft noch im Leistungsbezug eintritt, besteht der Anspruch auf Wochengeld dem Grunde nach und die Bemessung muss durch eine Erstreckung des Beobachtungszeitraums ermöglicht werden.