Nützenadel (Hrsg)Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus

Wallstein Verlag, Göttingen 2017 592 Seiten, gebunden, SU, € 35,90

KLAUS-DIETERMULLEY (WIEN)

Am 7.10.1917 genehmigte in Österreich Kaiser Karl I per Handschreiben die Errichtung eines Ministeriums für soziale Fürsorge und eines Ministeriums für Volksgesundheit. War dies die Geburtsstunde des angeblich „weltweit ersten Sozialministeriums“, welches nun von bisher zuständigen anderen Ministerien die Agenden für Jugendfürsorge, Kriegsbeschädigtenobsorge, SV, Arbeitsrecht, -vermittlung und -schutz sowie Wohnungswesen übernahm, so wurde in Deutschland inmitten der Revolutionswirren auf Drängen der Arbeiterschaft im Oktober 1918 ein Reichsarbeitsamt gegründet, welches 1919 zum Reichsarbeitsministerium wurde. Ähnlich wie in Österreich waren Sozialpolitik („Arbeitsfragen“), SV („Arbeiterversicherung“), Wohnungswesen und Kriegsbeschädigtenobsorge die Agenden des neuen Ministeriums, welches im Laufe der Weimarer Republik – wie die ausgezeichnete Einführung von Ulrike Schulz in die Geschichte des Reichsarbeitsministeriums zeigt – insb in Bereichen des Arbeits- und Tarifwesens, im Wohnungsbau und der Sozialfürsorge zunehmend Ansehen und Kompetenz gewann. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 und in den folgenden Jahren gelangten im Zuge der Ausschaltung der Selbstverwaltung von Körperschaften, der Einführung des „Führerprinzips“ und der Übernahme zentraler Kompetenzen im Bereich der Sozialpolitik weitere Agenden an das Reichsarbeitsministerium.

In der bisherigen Forschung stand das Reichsarbeitsministerium jedoch vielfach im Schatten der von der historischen Forschung für das Funktionieren des NS-Herrschaftssystems relevanter eingeschätzten NS-Organisationen („Deutsche Arbeitsfront“) und der von Hitler mit umfangreichen Vollmachten über den jeweiligen Fachministerien ausgestatteten Sonderbehörden (beispielsweise etwa jener zur Durchführung des Vierjahresplans unter der Leitung von Hermann Göring [VO zur Durchführung des Vierjahresplans vom 18.10.1936, RGBl I 1936/96]). In der Betonung dieser „polykratischen Struktur“ des „Dritten Reiches“, in deren Rahmen einflussreiche Herrschaftsträger, wie Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei und Schutzstaffel, Wehrmacht, Wirtschaft und Sonderverwaltungen vielfach in Konkurrenz um Macht und Einfluss buhlten, wurde von der Forschung den Ministerien, dem staatlichen Behördenapparat und der Beamtenschaft eine vergleichsweise geringe Rolle an den menschenverachtenden Maßnahmen des NS-Regimes und mithin auch kaum Verantwortung für seine Verbrechen zugeteilt. Dies fußte nicht zuletzt auf der Tatsache, dass es den Beamten nach 1945 im Rahmen der „Entnazifizierung“ und der Kriegsverbrecherprozesse oft gelang, als gleichsam unpolitische Experten und Befehlsempfänger aufzutreten und sich zu entlasten. Der vorliegende Band eines umfangreichen, von den deutschen Arbeitsministerinnen geförderten und finanzierten Forschungsprojektes räumt mit dieser oft tradierten Ansicht auf: Es betrachtet das Reichsarbeitsministerium „nicht als passive Institution, sondern als einen von vielen politischen Akteuren, der sich innerhalb der komplexen und zunehmend unübersichtlichen Herrschaftsstrukturen des NS-Staates zu behaupten versuchte“.

Gegliedert in vier Abschnitte („I. Behördenstruktur, Personal und institutionelle Konflikte“; „II. Politische Handlungsfelder“; „III. Expansion, Krieg und Verbrechen“; „IV. Das Ministerium nach 1945“) geben die insgesamt 13 Beiträge des vorliegenden Bandes einen instruktiv-kritischen Einblick über die Organisation, Struktur, Agenden und Tätigkeiten des Ministeriums, über Konflikte und Problemlösungen mit anderen Herrschaftsträgern des NS-Regimes sowie über die Beihilfe zum Holocaust. Im letzten Abschnitt wird ua eindrucksvoll dargelegt, dass in der Beamtenschaft in der Bundesrepublik (zum Unterschied zur DDR) in den Jahrzehnten nach 1945 weitgehend eine Kontinuität zur Zeit des NS festzustellen ist. Immerhin lag, wie Martin Münzel aufzeigt, 1960 der Anteil an ehemaligen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei-Mitglieder in der Behördenspitze bei 70 %.

Wenngleich die formale Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei-Mitgliedschaft wohl wenig aussagekräftig ist, so galt es aufzuzeigen, wie in den Jahren 1933 bis 1945 aus der Administration des Ministeriums die rassistische NS-Sozialutopie in den Alltag der Menschen nicht nur im sogenannten „Deutschen Reich“, sondern besonders auch in die annektierten und besetzten Staaten und Regionen getragen wurde. So etwa konnte – wie die Beiträge von Swantje Greve sowie Kiran Klaus Patel und Sandrine Kott zeigen – der Thüringer Gauleiter und Reichsstatthalter Fritz Sauckel – von Hitler im März 1942 als „Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz“ ernannt – in seinen auf nahezu ganz Europa ausgedehnten (Zwangs-)Arbeitseinsatzrekrutierungen für die deutsche Rüstungsindustrie auf die entsprechenden Experten und die Struktur des172Reichsarbeitsministeriums zurückgreifen. Sören Eder veranschaulicht in einem instruktiven Beitrag an Hand der Ahndung von Arbeitsvertragsbrüchen die grundlegende Veränderung des Arbeitsrechts im NS-Regime und thematisiert die Rolle des „Treuhänders der Arbeit“ als nachgeordnete Behörde des Reichsarbeitsministeriums. Die Arbeitsverwaltung war – wie weitere Beiträge zeigen – in die Organisation der Ghettos involviert und im Übrigen wurde eine „Völkische Sozialordnung“ für ein Europa unter deutscher NS-Herrschaft propagiert.

Zwar kam es zwischen den Spitzenrepräsentanten des Ministeriums und der Deutschen Arbeitsfront immer wieder zu Konflikten, die auch zum Teil habituell bedingt auf persönliche Animositäten von Reichsarbeitsminister Franz Seldte und dem Führer der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley sowie ihrer Vertreter zurückzuführen waren, jedoch auf mittlerer Mitarbeiterebene kaum eine Rolle spielten, wie ua der Beitrag des wohl besten Kenners der Geschichte der Deutschen Arbeitsfront Rüdiger Hachtmann veranschaulicht. Nachdem die Deutsche Arbeitsfront durch das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ die Kontrolle über die Betriebs- und Tarifpolitik an die dem Reichsarbeitsministerium unterstehenden „Reichstreuhänder der Arbeit“ verlor (wobei die These vertreten wird, dass die Deutsche Arbeitsfront – deren Mitarbeiter an der Ausarbeitung des AOG mitbeteiligt waren – darüber sogar froh war, hatte sie doch nun infolge der staatlich administrierten Lohnpolitik Lohnsenkungen nicht zu verantworten), gelang es Robert Ley, die Kompetenz über den sozialen Wohnbau an sich zu reißen, was allerdings mit dem Fortschritt des Krieges und der damit verbundenen Einschränkungen kaum mehr eine Rolle spielte.

Reichsarbeitsminister Franz Seldte (1882-1947), der von 1933 bis 1945 das Reichsarbeitsministerium leitete, erwies sich trotz einer ihm von außen oft zugesprochenen geringen Sachkenntnis als ein im Hintergrund agierender Koordinator, dem es – wie Alexander Nützenadel in der Einleitung bemerkt – gelang, „Konflikte auszusitzen und das Ministerium so gegen Angriffe von außen zu schützen“. Der Minister konnte sich überdies auf eine loyale Beamtenschaft stützen und überließ dieser auch entsprechenden Freiraum, was allerdings an der vom Reichsarbeitsministerium mitgetragenen und mitadministrierten verbrecherischen Politik nichts ändert. Was in der vorliegenden Publikation nicht thematisiert wird – jedoch in diesem Zusammenhang aus regionalem Interesse zu erwähnen ist (das Folgende nach Hartzmannsgruber [Bearb], Die Regierung Hitler V: 1938 [2008] 553 ff) –, sind jene Gerüchte, die im Zuge der Annexion Österreichs 1938 zum Gesprächsthema wurden: Die Zusammenlegung des österreichischen Handels- und Sozialministeriums zum Ministerium für Wirtschaft und Arbeit wurde in Berlin als Indiz dafür kolportiert, dass dies nun auch von Hitler für das „Deutsche Reich“ geplant sei. Seldte fühlte sich denn auch sofort bemüßigt, ein umfangreiches Elaborat an Hitler zu senden, in dem er die unabdingbare Relevanz eines selbständigen Arbeitsministeriums („Sozialministeriums“) betonte und dies auch mit Verweis auf europäische und außereuropäische Staaten zu untermauern suchte. Wiewohl Wirtschaftsminister Walter Funk dieses Gerücht 1939 erneut zu streuen versuchte und unverhohlen Ambitionen für die Agenden des Reichsarbeitsministeriums zu zeigen schien, beließ Hitler den Reichsarbeitsminister in seinem Amt, das allerdings im Verlauf des Krieges zunehmend Kompetenzen abgeben musste.

Wiewohl hier nur einige Thematiken des instruktiven Sammelbandes angerissen werden konnten, so sehr darf man gespannt auf die avisierten weiteren Studien zu einzelnen Themenbereichen blicken, zumal mit der vorliegenden Publikation die Aufarbeitung der „Geschichte des Reichsarbeitsministeriums im Nationalsozialismus“ keineswegs abgeschlossen ist. Ab 2018 werden im Rahmen des Forschungsprojektes fünf Einzelmonografien zu verschiedenen Schwerpunktthemen erscheinen: So wird Ulrike Schulz über die Organisationsgeschichte des Reichsarbeitsministeriums 1919-1945 berichten, Swantje Greve den „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ und Sören Eden die „Treuhänder der Arbeit“ behandeln. Auf die nationalsozialistische Rentenversicherungspolitik wird Alexander Klimo und auf die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenhilfe Henry Marx eingehen. Die genannten AutorInnen gaben im vorliegenden Band bereits einen ersten informativen Überblick über ihr Thema.

Bietet somit bereits der erste Band einer Geschichte des Reichsarbeitsministeriums im Nationalsozialismus ein eindrucksvolles und nachahmenswertes Beispiel für die historische Aufarbeitung einer ministeriellen Administration im NS-Regime, welchen man eine breite Leserschicht insb aus der Beamtenschaft wünschen würde, so darf man auf die weiteren Bände – über die DRdA berichten wird – mit Freude sehr gespannt sein.