9Art 45 AEUV bedingt keine Ausdehnung der AN-Mitbestimmung im Aufsichtsrat auf AN ausländischer Betriebe
Art 45 AEUV bedingt keine Ausdehnung der AN-Mitbestimmung im Aufsichtsrat auf AN ausländischer Betriebe
Verlieren die bei den inländischen Betrieben eines Konzerns beschäftigten AN das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der AN-Vertreter im Aufsichtsrat der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft des Konzerns sowie gegebenenfalls das Recht auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats, wenn sie ihre Stelle in einem solchen Betrieb aufgeben und eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns antreten, widerspricht dies Art 45 AEUV nicht.
[...]
10 Herr Erzberger ist Anteilseigner von TUI, die an der Spitze einer im Touristiksektor tätigen Unternehmensgruppe (im Folgenden: TUI-Gruppe) steht.
11 Die TUI-Gruppe ist weltweit tätig. Sie hat in der Europäischen Union ungefähr 50.000 AN, von denen etwas mehr als 10.000 in Deutschland arbeiten.
12 TUI fällt unter das MitbestG und wird von zwei Organen geführt, nämlich dem Vorstand, dem die Unternehmensleitung obliegt, und dem Aufsichtsrat, der die Aufgabe hat, den Vorstand unter Beteiligung der AN zu überwachen. Ihr Aufsichtsrat hat 20 Mitglieder. Er besteht zur Hälfte aus Vertretern der Anteilseigner und zur Hälfte aus von den AN bestimmten Vertretern.
13 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach der herrschenden Meinung in der deutschen Lehre und Rsp unter AN zum Zweck der Anwendung des MitbestG nur die AN der im Inland gelegenen Betriebe verstanden würden. Nach dieser Mehrheitsmeinung besäßen die AN einer außerhalb Deutschlands, etwa in einem anderen Mitgliedstaat, gelegenen Tochtergesellschaft eines Konzerns kein aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Aufsichtsrat der Muttergesellschaft des Konzerns. Zudem müsse ein AN der TUI-Gruppe, der ein Amt im Aufsichtsrat der Muttergesellschaft des Konzerns ausübe, dieses Amt aufgeben, wenn er eine Stelle in einer Tochtergesellschaft des Konzerns in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland antrete.
14 Diese Lesart beruhe nicht auf dem Wortlaut des MitbestG, sondern auf dem „Territorialitätsprinzip“, wonach sich die deutsche Sozialordnung nicht auf das Hoheitsgebiet anderer Staaten erstrecken könne, sowie auf der Entstehungsgeschichte des Gesetzes.
15 Herr Erzberger ist dagegen der Ansicht, der Aufsichtsrat von TUI sei nicht richtig zusammengesetzt. Dass die bei einer Tochtergesellschaft der TUI-Gruppe in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten AN, bei denen es sich in der Regel nicht um deutsche Staatsangehörige handeln werde, an der Zusammensetzung des Aufsichtsrats von TUI nicht mitwirken dürften, verstoße gegen Art 18 AEUV. Darüber hinaus sei der Verlust der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat bei einer Versetzung in einen anderen Mitgliedstaat als die Bundesrepublik Deutschland geeignet, die AN davon abzuhalten, von ihrem Recht aus Art 45 AEUV Gebrauch zu machen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen.112
16 Da TUI gegenteiliger Ansicht war, nahm Herr Erzberger das ihm nach den nationalen Rechtsvorschriften zustehende Recht in Anspruch, sich bei einem Streit über die für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats geltenden Rechtsvorschriften an ein Gericht zu wenden.
17 Das Landgericht Berlin (Deutschland) wies seine Klage ab. Es verneinte sowohl eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit als auch einen Verstoß gegen die Freizügigkeit der AN, da der Verlust des Wahlrechts bei einer Versetzung nicht für die Entscheidung der AN ausschlaggebend sei, eine Stelle in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland anzutreten.
18 Das mit der Berufung befasste Kammergericht (Berlin, Deutschland) hält eine Verletzung des Unionsrechts für möglich. Es sei vorstellbar, dass die deutschen Mitbestimmungsvorschriften eine Diskriminierung der AN aus Gründen der Staatsangehörigkeit mit sich brächten und gegen die Freizügigkeit der AN verstießen.
19 Zum einen seien nämlich die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigten AN, im vorliegenden Fall ungefähr 80 % der AN der TUI-Gruppe, anders als die in Deutschland beschäftigten AN, im Aufsichtsrat von TUI nicht vertreten.
20 Zum anderen sei der drohende Verlust der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat geeignet, die AN davon abzuhalten, sich um tatsächlich ausgeschriebene Stellen in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland zu bewerben und sich zu diesem Zweck frei im Unionsgebiet zu bewegen.
21 Da das Kammergericht (Berlin) insoweit keine ausreichende Rechtfertigung sieht, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist es mit Art 18 AEUV und Art 45 AEUV vereinbar, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der AN in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen AN einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind?
Zur Vorlagefrage
Vorbemerkung
22 Im Interesse einer zweckdienlichen Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist den unterschiedlichen Fallgestaltungen Rechnung zu tragen, die es bei den verschiedenen bei einer Gesellschaft der TUI-Gruppe beschäftigten AN gibt.
23 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die TUI-Gruppe nach den Angaben des Vertreters von TUI in der mündlichen Verhandlung außerhalb Deutschlands nur über Betriebe verfügt, die mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet sind.
Zu den bei einer Tochtergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten AN der TUI-Gruppe
24 Das vorlegende Gericht möchte zunächst wissen, ob die Art 18 und 45 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die vorsieht, dass die AN einer Unternehmensgruppe, die bei einer im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässigen Tochtergesellschaft beschäftigt sind, nicht über das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der AN-Vertreter im Aufsichtsrat der Muttergesellschaft dieses Konzerns verfügen.
25 Nach stRsp, auf die der Generalanwalt in Nr 39 seiner Schlussanträge hingewiesen hat, soll Art 18 AEUV, in dem der allgemeine Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verankert ist, eigenständig nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen, für die der AEU-Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (Urteil vom 4.9.2014, Schiebel Aircraft, C-474/12, EU:C:2014:2139, Rn 20 und die dort angeführte Rsp).
26 Art 45 Abs 2 AEUV sieht jedoch zugunsten der AN ein besonderes Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit für den Bereich der Arbeitsbedingungen vor.
27 Daher ist die Situation der in Rn 24 des vorliegenden Urteils genannten AN nur im Licht von Art 45 AEUV zu prüfen.
28 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach stRsp die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit nicht auf Situationen anwendbar sind, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt. Daher sind sie nicht auf AN anwendbar, die nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben oder Gebrauch machen wollen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 1.4.2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn 33, 37 und 38).
29 Wie der Generalanwalt in den Nrn 49 und 55 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist der Umstand, dass die Tochtergesellschaft, bei der die betreffenden AN tätig sind, von einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Sitzstaat der Tochtergesellschaft kontrolliert wird, für die Schaffung eines Berührungspunkts mit einem der von Art 45 AEUV erfassten Sachverhalte ohne Bedeutung.
30 Daher fällt die Situation der in Rn 24 des vorliegenden Urteils genannten AN nicht in den Anwendungsbereich von Art 45 AEUV.
Zu den in Deutschland beschäftigten AN der TUI-Gruppe, die ihre Stelle aufgeben, um eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns anzutreten
31 Sodann möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art 18 und 45 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach die bei den inländischen Betrieben eines Konzerns beschäftigten AN das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der AN-Vertreter im Aufsichtsrat der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft des Konzerns sowie gegebenenfalls das Recht auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats verlieren, wenn sie ihre Stelle in einem solchen Betrieb aufgeben und eine Stelle bei einer in einem anderen113Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns antreten.
32 Hier geht es um AN, die innerhalb der TUI-Gruppe von ihrem Recht aus Art 45 AEUV Gebrauch machen. Daher findet, wie der Generalanwalt in Nr 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie sich aus den Rn 25 und 26 des vorliegenden Urteils ergibt, Art 18 AEUV auf diese Fallgestaltung keine Anwendung.
33 Nach stRsp des Gerichtshofs sollen sämtliche Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit den Unionsangehörigen die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die die Unionsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als ihres Herkunftsmitgliedstaats eine Tätigkeit ausüben wollen. In diesem Zusammenhang haben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten insb das unmittelbar aus dem Vertrag abgeleitete Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um sich zur Ausübung einer Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten. Folglich steht Art 45 AEUV jeder nationalen Maßnahme entgegen, die geeignet ist, die Ausübung der durch diese Vorschrift garantierten Grundfreiheit durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl in diesem Sinne Urteile vom 1.4.2008, Gouvernement de la Communauté française und gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn 44 und 45, sowie vom 10.3.2011, Casteels, C-379/09, EU:C:2011:131, Rn 21 und 22).
34 Das Primärrecht der Union kann einem AN jedoch nicht garantieren, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat als seinen Herkunftsmitgliedstaat in sozialer Hinsicht neutral ist, da ein solcher Umzug aufgrund der Unterschiede, die zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für die betreffende Person je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in diesem Bereich haben kann (vgl entsprechend Urteile vom 26.4.2007, Alevizos, C-392/05, EU:C:2007:251, Rn 76 und die dort angeführte Rsp, sowie vom 13.7.2016, Pöpperl, C-187/15, EU:C:2016:550, Rn 24).
35 Daher verschafft, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn 75 und 78 seiner Schlussanträge festgestellt hat, Art 45 AEUV einem solchen AN nicht das Recht, sich im Aufnahmemitgliedstaat auf die Arbeitsbedingungen zu berufen, die ihm im Herkunftsmitgliedstaat nach den dortigen nationalen Rechtsvorschriften zustanden.
36 Insoweit ist hinzuzufügen, dass es den Mitgliedstaaten mangels Harmonisierungs- oder Koordinierungsmaßnahmen auf Unionsebene in dem betreffenden Bereich grundsätzlich unbenommen bleibt, die Anknüpfungskriterien des Anwendungsbereichs ihrer Rechtsvorschriften zu bestimmen, sofern diese Kriterien objektiv und nicht diskriminierend sind.
37 In diesem Zusammenhang hindert das Unionsrecht einen Mitgliedstaat nicht daran, im Bereich der kollektiven Vertretung und Verteidigung der AN-Interessen in den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer Gesellschaft nationalen Rechts, der bislang nicht Gegenstand einer Harmonisierung oder auch nur einer Koordinierung auf Unionsebene war, vorzusehen, dass die von ihm erlassenen Vorschriften nur auf die AN inländischer Betriebe Anwendung finden. Desgleichen steht es einem anderen Mitgliedstaat frei, bei der Anwendung seiner eigenen nationalen Vorschriften auf einen anderen Anknüpfungspunkt zurückzugreifen.
38 Im vorliegenden Fall gehört die durch das MitBestG eingeführte Mitbestimmungsregelung, die darauf abzielt, die AN durch gewählte Vertreter in die Entscheidungs- und strategischen Organe der Gesellschaft einzubeziehen, sowohl zum deutschen Gesellschaftsrecht als auch zum deutschen kollektiven Arbeitsrecht, deren Anwendungsbereich die Bundesrepublik Deutschland auf die bei inländischen Betrieben tätigen AN beschränken kann, sofern eine solche Beschränkung auf einem objektiven und nicht diskriminierenden Kriterium beruht.
39 Nach alledem kann der bei den in Rn 31 des vorliegenden Urteils genannten AN eintretende Verlust der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechte nicht als Behinderung der durch Art 45 AEUV gewährleisteten AN-Freizügigkeit angesehen werden.
40 Was insb AN betrifft, denen während ihrer Tätigkeit in einem in Deutschland ansässigen Betrieb ein Vertretungsmandat im Aufsichtsrat einer deutschen Gesellschaft übertragen wurde und die Deutschland verlassen, um eine Tätigkeit bei einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat aufzunehmen, ist der Umstand, dass sie in einem solchen Fall auf die weitere Ausübung ihres Mandats in Deutschland verzichten müssen, nur die Folge der legitimen Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, die Anwendung ihrer nationalen Vorschriften im Bereich der Mitbestimmung auf die bei einem inländischen Betrieb tätigen AN zu beschränken.
41 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach die bei den inländischen Betrieben eines Konzerns beschäftigten AN das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der AN-Vertreter im Aufsichtsrat der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft des Konzerns sowie gegebenenfalls das Recht auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats verlieren, wenn sie ihre Stelle in einem solchen Betrieb aufgeben und eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns antreten.
Das vorstehende Urteil behandelt zwei überlappende Rechtsbereiche (Gesellschaftsrecht und kollektives Arbeitsrecht), die der Regelungsdisposition des Unionsrechts grundsätzlich nicht oder nur in wenigen Teilbereichen unterfallen. Es behandelt den Fall (a) der deutschen Mitbestimmung in konzernierten Tochterunternehmen mit Sitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten sowie den AG-114
Wechsel zwischen diesen, nicht jedoch die Frage (b) nach der Mitbestimmung in einer grenzüberschreitend tätigen Gesellschaft mit Betrieben in verschiedenen Mitgliedstaaten. Der letzte Fall (b), den der EuGH nicht untersucht (SA des GA Saugmandsgaard Øe, Rz 35), ist in weiterer Folge von besonderem Interesse, da hier der binnengrenzenüberschreitende Bezug einer Mitbestimmungsregel unmittelbarer erscheint. Beide grenzübergreifenden Sachverhalte werden aus österreichischer Perspektive im Licht des nationalen Kollisions-/Sachrechts und unter dem Aspekt der Garantien des Unionsrechts diskutiert.
Für die Zwecke der Unternehmensmitbestimmung im Gesellschaftsorgan folgt die AN-Zuordnung und -benennung im österreichischen Sachrecht dem Leitbild der Betriebsverfassung. Im Gegensatz zur deutschen Rechtslage wurden die Regelungen zur Mitbestimmung in Gesellschaftsorgangen nicht sukzessive aus dem Regelungszusammenhang der Betriebsverfassung in Sondergesetze (Drittelbeteiligungsgesetz, Mitbestimmungsgesetz) ausgelagert, verselbständigt und mit anderen Anknüpfungseinheiten (Unternehmensbelegschaft in der Mitbestimmung versus Betriebsbelegschaft im deutschen BetrVG) versehen. Die Mitbestimmung im deutschen Gesellschaftsorgan folgt damit anderen Auswahlentscheidungen als die deutsche Betriebsverfassung (Wißmann in
Im internationalen Betriebsverfassungsrecht scheint eine kollisionsrechtliche Behandlung der österreichischen Betriebsverfassung durch den Rückgriff auf das Territorialitätsprinzip als herrschendes Kollisionsprinzip naheliegend (ähnlich wie Rz 13 des Urteils). Versteht man das (bislang) einseitig angewendete Territorialitätsprinzip als Kollisionsregel nach § 1 Abs 1 IPRG (Internationales Privatrechtsgesetz) (OGH 16.9.2011, 9 ObA 65/11s) mit dem Mechanismus einer Schwerpunktbetrachtung der betrieblichen Beschäftigungsbeziehungen, handelt es sich um eine Verweisungsnorm, die unterschiedliche Sachverhalte aufgrund eines legitimen und objektiven Kriteriums diskriminiert. Es ist ein konsistentes, wenngleich einseitiges Verweisungsprinzip. Dieses beurteilt die Zuständigkeit für die Regelungsdisposition von betriebszentrierten Arbeitsbeziehungsfragen nach dem Kriterium des Betriebsschwerpunkts. Liegt der Schwerpunkt der kollektiven Betriebsbeziehungen in Österreich, besteht die stärkste Beziehung zur österreichischen Rechtsordnung und österreichisches Betriebsverfassungsrecht ist anwendbar.
Die Wahl dieses Unterscheidungsmerkmals ist im Einklang mit dem Unionsrecht. Dieses räumt den Mitgliedstaaten das Vorrecht ein, eine Grundsatzentscheidung in der Anbindung der kollektiven AN-Rechte und -Pflichten zu treffen und dabei entweder an das Unternehmen oder aber an den Betrieb anzuknüpfen (vgl die RL 2002/14/EG, RL 2009/38/EG, Erwägungsgrund 5 RL 2001/86/EG oder Art 8 VO [EU] 492/2011). Es bleibt den Mitgliedstaaten daher grundsätzlich unbenommen, den Anwendungsbereich der Betriebsverfassung einzuschränken – selbst, wenn dieser nicht das gesamte mitzubestimmende Unternehmen umfasst (Rz 36). Diese Verweisungsregel wirkt für den Bereich der AN-Mitbestimmung im Zusammenhang mit der betreffenden Anknüpfungseinheit weder beschränkend noch diskriminierend. Konsistent ist dies, solange die Betriebsverfassung nur die Ordnung der (jeweils eigenen) Betriebsangelegenheiten vorsieht. Der Blickwinkel ändert sich, sobald zum Unterscheidungsmerkmal des Betriebs eine weitere Einheit (Gesellschaft) tritt, die einen neuen Regelungskreis eröffnet. Infolge des Aufeinandertreffens und der Verschränkung zweier Anknüpfungseinheiten (Gesellschaft und Betrieb), die für den Bereich der AN-Mitbestimmung im Gesellschaftsorgan relevant sind, verlieren die jeweiligen Kollisionsregeln zum Gesellschafts- und Betriebsverfassungsrecht die für sich beanspruchte Ausgewogenheit. Diese gilt nur jeweils für den isolierten Anknüpfungsgegenstand, nicht notwendig für beide verschränkten Rechtsgebiete.
Die Einschränkung der Mitbestimmung auf die AN-Vertreter von inländischen Betrieben zeitigt Konsequenzen für die gesamte Arbeitnehmerschaft der Gesellschaft. Schließlich trifft der Aufsichtsrat einer Gesellschaft oder eines Konzerns Entscheidungen mit Folgen für alle AN – auch für jene, die nicht an der österreichischen Betriebsverfassung und damit der Entsendeentscheidung nach dem ArbVG teilhaben (können). Fraglich ist, wie mit jenen AN der Gesellschaft umzugehen ist, die nach dem ArbVG nicht an der Mitbestimmung beteiligt werden.115Zählt man die Mitbestimmung im Aufsichtsrat als Bestandteil des (jeweiligen) Betriebsverfassungsstatuts, wäre es denkbar, dass neben dem österreichischen auch ein anderes (zB deutsches oder italienisches) Betriebsverfassungsrecht potentiell zur Beschickung eines österreichischen Aufsichtsrats mit den respektiven AN-Vertretern einbezogen werden könnte. Das österreichische Sachrecht sieht zwar nur eine Beschickung gesellschaftsrechtlicher Organe durch österreichische AN-Vertreter vor, schließt fremde jedoch auch nicht explizit aus. Weder AktG, GmbHG, VAG (Versicherungsaufsichtsgesetz) oder GenG (Genossenschaftsgesetz) versperren sich gemäß ihrem Wortlaut der Mitbestimmung im Aufsichtsorgan durch fremde AN-Vertretungsregime, wenngleich die Regelungsterminologie einen eindeutigen und zugleich historischen Österreichfokus erkennen lässt (vgl Koppensteiner, Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten im Recht der GmbH, in FS Binder [2010] 775 f). Lässt das österreichische Recht nur österreichische AN bzw deren Vertreter an der Mitbestimmung teilhaben, werden die Interessen der Unternehmens-AN fremder Betriebsverfassungsstatute ignoriert, wenn nicht sogar im schlimmsten Fall benachteiligt. Auf diesen Fall reagiert nur die unionsrechtlich determinierte Sonderbestimmung gem § 258 Abs 1 Z 3 und Abs 3 ArbVG. Ob die Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats AN an der Leitung einer Gesellschaft nach fremdem (zB österreichischem) Recht teilhaben lassen kann, muss an der Niederlassungsfreiheit des österreichischen Unternehmensträgers gemessen werden. Der Gedanke einer Berücksichtigungspflicht fremder Vertretungsregime ist aus AN-Schutzgedanken nicht ganz abwegig, da diese auch im Rahmen der Freizügigkeitsrechte ihren Platz finden. Umgekehrt wird mit plausiblen Argumenten vertreten, dass die Mitbestimmungsregeln auch auf fremde Gesellschaftsformen zur Anwendung gelangen könnten/sollten (vgl Schneller/Preiss in
Geht man entgegen der obigen Annahme davon aus, dass einzig das (österreichische) Gesellschaftsstatut die Mitbestimmungsmöglichkeit vorgibt, läge durch die alleinige Bemühung der nationalen Betriebsverfassungsmechanismen eine Ungleichbehandlung der nicht erfassten Unternehmens-AN nahe (vgl Koppensteiner in FS Binder 773 f). Einzig sie werden an der Mitbestimmung nicht beteiligt. Bei der Regelung der AN-Mitbestimmung des Gesellschafts- und Betriebsrechtverfassungsrechts handelt es sich um kommunizierende Gefäße. Unabhängig davon, welchem Anknüpfungsgegenstand man die Zuständigkeit für die AN-Mitbestimmung im Gesellschaftsorgan zumisst, begegnet die österreichische Rechtsordnung dem Themenkomplex letztlich mit einer auf inländische Institutionen ausgelegten Regelungssystematik, die fremde Partizipationsmechanismen unberücksichtigt lässt.
Nach dem Problemaufriss im nationalen Recht stellt sich die Frage, inwieweit in den Fällen (a) und (b) das Freizügigkeitsrecht berührt wird, wenn gewisse Unternehmens-AN von der Mitbestimmung ausgeschlossen werden.
Der EuGH prüft die Sachverhalte des Falles (a) im Lichte des Art 45 AEUV, da dieser die Berechtigung zur AN-Mitbestimmung im Gesellschaftsorgan zu den sonstigen Arbeitsbedingungen iSd Art 45 Abs 2 AEUV zählt (Rz 26 f; SA des GA Rz 44). Durch die Berufung auf den ausdifferenzierenden und damit verdrängenden Art 45 AEUV (Rz 30 und 32) an der Stelle des allgemeineren Art 18 AEUV schränkt der EuGH das allgemeine Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit in Belangen der AN-Freizügigkeit ein. Schließlich greift die AN-Freizügigkeit nach Art 45 Abs 3 AEUV nur für gewisse grenzüberschreitende Konstellationen, dafür aber dann weiter (Beschränkungsverbot). Die bloße Beteiligungs- oder Beherrschungsverbindung zweier Tochtergesellschaften durch eine ausländische Muttergesellschaft wird vom EuGH nicht als ausreichender Anknüpfungspunkt einer grenzüberschreitenden Beziehung im Rahmen von Art 45 AEUV erachtet (Rz 30). An dieser Meinung ließe sich zwar aussetzen, dass es sowohl dem Gesellschafts- als auch Betriebsverfassungsrecht nicht fremd ist, anstelle eines vorgelagerten Unternehmensträgers auf den tatsächlich Verfügungsberechtigten abzustellen. Die rechtsordnungsübergreifende Konzernierung führt alleine noch zu keiner ausreichenden grenzüberschreitenden Dynamik, die durch die Freizügigkeitsgarantien des Unionsrechts erfasst wird. Die rechtliche bzw faktische Verklammerung von Gesellschaften jenseits von Landesgrenzen gebietet keine Ausdehnung oder Erweiterung der Mitbestimmung der AN (vgl Kort, Aufsichtsratswahl bei grenzüberschreitendem Konzern – TUI, NZG 2017, 703 [705]).
Im fiktiven Sachverhalt (b) verfügt ein österreichischer Unternehmensträger mit Sitz in Österreich über mehrere Betriebe in unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Während im Gegensatz zu Fall (a) nur ein Gesellschaftsstatut (Österreich) einschlägig ist, kommen für die Betriebe in den Mitgliedstaaten und die darin beschäftigten AN unterschiedliche Betriebsverfassungsstatute zur Anwendung. Wechselt ein AN für seinen AG in einen anderen Mitgliedstaat XY, kommt es idR zu einem für die Mitbestimmung relevanten Statutenwechsel. Gleichzeitig provoziert der Übertritt in die Rechtsordnung bzw das Staatsgebiet des anderen Mitgliedstaats XY die Anwendung des Freizügigkeitsrechts. Ob die Ungleichbehandlung ausländischer Belegschaftsteile durch das nationale Kollisionsrecht (zB mittels Weiter- oder Rückverweisungen) oder das Sachrecht erfolgt, ist für die Prüfung der Freizügigkeitsrechte nicht maßgeblich. Entscheidend ist, dass über die Pforte des Betriebsverfassungsrechts (ArbVG) in ausländische Betriebe wechselnde AN einer grenzüberschreitend aktiven, österreichischen Gesellschaft regelmäßig ausgeschlossen werden. Es erfolgt eine Ausklammerung von wechselfreudigen AN und solchen AN, die wegen ihrer Tätigkeit im Ausland vorwiegend die Staatsangehörigkeit anderer Mitgliedstaaten besitzen. Die Ungleichbehandlung von ausländischen116und inländischen Unternehmens-AN ist evident. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass das Unionsrecht daran Rechtsfolgen knüpft.
Der EuGH befindet, dass der Umzug in einen anderen Mitgliedstaat für einen AN „in sozialer Hinsicht [nicht] neutral“ (Rz 34) sein müsse, da das Unionsrecht die Systeme der Mitgliedstaaten nicht einebnen oder angleichen möchte. Es ginge nicht darum, die „günstigen“ Berechtigungen für einen AN bei Wegzug aus einem Mitgliedstaat zu erhalten und zu exportieren (vgl Steinmeyer in
einem zukünftigen hypothetischen Ereignis,[... welches]
der Arbeitnehmer selbst weder herbeigeführt noch zu vertreten hat“ (Rs Graf, Rz 24), zu verneinen. Ein einzelner AN kann das Betriebsverfassungsstatut der Arbeitsorganisation oder das Gesellschaftsstatut des AG durch die Ausübung seines Freizügigkeitsrechts alleine noch nicht ändern. Hinzu tritt, dass aus der Sicht des einzelnen AN die Auswirkungen der Entscheidungen der mittelbar gewählten Aufsichtsratsmitglieder keine ausreichende direkte Wirkung entfalten. In Ansehung der Mitbestimmungsregeln der beteiligten Mitgliedstaaten interessiert, inwieweit die AN-Mitbestimmung für die persönliche Freizügigkeitsentscheidung des einzelnen AN einen maßgebenden Einfluss ausübt (siehe dazu Wienbracke, Deutsches Mitbestimmungsgesetz arbeitnehmerfreizügigkeitskonform, NZA 2017, 1036 [1039 mwN]). Mit Steinmeyer (in
Zählte man die Mitbestimmung im Aufsichtsrat allerdings zu einem wesentlichen, weil spürbaren Kriterium im Rahmen der AN-Freizügigkeit, bedürfte die Beschränkung einer Rechtfertigung. Das wäre denkbar für wechselwillige Aufsichtsratsmitglieder der AN-Bank (kritisch Krause, Zur Bedeutung des Unionsrechts für die unternehmerische Mitbestimmung, AG 2012, 485 [490 f]). In Bezug auf die Mitbestimmung im Gesellschaftsorgan verwies der EuGH in der Rs Erzberger hauptsächlich darauf, dass es sich bei der AN-Mitbestimmung in Unternehmensträgern um ein nicht harmonisiertes Rechtsgebiet handelt. Doch auch diese Konstellation hat den EuGH zuvor schon nicht davon abgehalten, eine Freizügigkeitsverletzung zu prüfen. Das legt die Rechtsprechungsentwicklung der Rs Daily Mail (C-81/87, EU:C:1988:456, Rz 23 f) zur Rs Centros (C-212/97, EU:C:1999:126, Rz 28 und 34) nahe, wonach auch nicht-harmonisierten Rechtsbereichen der Spiegel der Freizügigkeitsrechte vorgehalten wird. Ohne materiellen Vorgriff auf eine Rechtfertigungsprüfung stellt der EuGH schemenhaft in den Raum, dass die Kriterien der Beschränkung der AN-Mitbestimmung auf inländische AN auf einem „objektiven und nicht diskriminierenden Kriterium“ (Rz 38) beruhen müssen.
Die AN-Mitbestimmung fällt zwar in den Anwendungsbereich von Art 45 Abs 2 AEUV. Der Verlust der mittelbaren Mitbestimmung im Gesellschaftsorgan beschränkt AN aber nicht (ausreichend) von einer Tätigkeitsaufnahme in anderen Mitgliedstaaten. Da die vom EuGH geprüfte paritätische Mitbestimmung des deutschen Mitbestimmungsgesetzes im europäischen Rahmen die für AN günstigste sein dürfte, ist nicht damit zu rechnen, dass eine allfällige Vorlage zu § 110 ArbVG in Bezug auf einen Konzern oder auch ein Unternehmen zu einem abweichenden Ergebnis führte.117