Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg)EMRK – Europäische Menschenrechtskonvention – Handkommentar

4. Auflage, Nomos/Manz/Helbing & Lichtenhahn Verlag, Baden-Baden/Wien 2017, 858 Seiten, gebunden, € 118,–

ELIASFELTEN (LINZ/SALZBURG)

Die Bedeutung der EMRK für das österreichische Arbeits- und Sozialrecht war lange Zeit gering. Die hohen einfachgesetzlichen Schutzstandards in Österreich haben eine nähere Beschäftigung mit den Grundrechten und ihrer Bedeutung für arbeits- und sozialrechtliche Konfliktfälle in der Regel entbehrlich gemacht. Aus diesem Grund hat auch die österreichische Arbeits- und Sozialrechtswissenschaft lange Zeit der EMRK kaum Beachtung geschenkt. Die Antrittsvorlesung Florettas mit dem Titel „Arbeitsrecht und Europäische Menschenrechtskonvention“ aus dem Jahr 1967 war lange Zeit das Einzige, was es zu diesem Thema gab.

In den letzten Jahren ist die EMRK freilich aus ihrem „Schattendasein“ herausgetreten. Ein Meilenstein in diesem Zusammenhang war das Urteil des EGMR in der Rs Gaygusuz gegen Österreich aus dem Jahr 1996, in dem der Menschenrechtsgerichtshof klargestellt hatte, dass Leistungen der SV, die durch Beiträge der Versicherten finanziert werden, dem Eigentumsschutz des Art 1 1. Zusatzprotokoll zur EMRK unterliegen. Die Versagung eines Leistungsanspruches stellt daher einen Eingriff in das Eigentumsrecht dar, welcher am Maßstab der EMKR zu messen ist.

Auch im Arbeitsrecht hat die Bedeutung der EMRK in den letzten Jahren stark zugenommen. Das lässt sich169deutlich an der Diskussion über die Existenz eines subjektiven Streikrechts in Österreich zeigen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob die Teilnahme an einem Streik zur vorzeitigen Auflösung des Arbeitsvertrags aus wichtigem Grund berechtigt. Das war lange Zeit die herrschende Auffassung. Die Judikatur des EGMR hat allerdings zu einem Umdenken geführt. Auf Grund des Umstandes, dass der EGMR inzwischen Arbeitskämpfe dem Schutz des Art 11 EMRK unterstellt, wird nunmehr überwiegend die Ansicht vertreten, dass die Ausübung eines Grundrechts keinen Entlassungsgrund darstellen kann (vgl ausführlich Marhold, DRdA 2015, 414 ff).

Einen vergleichbaren Bedeutungszuwachs hat die EMRK im Diskriminierungsrecht erfahren. Vor allem die Streitfrage, inwiefern der AG berechtigt ist, das Tragen religiöser Symbole am Arbeitsplatz zu verbieten, wird stark von der Rsp des EGMR geprägt (Berka, DRdA 2017, 247 ff).

Verantwortlich für die zunehmende Relevanz der EMRK ist der EGMR. Der Menschenrechtsgerichtshof nimmt seine Rolle aktiver wahr. Während er früher den Nationalstaaten einen großen sozialpolitischen Ermessensspielraum bei der Umsetzung der EMRK zugestand, hat er nunmehr seine diesbezügliche Zurückhaltung aufgegeben und legt die Schutzgarantien weit aus. Über die Figur der „positiven Schutzpflichten“ nimmt er dabei auch Einfluss auf die nationalen Zivilrechtsordnungen. Das lässt sich deutlich an seiner Judikatur zu Art 11 EMRK zeigen (vgl Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz [2015]).

Vor diesem Hintergrund ist die EMRK nicht nur von wissenschaftlichem Interesse. Vielmehr kommt ihr inzwischen auch für die Praxis maßgebliche Bedeutung zu. Gerade an letztere scheint sich der vorliegende Handkommentar zu richten, der inzwischen in vierter Auflage erschienen ist. Neben der EMRK selbst werden auch das 1. Zusatzprotokoll sowie die Protokolle 4, 6, 7, 8, 12 und 13 einer ausführlichen Kommentierung durch ein 22-köpfiges AutorInnenteam unterzogen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Judikatur des EGMR. Darüber hinausgehende Diskurse werden nur vereinzelt geführt, was primär der Konzeption als Handkommentar und damit dem beschränkten Umfang geschuldet sein mag.

Das führt jedoch dazu, dass die Judikatur, wenn auch materialreich, weitgehend unkritisch wiedergegeben wird. Dh mit anderen Worten, der Kommentar ist primär deskriptiv und enthält kaum kritische oder gar weiterführende Überlegungen. Das zeigt sich bspw an der Kommentierung des Art 8 EMRK, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Frage geht, ob das Tragen von Kopftüchern oder Gesichtsschleiern verboten werden kann (Rz 47). Zwar wird darauf hingewiesen, dass die derartige Verbote billigende Rsp des EGMR durchaus umstritten ist. Was die Gründe für diese Kritik sind und worauf sich diese bezieht, wird jedoch nicht offengelegt. Ebenso wenig wird dargelegt, ob sich diese Judikatur zum Kopftuchverbot auf den öffentlichen Raum oder den Arbeitsplatz bezieht. Das gilt ebenso für die anderen Fallgruppen des Art 8 EMRK. So wird zwar ausführlich der Problemkreis der Kontrolle der Kommunikation behandelt (Rz 98 ff), die Kommentierung beschränkt sich allerdings auf die Judikatur zur Kontrolle von Strafgefangenen. Die praktisch wichtige Frage, ob der AG die dienstliche und/oder private Kommunikation des AN kontrollieren darf, bleibt hingegen unerwähnt.

Diese undifferenzierte Wiedergabe der Judikatur ist freilich nicht für den gesamten Kommentar kennzeichnend. So legt bspw Daiber im Rahmen seiner Kommentierung des Art 11 EMRK die Widersprüchlichkeit der Rsp des EGMR zur Frage offen, ob aus der Vereinigungsfreiheit ein Streikrecht abzuleiten ist (Rz 10). Zwar betont der Gerichtshof stetig, dass in dieser Beziehung den Mitgliedstaaten ein weiter sozialpolitischer Spielraum zukommt. Das hat ihn ursprünglich dazu veranlasst, ein von der EMRK geschütztes Streikrecht zu verneinen. Inzwischen scheint er allerdings der gegenteiligen Ansicht zu sein, auch wenn die genaue Rechtsgrundlage auf Grund der unklaren Aussagen des EGMR im Dunklen bleibt (Rz 10). Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechungsentwicklung überrascht es, wenn Daiber in weiterer Folge die Ansicht vertritt, dass Art 11 EMRK keine speziellen Rechte für Gewerkschaftsmitglieder enthält (Rz 11). Zwar steht diese Aussage im Zusammenhang mit der Frage, ob Art 11 EMRK dem Recht des AG zur Versetzung von Gewerkschaftsmitgliedern entgegensteht. Das hat der EGMR tatsächlich für den Fall verneint, dass bewiesenermaßen zwischen der Versetzung und der Gewerkschaftszugehörigkeit kein Konnex besteht. Wenn damit aber generell gemeint sein soll, dass aus Art 11 EMRK keine subjektiven Rechte Einzelner abzuleiten sind, so legt die jüngere Rsp des EGMR zum Streikrecht und seine weite Interpretation der positiven Schutzpflichten das Gegenteil nahe. Auch in diesem Fall zeigt sich also, dass die Verkürzung der Kommentierung zumindest zu Missverständnissen führt bzw führen kann.

Zusammengefasst kann also festgehalten werden, dass der vorliegende Kommentar eine wichtige Hilfestellung bietet, um einen Überblick über die Judikatur des EGMR zu einem bestimmten Artikel der EMRK zu bekommen. Weiterführende Erkenntnisse wird man ohne entsprechendes Vorwissen hingegen dem Kommentar nur schwer entnehmen können. Das ist aber wohl auch nicht der Anspruch, den dieses Werk an sich selbst stellt. Vielmehr soll dieser Kommentar ein „praktisches Werkzeug“ sein, mit dem der/die RechtsanwenderIn einen „schnellen Zugriff auf die wesentlichen Entscheidungen aus der Rsp des EGMR zu allen Fragen des materiellen Rechts“ erhält (S 6). Dem wird der Handkommentar zur EMRK jedenfalls gerecht.