Gedanken zur sozialen Selbstverwaltung
Gedanken zur sozialen Selbstverwaltung
Begriff
Geschichte
Selbstverwaltung und Verfassung
Die ältere Lehre
Die Judikatur des VfGH
Die B-VG-Novelle 2008
Zulässigkeit und Einrichtungsschranken
„Pflichtmitgliedschaft“
Finanzautonomie
Staatsziel Sozialpartnerschaft
Recht auf Selbstverwaltung?
Bestandsgarantie?
Auflösungsschranken
Gesamtänderung der Verfassung?
Wesensmerkmale
(Relative) Unabhängigkeit — Weisungsfreiheit
Gesetzliche Zugehörigkeit
Demokratische Legitimation
Finanzautonomie
Staatsaufsicht
Rechnungshofkontrolle
Praktische Erfahrungen
Reformbedarf
Schlussbemerkung
Selbstverwaltung ist eine besondere Organisationsform der öffentlichen Verwaltung, bei der gesetzlich eingerichtete Körperschaften in (relativer) Unabhängigkeit vom Staat autonom und weisungsfrei gemeinsame Aufgaben der ihnen angehörenden Personen erfüllen.*
Die Staats- und Verwaltungsrechtslehre unterscheidet verschiedene Arten der Selbstverwaltung:*
die territoriale Selbstverwaltung durch die Gemeinden;
die wirtschaftliche Selbstverwaltung durch die gesetzlichen Interessenvertretungen (Kammern) der AN und der AG;
die berufliche Selbstverwaltung durch die Kammern der freien Berufe;
die soziale Selbstverwaltung durch die Träger der SV;
die kulturelle und wissenschaftliche Selbstverwaltung.
Das positive Verfassungsrecht kennt seit der B-VG-Novelle 2008* zwei Arten von Selbstverwaltung, nämlich die Selbstverwaltung durch die Gemeinden (Art 115 ff B-VG) und die „Sonstige Selbstverwaltung“ (Art 120a bis 120c B-VG). Für letztere wird mitunter in der Lehre auch der Begriff „funktionale Selbstverwaltung“* verwendet. Zur „Sonstigen Selbstverwaltung“ gehören insb auch die gesetzlichen Interessenvertretungen* und die Sozialversicherungsträger.*
Über die Systematik der Begriffsbestimmung und über die Abgrenzung der Begriffe lässt sich streiten. Ich halte es zB für sachgerechter, die gesetzlichen Interessenvertretungen der AG und der AN nicht der wirtschaftlichen,* sondern der sozialen Selbstverwaltung zuzuordnen, weil sie durch ihre Tätigkeit – auch in der spezifischen Form der Sozialpartnerschaft – die Sozialordnung entscheidend (mit)gestalten und prägen.
Für den verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsbegriff ist letztlich maßgeblich, dass die wesentlichen Kriterien der Selbstverwaltung erfüllt werden. Nur dann kann von Selbstverwaltung iSd Verfassung gesprochen werden (Näheres unter 4.)
Den folgenden Ausführungen liegt ein Begriff der „sozialen Selbstverwaltung“ zugrunde, der sich sowohl auf die gesetzliche Interessenvertretung der AN (Arbeiterkammer) als auch auf die SV bezieht. Im Hinblick auf die immer wiederkehrende, zuletzt neuerlich politisch aktualisierte Diskussion über Organisationsreformen in der SV steht dieser Bereich im Fokus der Betrachtungen.
Wer sich Gedanken über die Selbstverwaltung macht, über ihre aktuelle Bedeutung und über ihre Rolle in der Gesellschaft der Zukunft, der muss auch zurückschauen in die Vergangenheit.* Das kann hier nur skizzenhaft und unvollständig geschehen, aber auch die verkürzte und eingeschränkte Sicht auf die Geschichte macht zweierlei deutlich:
Erstens: Die Selbstverwaltung ist keine Erscheinung der jüngsten Zeitgeschichte, auch nicht – wie mitunter behauptet wird – Bestandteil der Bismarck‘schen Strategie, dem politischen Erstarken der Arbeiterbewegung durch Sozialgesetzgebung entgegenzuwirken. Ihre Wurzeln reichen weiter zurück, in Österreich bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in die Zeit des revolutionären Kampfes um die bürgerlichen Freiheiten gegenüber dem Staat.*
Und noch ein Zweites lehrt die Geschichte: Zwischen Selbstverwaltung und Demokratie besteht ein enger Zusammenhang. Selbstverwaltung ist ein wesentliches Element einer lebendigen Demokratie. Und umgekehrt: Diktaturen dulden keine Selbstverwaltung. Deshalb ist es kein Zufall, dass es in der fast 100-jährigen Geschichte unserer Republik nur eine einzige* kurze Periode ohne Selbstverwaltung gegeben hat, nämlich die Zeit der NS-Gewaltherrschaft, in der mit der Demokratie auch die Selbstverwaltung liquidiert worden ist.* Schon im ersten Jahr nach dem Revolutionsjahr 1848 wurde das „Provisorische Gesetz über die Errichtung von Handelskammern“ erlassen, 1868 das Gesetz über die „Organisirung der Handels- und Gewerbekammern“, in den letzten Jahren der Monarchie entstanden gesetzliche Selbstverwaltungseinrichtungen für diverse freie Berufe (Advokaten, Notare, Ärzte, Apotheker, Ingenieure).
Auch die Selbstverwaltung in der SV hatte ihren Ursprung bereits in der Monarchie: Am 28.12.1887 beschloss das Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrats das Gesetz über die Arbeiter-UV und im folgenden Jahr das Gesetz über die Arbeiter-KV. Beide Gesetze sahen ein auf dem Prinzip der Selbstverwaltung basierendes Organisationssystem vor.
Der Kampf der Arbeiter und Angestellten um die Errichtung einer gesetzlichen Interessenvertretung – als Gegengewicht zu den Handelskammern – konnte hingegen erst in der jungen Republik mit dem Arbeiterkammergesetz (AKG) vom 26.2.1920, untrennbar mit dem Namen von Ferdinand Hanusch* verbunden, erfolgreich abgeschlossen werden.
Am 9.9.1955 wurde das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) vom NR beschlossen.* Die Gestaltung der Organisation der SV war schon damals ideologisch umstritten, Einigkeit bestand aber über den bereits vorher durch das Sozialversicherungsüberleitungsgesetz 1947 (SV-ÜG)* wieder hergestellten Grundsatz der Selbstverwaltung.* Wesentliche Änderungen der Organisation brachten dann die 29. ASVG-Novelle* und die 52. ASVG-Novelle.* Dabei ging es immer wieder um Einsparungen, Verwaltungsvereinfachungen sowie um die Nähe zu den Versicherten.* Eine vor der 52. Novelle von der Regierung in Auftrag gegebene Organisationsanalyse* kam zu dem Schluss, dass der Kern der gewachsenen Strukturen, vor allem das Prinzip der Selbstverwaltung, nicht angetastet werden sollte. Mehr Effizienz und Versichertennähe sollten durch eine Verkleinerung der Gremien, durch die Einrichtung von Versichertenbeiräten* sowie durch ein „Allsparten-Service“ erreicht werden.
Eine völlige Neuordnung der Struktur der SV war hingegen das Ziel der von der ÖVP-/FPÖ-Regierung mit der 58. ASVG-Novelle* 2001 und mit der 63. Novelle* angestrebten Organisationsreformen. Durch eine Bestimmung in der 58. Novelle,* wonach leitende Funktionäre kollektivvertragsfähiger Institutionen nicht der Geschäftsführung oder dem Verwaltungsrat des Hauptverbands angehören können, wurde versucht, die traditionell enge Verbindung zwischen SV und Gewerkschaften zu trennen.* Eine „Reform“ nach dem Muster des Hauptverbands sollte dann auch bei den Gebietskrankenkassen durchgeführt werden.
Durch die E des VfGH vom 10.10.2003, G 222/02, VfSlg 17.023, wurde die Hauptverbandsreform wegen Widerspruchs der Bestimmungen über die Zusammensetzung des Verwaltungsrats und der Geschäftsführung zu den Grundsätzen der Selbstverwaltung hinsichtlich der Vertretung der Sozialversicherungsträger, der demokratischen Legitimation und der Weisungsungebundenheit sowie wegen Unsachlichkeit der Unvereinbarkeitsbestimmung für leitende Gewerkschaftsfunktionäre als verfassungswidrig aufgehoben.
Die nächste Regierung setzte sich eine umfassende Verfassungsreform zum Ziel, die im Rahmen eines „Österreich-Konvents“ erarbeitet werden sollte. Dabei wurden auch Vorschläge für eine verfassungsrechtliche Verankerung der Selbstverwaltung und der Sozialpartnerschaft diskutiert, über die aber zunächst kein Konsens erzielt werden konnte. Erst im Zuge der parlamentarischen Ausschussberatungen wurde ein neuer Abschnitt über die „Sonstige Selbstverwaltung“ in das B-VG eingefügt und mit der B-VG-Novelle 2008 vom NR beschlossen (Näheres unter 3.3.).
Da aber die politische Diskussion über die Zweckmäßigkeit und über die Effizienz der Organisationsstruktur der SV auch nach der B-VG-Novelle weiterging, beauftragte die Bundesregierung die renommierte London School of Economics mit der Durchführung einer Effizienzanalyse des österreichischen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems (die sogenannte LSE-Studie). Diese Studie wurde im August 2017 vom damaligen Sozialminister Alois Stöger der Öffentlichkeit präsentiert und ist seither die Grundlage für Diskussionen und Vorarbeiten für eine angestrebte Reform.*
Im Zeitpunkt des Inkrafttretens der republikanischen Verfassung am 1.10.1920 gab es in Österreich bereits eine Vielzahl von Einrichtungen, die nach dem Prinzip der Selbstverwaltung organisiert waren. Dennoch enthielt das B-VG in seiner ursprünglichen Fassung – abgesehen von rudimentären, erst mehr als 40 Jahre später vervollständigten Regelungen für die kommunale Selbstverwaltung – keine explizite Regelung der Selbstverwaltung.
Das „Schweigen“ der Verfassung* wurde von der Lehre unterschiedlich interpretiert,* wobei das Meinungsspektrum von der absoluten verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit dieser Form der Verwaltung* bis hin zur Selbstverständlichkeit des Status quo auch ohne ausdrückliche Regelung in der Verfassung reichte.
Im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stand dabei die Frage, ob der einfache Gesetzgeber im Hinblick auf Art 20 Abs 1 B-VG, wonach die gesamte staatliche Verwaltung unter Bindung an die Weisungen der obersten Organe geführt wird, überhaupt weisungsfreie Selbstverwaltungskörper schaffen darf.
Erste Anknüpfungspunkte im Verfassungstext wurden durch das Inkrafttreten der Kompetenzartikel des B-VG mit 1.10.1925 geschaffen. Der Kompetenztatbestand des Art 10 Abs 1 Z 8 zählt unter den in Gesetzgebung und Vollziehung in die Zuständigkeit des Bundes fallenden Angelegenheiten ausdrücklich auch „Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie“ auf, und in Z 11 werden ua „Kammern für Arbeiter und Angestellte“ sowie das „Sozial- und Vertragsversicherungswesen“ angeführt.
Erst in der Zweiten Republik hat die Verfassungsdogmatik die Kompetenzartikel des B-VG als Begründung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der „Sonstigen“ Selbstverwaltung nutzbar gemacht. Mit einer spezifischen Variante der „Versteinerungstheorie“ hat Leopold Werner* die Zulässigkeit der Selbstverwaltung aus den Kompetenzartikeln abgeleitet: Der Verfassungsgesetzgeber, der bereits im Jahr 1920 mit einer Vielfalt von Selbstverwaltungskörpern konfrontiert gewesen sei, habe diese „stillschweigend“ übernommen. Die Schaffung solcher Selbstverwaltungskörper sei „im Rahmen des Organisationsplanes und des politischen Programmes der Bundesverfassung gelegen, daher als zulässig zu erachten“.* Einen Schritt weiter ging Ringhofer,* der aus dem Verständnis des Art 20 B-VG als einer bloß auf die Bundes- und Landesverwaltung bezogenen Verfassungsnorm die Ermächtigung des einfachen Gesetzgebers ableitete, auch neue Selbstverwaltungskörper entsprechend den Vorgaben der Verfassung einzurichten.*
Es war dann vor allem Karl Korinek, der zu Beginn der 1970er-Jahre mit seinen Arbeiten über die wirtschaftliche Selbstverwaltung* und über die Selbstverwaltung in der SV* die dogmatischen Grundlagen für das herrschende Verständnis des Verhältnisses von Selbstverwaltung und Verfassung geschaffen hat.
Den weitaus größten Beitrag zur Erhellung der Zusammenhänge zwischen Selbstverwaltung und Verfassung hat der VfGH mit seiner umfangreichen Judikatur zu diesem Themenkomplex geleistet.* Wegen ihrer „Kodifizierung“* im Rahmen der B-VG-Novelle 2008 und der dadurch nach wie vor gegebenen Aktualität werden im Folgenden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die wichtigsten Sentenzen thesenhaft zusammengefasst.
In der Begründung der Leitentscheidung VfGH 1977/VfSlg 8215 („Salzburger Jägerschaft“) hat der VfGH, den Überlegungen von Ringhofer folgend, grundsätzliche Feststellungen getroffen:
Der Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 hat Selbstverwaltung als Organisationstechnik nicht bloß gekannt, sondern – als dem Art 20 B-VG nicht entgegenstehend – auch vorausgesetzt und anerkannt. Die Schaffung von Selbstverwaltungskörpern und damit von Organen, die gegenüber staatlichen Organen weisungsfrei sind, ist somit im Rahmen des Organisationsplanes der Bundesverfassung gelegen. Die Einrichtung von Selbstverwaltung durch den einfachen Bundes- und Landesgesetzgeber ist sohin verfassungsrechtlich zulässig.
Der einfache Gesetzgeber kann jederzeit neue Selbstverwaltungskörper unter Beachtung des Sachlichkeitsgebots einrichten, er muss dabei aber auch verfassungsrechtliche Schranken beachten. Dazu gehört eine staatliche Aufsicht über die Organe der Selbstverwaltung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Außerdem dürfen nur solche Angelegenheiten zum Gegenstand der Selbstverwaltung gemacht werden, die im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der zur Selbstverwaltungskörperschaft zusammengefassten Personen gelegen und geeignet sind, durch diese Gemeinschaft besorgt zu werden.
Aus der Umschreibung des Selbstverwaltungsbegriffes im VfGH-Erk 1977/VfSlg 8215 folgt weiters, dass für die Wahrnehmung von Aufgaben der Selbstverwaltung die finanzielle Selbständigkeit essentiell ist.
Einen Meilenstein in der weiteren Entwicklung der Verfassungsdogmatik zur Selbstverwaltung bildet das Erk des VfGH zur Verfassungswidrigkeit der Hauptverbandsreform 2001 (siehe oben 2.). In der Begründung sind wesentliche Aussagen zusammengefasst:
Im Rahmen der Kompetenzartikel des B-VG wurde im Jahr 1925 eine spezielle Bundeskompetenz in der Gesetzgebung und Vollziehung für das „Sozialversicherungswesen“ festgelegt. Damit wurde auf die seit 1887 entstandenen verschiedenartigen Organisationsmodelle der SV verwiesen, die alle als verfassungsrechtlich zulässige Formen der Selbstverwaltung in der SV angesehen werden müssen. Die Selbstverwaltung in der SV kann sich daher auf ihre ausdrückliche Anerkennung im Wege der Kompetenzartikel stützen (hinsichtlich der Arbeiterkammern VfGH 1979/VfSlg 8644).
Der österreichischen Verfassung kann kein definitorischer Begriff der Selbstverwaltung unterlegt werden. Es handelt sich vielmehr um einen typologischen Begriff, der verschiedenartige Abstufungen zulässt. Entscheidend ist das Gesamtbild. Es besteht daher zur Ausgestaltung der Selbstverwaltung ein ziemlich breiter Spielraum für den einfachen Gesetzgeber.
Mit den in der Vorjudikatur, insb VfGH 1977/VfSlg 8215, genannten Maßgaben liegt es im rechtspolitischen Ermessen des Gesetzgebers, in welchem Umfang er Selbstverwaltung einrichtet, insb welche Personen er zu einem Selbstverwaltungskörper zusammenschließt, der erfasste Personenkreis muss aber durch „objektive und sachlich gerechtfertigte Momente“ abgegrenzt sein.
Dem Anlass entsprechend („Reform des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger“) befasste sich der VfGH in dem Erk G 222/02 VfSlg 17.023ausführlich mit den Anforderungen an die Organe der Selbstverwaltung, insb was deren Weisungsbindung bzw Weisungsfreiheit und demokratische Legitimation betrifft. Unter Hinweis auf die Vorjudikatur stellte er klar:
Art 20 Abs 2 zweiter Satz B-VG wirkt innerhalb der Verwaltungsorganisation des Bundes (Landes) in unmittelbarer Weise, bezieht sich aber nicht unmittelbar auf Organe von Rechtsträgern, die außerhalb der staatlichen Verwaltungsorganisation stehen, wie das bei Selbstverwaltungskörpern der Fall ist.
Dem Bundes- und Landesgesetzgeber steht es somit – auch ohne besondere verfassungsgesetzliche Grundlage – im Prinzip frei, staatliche Aufgaben in Selbstverwaltung besorgen zu lassen und in den damit betrauten Selbstverwaltungskörpern Organe einzurichten, die gegenüber staatlichen Organen weisungsungebunden sind.
Im Hinblick auf das Fehlen eines Weisungszusammenhanges mit demokratisch legitimierten Staatsorganen muss zumindest das oberste Organ eines Selbstverwaltungskörpers über eine demokratische Legitimation verfügen.
Nach stRsp sind die mit entscheidungswichtigen Aufgaben und Befugnissen betrauten Organe des Selbstverwaltungskörpers von diesem „autonom“ aus der Mitte seiner Angehörigen zu bestellen, um demokratisch legitimiert zu sein, woraus sich auch die Notwendigkeit regelmäßiger Neuwahlen in diese Organe ergibt (VfGH 1984/VfSlg 10.306). Die demokratische Bestellung der Organe entspricht einem Kerngedanken der Selbstverwaltung (vgl VfGH 1993/VfSlg 13.500).
Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es nicht geboten, dass Wahlen in Selbstverwaltungsorgane nach denselben Grundsätzen durchgeführt werden wie staatliche Wahlen. Gegen eine indirekte Organbestellung, wie sie gesetzlich für die Selbstverwaltung in der SV vorgesehen ist, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Die – vor allem politisch motivierte – Kritik am „Kammerstaat“* im Allgemeinen und an den Arbeiterkammern im Besonderen hat in den 1990er-Jahren zu umfassenden Reformen des Kammersystems* und zur (neuerlichen) Diskussion über die verfassungsrechtlichen Grundlagen der sozialen Selbstverwaltung geführt.
Nachdem schon im Koalitionsabkommen 1994 eine Reform der gesetzlichen Interessenvertretungen und die Durchführung einer „Befragung aller Mitglieder“ bis Ende 1996 gefordert worden waren, kündigte das Regierungsprogramm der ÖVP-/FPÖ-Regierung 2000 (Schüssel I) eine „Demokratisierung der Selbstverwaltung durch die Direktwahl der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter in den Sozialversicherungsträgern
“ an und betonte die „Notwendigkeit von Reformen innerhalb der Sozialpartner und der Kammern
“. Zur Vorbereitung einer grundlegenden Staats- und Verfassungsreform wurde ein „Österreich-Konvent“* unter dem Vorsitz des ehemaligen Rechnungshofpräsidenten Franz Fiedler eingerichtet, der vom 30.6.2003 bis 31.1.2005 über Vorschläge für eine solche Reform der Bundesverfassung beraten hat.
Im Rahmen des Konvents wurde auch eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Verankerung der „Nichtterritorialen Selbstverwaltung“ und der Sozialpartnerschaft vorgeschlagen. Über diesen Vorschlag und über die Grundsätze einer diesbezüglichen Regelung konnte allerdings kein Konsens gefunden werden.* Der Entwurf des Vorsitzenden des Konvents (sogenannter Fiedler-Entwurf) sah in einem Vierten Abschnitt „Besondere Formen der Verwaltung“ drei Artikel (Art 201, 202 und 203) über „Nicht territoriale Selbstverwaltung“ vor, aber auch dieser Entwurf wurde nicht realisiert.*
Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2006 wurde eine Expertengruppe* beim Bundeskanzleramt eingerichtet, die ua Vorschläge für ein „Demokratiepaket“ erarbeiten sollte. Am 7.11.2007 brachte die Regierung die Vorlage für eine Änderung des B-VG und für ein Erstes Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz im NR ein,* die jedoch keine Regelung über die Nichtterritoriale Selbstverwaltung enthielt. Erst im Zuge der Beratungen des Verfassungsausschusses wurde aufgrund eines Abänderungsantrags der Abgeordneten Wittmann und Spindelegger ein neues Fünftes Hauptstück mit dem Titel „Sonstige Selbstverwaltung“ in das B-VG eingefügt.*
Art 120a Abs 1 stellt laut Ausschussbericht* „die Zulässigkeit der Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern klar
“, Abs 2 „hebt die besondere Bedeutung der Sozialpartner und des sozialpartnerschaftlichen Dialogs unter Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern hervor
“. Art 120b Abs 1 „verankert neben der Weisungsfreiheit ein gesetzesergänzendes Verordnungsrecht
“. In Art 120c Abs 1 „wird im Hinblick auf die dem Selbstverwaltungsbegriff nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes innewohnende Befugnis zur Bestellung der eigenen Organe aus der Mitte der Verbandsangehörigen das Erfordernis der demokratischen Organkreation verankert
“. Durch die Bestimmung des Art 120c Abs 1 wird „gewährleistet, dass Selbstverwaltungskörper in die Lage versetzt sind, die ihnen zukommenden Aufgaben wahrzunehmen, wobei bei der Erfüllung der Aufgaben die Grundsätze der Sparsamkeit und der Wirtschaftlichkeit einzuhalten sind
“.
Die Bestimmungen des Fünften Hauptstücks des B-VG wurden am 5.11.2007 vom NR beschlossen und sind mit 1.1.2008 in Kraft getreten.*
Über die Sinnhaftigkeit der durch die Verfassungsnovelle 2008 in das B-VG eingefügten Bestimmungen über die „Sonstige Selbstverwaltung“ und deren konkrete Bedeutung gehen die Meinungen in der Lehre auseinander. Während Funk* (bezogen auf die Wirtschaftskammern) überhaupt keinen Regelungsbedarf sieht, betont Korinek,* dass der vor der Novelle vereinzelt geäußerten Kritik an der Judikatur des VfGH hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Selbstverwaltung „nunmehr jede Grundlage entzogen
“ sei. Der Verfassungsgesetzgeber „kodifizierte nur, was gesicherter Stand der verfassungsgerichtlichen Judikatur war
“. Darüber hinaus akzeptierte die Verfassung die von Verfassungspuristen früher mitunter beklagte „Realverfassung“, in der die Sozialpartner eine besondere Rolle übernommen hatten. Ähnlich der Befund von Öhlinger,* die B-VG-Novelle 2008 habe die Judikatur des VfGH in den Text des B-VG „integriert“, und die Feststellung von Stöger,* die Art 120a bis 120c „fassen die einschlägige Judikatur des VfGH zusammen
“. Dagegen sieht Zellenberg* eine über die Kodifikation des Status quo hinausgehende Wirkung, weil bisher nicht restlos geklärte Streifragen durch die Novelle endgültig entschieden und in einigen wenigen Aspekten die Selbstverwaltung weiter entwickelt werden.
Besonders eingehend hat sich Harald Eberhard in seiner Habilitationsschrift* mit den Bestimmungen der B-VG-Novelle 2008 und deren Bedeutung befasst. Nach einer gründlichen Analyse der Auswirkungen dieser Bestimmungen auf die Dogmatik der Selbstverwaltung kommt er zusammenfassend zum Ergebnis, die Verankerung der Nichtterritorialen Selbstverwaltung im B-VG mit der Novelle BGBl I 2008/2 stelle „in weiten Bereichen eine Nachführung des geschriebenen Gesetzestextes an die verfassungsgerichtliche Judikatur, in bestimmten Teilbereichen aber auch deren Korrektiv dar
“.* Dieser generelle Befund soll im Folgenden anhand bestimmter, für unsere Themenstellung besonders wichtiger Einzelfragen näher spezifiziert werden.
Durch die explizite Regelung in der B-VG-Novelle 2008 ist eindeutig klargestellt, dass der einfache Gesetzgeber zur Schaffung von Selbstverwaltungskörpern legitimiert ist.* Er muss dabei allerdings die Mindestkriterien des Selbstverwaltungsbegriffs, wie sie von der Lehre und vor allem von der Rsp des VfGH (siehe oben 3.2.) schon vor der Novelle 2008 entwickelt worden sind (Einrichtungsschranken), erfüllen.*
Spätestens seit der Verfassungsnovelle 2008 besteht Übereinstimmung darüber, dass die obligatorische Mitgliedschaft (richtig: gesetzliche Zugehörigkeit) ein Wesenselement des verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsbegriffes ist* (Näheres siehe unten 4.4.).
Ebenso wie die „Pflichtmitgliedschaft“ ist auch die finanzielle Eigenständigkeit ein zentraler Aspekt der Selbstverwaltung.* Durch Art 120c Abs 2 und 3 B-VG wird die Verpflichtung zur Bereitstellung entsprechender finanzieller Mittel zur Erfüllung der Aufgaben der Selbstverwaltungskörper konkretisiert und damit deren Finanzautonomie verfassungsrechtlich gewährleistet* (Näheres siehe unten 4.5.).
Unter „Sozialpartnerschaft“ wird üblicherweise das Zusammenwirken der Kapital und Arbeit repräsentierenden Interessenverbände der selbständig und unselbständig Erwerbstätigen mit dem Ziel eines Interessenausgleichs und einer gemeinsamen Politikgestaltung verstanden.* In der spezifisch österreichischen Ausprägung gehören zu den „Sozialpartnern“ auf der AG-Seite die Wirtschaftskammer und die Landwirtschaftskammer und auf AN-Seite die Arbeiterkammer als gesetzliche und der ÖGB als freiwillige Interessenvertretung. Die Sozialpartnerschaft war – und ist – eine der tragenden Säulen des politischen Systems und in vielfältiger Form auch gesetzlich institutionalisiert, allerdings bis zur Novelle 2008 nicht auf Verfassungsebene.* Mit der Verfassungsnovelle 2008 wurde versucht, das vielfach kritisierte Auseinanderklaffen von Formal- und Realverfassung durch Art 120a Abs 2 B-VG zu beseitigen.*
Die Art und Weise, wie dieser Versuch legistisch ausgestaltet wurde, ist auch – und vor allem – bei Befürwortern des Systems der Sozialpartnerschaft auf zum Teil heftige Kritik gestoßen. So hat Korinek* in einer ersten Reaktion kurz nach Inkrafttreten die Bestimmung des Art 120a Abs 2 als „systematisch verfehlt, sprachlich misslungen und mit nur teilweise erkennbarem normativem Gehalt
“ bezeichnet. Später, nachdem andere diese Bestimmung näher analysiert hatten, fand auch Korinek dazu einen positiveren Zugang.*
Man kann den Art 120a Abs 2 wohl als Staatszielbestimmung ansehen, die zwar nicht den Fortbestand des bekannten Systems der Sozialpartnerschaft in der derzeit bestehenden Form garantiert, aber doch den Staat dazu verpflichtet, auch in Zukunft dafür zu sorgen, dass das Gleichgewicht der Sozialpartner erhalten bleibt,* dass es Einrichtungen und Verfahren zur Förderung des sozialpartnerschaftlichen Dialogs gibt, und dass dies durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern geschieht. Das bedeutet zugleich für die derzeit an der Sozialpartnerschaft beteiligten Kammern ein Beseitigungsverbot und damit eine Bestandsgarantie in dieser Eigenschaft. Auch Einrichtungen wie das Kollektivvertragswesen oder das Schlichtungsverfahren nach dem ArbVG könnten als solche zur Förderung des sozialpartnerschaftlichen Dialogs iSd Art 120a Abs 2 B-VG angesehen werden.
Nach überwiegender Auffassung* ergibt sich auch aus der Verfassungsnovelle 2008 keine Verpflichtung des Staates, bestimmte Angelegenheiten der öffentlichen Verwaltung durch Selbstverwaltungskörper besorgen zu lassen. Der Spielraum, der dem einfachen Gesetzgeber nach der Verfassung zur Verfügung steht, bedeutet auch die Entscheidungsfreiheit, bestimmte Aufgaben unter Beachtung der Einrichtungsschranken an Selbstverwaltungskörper zu übertragen – oder aber nicht.* Die Verfassung bietet auch keine Garantie dafür, dass bestimmte Aufgaben, die derzeit durch einfaches Gesetz einem Selbstverwaltungskörper übertragen sind, das auch in Zukunft bleiben müssen. Der Gesetzgeber kann unter den verfassungsrechtlich gebotenen Voraussetzungen Selbstverwaltungseinrichtungen schaffen, er muss es aber nicht. Zweierlei ergibt sich aus der Verfassung in jedem Fall: Sowohl bei der Einrichtung als auch bei der Änderung von Aufgaben der Selbstverwaltungskörper ist das Sachlichkeitsgebot* zu beachten. Und zweitens: Wenn der einfache Gesetzgeber einen Selbstverwaltungskörper eingerichtet hat, steht diesem gem Art 120b Abs 1 B-VG ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes und damit auch vor dem VfGH durchsetzbares Recht zu, die Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs frei von Weisungen oder sonstiger staatlicher Einflussnahme (außer der Staatsaufsicht) zu besorgen.*
Mit den Bestimmungen der Art 120a – c hat der Verfassungsgesetzgeber iSd vorherigen Judikatur des VfGH Einrichtungen der nichtterritorialen Selbstverwaltung explizit als verfassungsrechtlich zulässig bestätigt, zugleich aber weiterhin dem einfachen Gesetzgeber einen relativ weiten Spielraum für die konkrete Ausgestaltung dieser Einrichtungen und deren weitere Entwicklung überlassen. Eine Bestandsgarantie für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Novelle bestehenden Selbstverwaltungskörper kann aus den Art 120a ff nicht abgeleitet werden.* Grenzen und Schranken für künftige Änderungen oder für die Auflösung bestehender Einrichtungen der nichtterritorialen Selbstverwaltung können sich aber aus den Wesensmerkmalen des verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsbegriffs, aus dem Sachlichkeitsgebot, aus dem Grundrechtsschutz und aus dem Vertrauensschutz ergeben.
Änderungen innerhalb eines durch einfaches Gesetz verfassungskonform als Selbstverwaltungskörper eingerichteten Ordnungssystems können einfachgesetzlich vorgenommen werden, solange und soweit die von der Verfassung vorgegebenen Einrichtungsschranken eingehalten werden, also die essentiellen Merkmale des Selbstverwaltungsbegriffs weiterhin gegeben sind (Näheres unter 4.). Wird eines der wesentlichen Kriterien nicht mehr erfüllt, liegt nicht mehr Selbstverwaltung, sondern entweder staatliche Verwaltung oder privatautonome Gestaltung vor. Der Übergang von einem System der Selbstverwaltung auf die staatliche Verwaltung („Verstaatlichung“) oder auf Privatautonomie („Privatisierung“) bedarf einer verfassungsgesetzlichen Regelung. Das wäre zB der Fall, wenn vom derzeitigen System der in Selbstverwaltung geführten sozialen KV auf einen staatlichen Gesundheitsdienst oder aber auf ein System der Privatversicherung übergegangen werden sollte.*
Wie der VfGH in einem bereits nach dem Inkrafttreten der B-VG-Novelle 2008 gefällten Erk* entschieden hat, resultiert aus den Bestimmungen über die nichtterritoriale Selbstverwaltung zwar kein Bestandsschutz jeder einzelnen Einrichtung der Selbstverwaltung* (in diesem Fall eines Fachverbandes der Wirtschaftskammer), aber der Gesetzgeber ist – iSd der bisherigen Lehre und Rsp – an das aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitete Sachlichkeitsgebot gebunden.* Danach bedarf jede Änderung, vor allem aber die Auflösung einer Selbstverwaltungseinrichtung, einer schlüssigen sachlichen Begründung.
Der Gleichheitsgrundsatz verbietet es, einzelne Einrichtungen innerhalb eines Systems der Selbstverwaltung ohne sachliche Rechtfertigung anders zu behandeln als andere. Demnach wäre zB die isolierte Aufhebung einer gesetzlichen Interessenvertretung (Kammer) innerhalb des Gesamtsystems der wirtschaftlichen (sozialen) Selbstverwaltung verfassungswidrig,* ebenso eine gesetzliche Regelung, die das Gleichgewicht der Interessenwahrnehmung innerhalb der Sozialpartnerschaft verschiebt.*
Mit der Verankerung der Sozialpartnerschaft in Art 120a Abs 2 B-VG wurde zwar für die an der Sozialpartnerschaft beteiligten Selbstverwaltungskörper keine neue Bestandsgarantie geschaffen, aber doch eine spezifische Ausgestaltung in Richtung einer „Symmetrie des gesamten Systems“* vorgenommen.
Im Übrigen ist ein Bestandsschutz einzelner Einrichtungen der sozialen Selbstverwaltung durch spezielle Verfassungsbestimmungen in den Organisationsgesetzen gewährleistet. So enthält zB das AKG fünf Verfassungsbestimmungen, die bewirken, dass das gesamte Gesetz nur im Wege einer formellen Verfassungsänderung aufgehoben werden könnte.*
Weitere Auflösungsschranken können sich aus dem Grundrecht der Eigentumsfreiheit* und aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes* ergeben.
Art 120c Abs 2 B-VG garantiert den Selbstverwaltungskörpern das Recht, im Rahmen der Gesetze zur Erfüllung ihrer Aufgaben Vermögen aller Art zu erwerben, zu besitzen und darüber zu verfügen. Sollte mit der Auflösung eines Selbstverwaltungskörpers zugleich die Übertragung oder Liquidation von Teilen seines Vermögens oder des gesamten Vermögens verbunden sein, könnte das nur unter den verfassungsrechtlichen Kautelen vor Eingriffen in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit erfolgen.*
Der durch die Judikatur des VfGH aus dem Grundrechtsschutz, insb aus dem Gleichheitsgrundsatz, der Erwerbs- und der Eigentumsfreiheit abgeleitete Vertrauensschutz bindet den einfachen Gesetzgeber bei Eingriffen in Vertrauenspositionen an inhaltliche und zeitliche Schranken. Er bedeutet ua, dass Änderungen in der Organisationsstruktur von Selbstverwaltungseinrichtungen oder gar die Auflösung solcher Einrichtungen nur längerfristig wirksam werden können.*
Die bisherigen Überlegungen versuchen, den Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers bei der Einrichtung, bei Änderungen oder bei der Auflösung von Selbstverwaltungseinrichtungen auszuloten und abzugrenzen. Nun steht aber – bei Vorliegen einer qualifizierten Mehrheit im Gesetzgebungsverfahren – auch das Instrument eines formellen Verfassungsgesetzes zur Verfügung. Da die österreichische Verfassung keinen „Verfassungskern“ kennt, ist sie relativ leicht abänderbar.* „Im Ergebnis bedeutet dies offenbar, dass jedwede Änderung der Verfassung zulässig ist, wenn nur die verfassungsrechtlichen Formen eingehalten werden.
“* Jede Gesamtänderung der Bundesverfassung ist aber gem Art 44 Abs 3 B-VG einer Volksabstimmung zu unterziehen. Eine Gesamtänderung liegt vor, wenn die Grundlagen des Staatswesens, nämlich die Staatsform oder die bundesstaatliche Organisation oder andere Prinzipien, wozu das demokratische, das rechtsstaatliche Prinzip, die Gewaltenteilung und der Bestand von Grund- und Freiheitsrechten gezählt werden, geändert werden.*
Es stellt sich die Frage, ob Änderungen an dem verfassungsgesetzlich fundierten System der Selbstverwaltung zu einer Gesamtänderung der Verfassung iSd Art 44 Abs 3 führen könnten. Eine solche Fragestellung erscheint zwar auf den ersten Blick geradezu abwegig, wenn man nur einzelne Einrichtungen der Selbstverwaltung in Betracht zieht, bei denen bisher erst versucht werden musste, ihre Verfassungskonformität zu begründen. Anders könnte es freilich aussehen, wenn man die Frage auf das Gesamtsystem der Selbstverwaltung und seine Bedeutung im Hinblick auf die Grundprinzipien der Verfassung bezieht. Dann muss man nämlich auch die Frage beantworten, was im Falle der Beseitigung des gesamten Systems der Selbstverwaltung die Alternative dazu wäre. Da es nach der Verfassung außer der staatlichen Verwaltung und der (verfassungskonformen) Selbstverwaltung keine andere Form der öffentlichen Verwaltung geben kann, wären die Alternativen entweder eine „Verstaatlichung“ der bisherigen Selbstverwaltung oder aber deren „Privatisierung“, am Beispiel der KV also entweder ein staatlicher Gesundheitsdienst* oder aber die Privatisierung der gegenwärtig von der sozialen KV solidarisch getragenen Risken. Oder, wie Korinek* es treffend formuliert hat:
„Die Konsequenz einer Auflösung der beruflichen und wirtschaftlichen Selbstverwaltung wäre ... letztlich eine Abkehr von den Gedanken der Subsidiarität und der Gewaltenteilung und dementsprechend nicht mehr Freiheit, sondern mehr Macht des Staates.“
Die Verfassungsdogmatik geht – wie oben dargestellt – nicht von einem einheitlichen, eindeutig abgrenzbaren, sondern von einem „typologischen“ Begriff der Selbstverwaltung aus, wie er vor allem von Korinek* entwickelt worden ist. Demnach wird der Begriff „Selbstverwaltung“ durch mehrere essentielle Merkmale* konstituiert: Nur wenn die Wesensmerkmale der Selbstverwaltung gegeben sind, kann der einfache Gesetzgeber in verfassungsgesetzlich zulässiger Weise Selbstverwaltungskörper errichten und diesen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung übertragen.
Die folgende Darstellung beschränkt sich auf jene Wesensmerkmale, die für die berufliche und für die soziale Selbstverwaltung von besonderer Bedeutung sind.*
Nach Art 120b Abs 1 haben die Selbstverwaltungskörper das Recht, ihre Aufgaben in eigener Verantwortung frei von Weisungen zu besorgen und im Rahmen der Gesetze Satzungen zu erlassen.
Weisungsfreiheit ist also ein essentielles Kriterium für die Qualifikation als Selbstverwaltungseinrichtung. Sie gilt für den eigenen Wirkungsbereich und bedeutet, dass jede inhaltliche Einflussnahme staatlicher Behörden auf die Entscheidungen der Selbstverwaltungskörper in Form von Weisungen ausgeschlossen ist. Die staatliche Ingerenz beschränkt sich auf die Staatsaufsicht (siehe 4.5.).
Auch ein Instanzenzug vom eigenen Wirkungsbereich der Selbstverwaltung an staatliche Organe ist verfassungsrechtlich unzulässig, weil die Möglichkeit, dass eine staatliche Behörde durch ihre Letztentscheidung die Meinungsbildung eines Selbstverwaltungskörpers korrigieren könnte, dessen Autonomie, Aufgaben „in eigener Verantwortung“ zu erfüllen, beseitigen würde.*
Weisungsfreiheit bedeutet auch, dass die Mitglieder der Selbstverwaltungskörper in Ausübung ihrer Funktion an keine Weisungen von außen, also auch nicht an solche der entsendenden Organisation, gebunden sind. Sie haben ihre Tätigkeit im Rahmen der Selbstverwaltung selbstbestimmt auszuüben.
Aus der verfassungsrechtlich gebotenen Weisungsfreiheit folgt weiters:
Organisationsformen, bei denen „gemischte“ Organe aus Mitgliedern der Selbstverwaltung gemeinsam mit weisungsgebundenen Vertretern einer staatlichen Behörde entscheiden, sind verfassungsrechtlich nicht als Selbstverwaltung anzusehen. Ein einfaches Gesetz, das derartige „Mischformen“ in einem Selbstverwaltungskörper vorsieht, wäre verfassungswidrig.
Verfassungswidrig wäre es auch, einen Selbstverwaltungskörper so zu organisieren, dass die Geschäfte von weisungsfreien „Managern“ geführt werden.*) Auch wenn, wie unter Pkt 6. vorgeschlagen, die Generalkompetenz zur operativen Geschäftsführung bei einem hauptberuflichen Management liegt, muss sichergestellt sein, dass dieses an Beschlüsse und Weisungen der zuständigen Organe der Selbstverwaltung gebunden ist. Anderenfalls liegt keine Selbstverwaltung iSd Verfassung vor.
In politischen Diskussionen über das Kammersystem, in der medialen Berichterstattung, aber auch in der juristischen Fachliteratur, wird meistens der Begriff „Pflichtmitgliedschaft“ verwendet.* Dabei kommt dieser Begriff weder in einem Gesetz vor noch entspricht er im Zusammenhang mit der Selbstverwaltung der Sprachlogik: Ebenso wenig wie man „Pflichtmitglied“ einer Gemeinde ist, kann man „Pflichtmitglied“ einer Kammer sein. Der Begriff „Pflichtmitgliedschaft“ ist ideologisch verbrämt und soll offenbar den Eindruck einer unzulässigen Freiheitsbeschränkung vermitteln. Noch mehr trifft das auf den von Kritikern des Kammersystems bewusst gebrauchten, negativ besetzten Begriff „Zwangsmitgliedschaft“* zu.
Richtigerweise ist von „gesetzlicher Zugehörigkeit“ zu sprechen, wie das zB das Arbeiterkammergesetz* ausdrücklich tut.
In der Verfassungsrechtslehre bestand bereits vor der B-VG-Novelle weitestgehend Übereinstimmung darüber, dass die gesetzliche Zugehörigkeit („Pflichtmitgliedschaft“) ein Wesensmerkmal der Selbstverwaltung darstellt.* Seit der Verfassungsnovelle 2008 ist die Diskussion darüber als beendet anzusehen. Art 120a Abs 1 B-VG bestimmt nämlich, dass Personen „durch Gesetz zu Selbstverwaltungskörpern zusammengefasst werden“ können. In den Gesetzesmaterialien* wird ausdrücklich betont, dass „die obligatorische Mitgliedschaft als Strukturelement“ der Selbstverwaltung anzusehen ist.
Damit ist klar:
Kammern ohne „Pflichtmitgliedschaft“ kann es nicht geben;
wer die „Pflichtmitgliedschaft“ abschaffen möchte, will die Selbstverwaltung und damit letztlich die Kammern als solche abschaffen;
ein einfaches Gesetz, das eine Abschaffung der gesetzlichen Zugehörigkeit und ihre Ersetzung durch freiwillige Mitgliedschaft vorsieht, wäre verfassungswidrig, ein Verfassungsgesetz müsste auf seine Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der Verfassung geprüft werden. Die Abschaffung einer vom Verfassungsgesetzgeber schon vorgefundene Einrichtung per Verfassungsgesetz kann bedeuten, dass damit sowohl in das gewaltenteilende Prinzip als auch in das demokratische Prinzip der Verfassung eingegriffen wird und dadurch zwei Baugesetze der Verfassung mit betroffen sind, so dass eine Volksabstimmung erforderlich wäre.
Mitgliederbefragungen, Urabstimmungen oder ähnliche Formen der Willenskundgebung über die gesetzliche Zugehörigkeit zu einem Selbstverwaltungskörper sind rechtlich irrelevant;
die Anordnung einer solchen Maßnahme durch (einfaches) Gesetz wäre verfassungswidrig.
Nach Art 120c Abs 1 B-VG sind die Organe der Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu bilden. Die Organe der Selbstverwaltung müssen also durch die Mitglieder, bei den Kammern durch die gesetzlich Zugehörigen, in der SV durch die Pflichtversicherten, demokratisch legitimiert sein. In welcher Form diese demokratische Legitimation begründet wird, ist in der Verfassung nicht näher geregelt. Der einfache Gesetzgeber hat also diesbezüglich einen weiten Spielraum. In diesem Sinn hat der VfGH schon vor der Verfassungsnovelle 2008 entschieden, dass eine direkte Wahl nicht erforderlich ist, sondern dass auch indirekte Wahlen verfassungskonform sind.* Auch die derzeit einfachgesetzlich geregelte Form der Bestellung der Versicherungsvertreter durch eine Kombination von Wahl und nachfolgender Entsendung durch die gesetzlichen Interessenvertretungen der AN und der AG* entspricht den Vorgaben der Verfassung.
Aus dem verfassungsgesetzlichen Erfordernis der demokratischen Legitimation ergibt sich aber zweierlei: An der Willensbildung zur Bestellung der Organe der Selbstverwaltung dürfen nur Mitglieder des Selbstverwaltungskörpers teilnehmen,*) und zumindest indirekt müssen alle Mitglieder daran mitwirken (können). Ein Ausschluss einzelner Gruppen von Mitgliedern – wie das derzeit bei den in der KV pflichtversicherten, beitragspflichtigen und leistungsberechtigten Pensionisten der Fall ist – widerspricht nicht nur dem Grundsatz der demokratischen Legitimation, wie er im Wortlaut des Art 120c Abs 1 eindeutig zum Ausdruck kommt, sondern auch dem aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleiteten Sachlichkeitsgebot.
Und noch weiteres folgt aus dem Erfordernis der demokratischen Legitimation:
Organe der Selbstverwaltung können nur aus den gewählten bzw entsendeten Vertretern der Mitglieder bestehen, nicht aber aus vom Staat bestellten oder entsandten Funktionären. Vertreter eines Ministeriums können also nur in Wahrnehmung der Staatsaufsicht, nicht aber als stimmberechtigte* Mitglieder eines Selbstverwaltungsorgans an dessen Beratungen teilnehmen. Auch die Bildung „gemischter“ Organe aus Vertretern der Versicherten und aus demokratisch nicht entsprechend legitimierten Regierungsvertretern, wie der im Regierungsprogramm als Leitungsorgan vorgesehene „Verwaltungsrat“, entspricht nicht den Anforderungen des Art 120c Abs 1 B-VG. Ein einfaches Gesetz, das eine derartige Organisationsform als Selbstverwaltung einrichtet, wäre daher verfassungswidrig.*
Finanzielle Autonomie bedeutet, dass die Träger der Selbstverwaltung über das Ausmaß und über die Verwendung der ihnen zur Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel ohne staatliche Einflussnahme selbstbestimmt und eigenständig entscheiden können.* Der Staat kann zwar durch gesetzliche Regelungen über die Aufgaben und über die Finanzierungsgrundlagen den Rahmen vorgeben, innerhalb dieses Rahmens entscheiden aber die Organe der Selbstverwaltung autonom.
Bei den Arbeiterkammern normiert das Gesetz die Umlagepflicht und legt die Höchstgrenze der Umlage mit 0,5 % der für die gesetzliche KV geltenden allgemeinen Beitragsgrundlage bis zur jeweils geltenden Höchstbeitragsgrundlage fest. Innerhalb dieser gesetzlichen Höchstgrenze wird die Höhe der Umlage für die einzelnen Arbeiterkammern autonom von der Hauptversammlung der Bundesarbeitskammer beschlossen.* Die Budgethoheit liegt bei der Vollversammlung der jeweiligen Arbeiterkammer. Sie beschließt den Jahresvoranschlag und den Rechnungsabschluss,* den Erwerb von Liegenschaften, Bauvorhaben und größere Investitionen* sowie über die Aufnahme von Krediten, die Veräußerung und Verpfändung von Liegenschaften nach Maßgabe der ebenfalls autonom beschlossenen Haushaltsordnung. Die Genehmigung der Entwürfe für das Budget und den Rechnungsabschluss, die Genehmigung der Überschreitung von Voranschlagsansätzen sowie die Beschlussfassung im laufenden Budget obliegt dem Vorstand,* die interne Kontrolle der Gebarung nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit wird vom Kontrollausschuss durchgeführt,* die rechnerische Richtigkeit, Übereinstimmung mit dem Voranschlag und die ordnungsgemäße Buchführung darüber hinaus auch durch externe Abschlussprüfer geprüft.
In der SV ist die Beschlussfassung über den Budgetvoranschlag (Haushaltsplan) und über den Rechnungsabschluss der Generalversammlung des jeweiligen Versicherungsträgers vorbehalten. Sie beschließt auch über die Entlastung des Vorstands, dem die Geschäftsführung obliegt.* Den Antrag für die entsprechenden Beschlüsse der Generalversammlung hat die Kontrollversammlung zu stellen, die nach dem Gesetz* dazu berufen ist, die gesamte Gebarung des Versicherungsträgers ständig zu überwachen, zu diesem Zweck insb die Buch- und Kassenführung sowie den Rechnungsabschluss zu prüfen. Vorstand und leitende Angestellte sind der Kontrollversammlung gegenüber auskunftspflichtig, und bestimmte Beschlüsse des Vorstands in finanziellen Angelegenheiten bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Zustimmung der Kontrollversammlung.* Im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger ist die Trägerkonferenz für Beschlüsse in grundsätzlichen strategischen und wichtigen finanziellen Angelegenheiten zuständig, insb für die Beschlussfassung über den Jahresvoranschlag (Haushaltsplan einschließlich eines Investitionsplans), für die Genehmigung des Rechnungsabschlusses und für die Entlastung des Verbandsvorstands sowie für den Jahresbericht des Hauptverbands und der bei ihm errichteten Fonds.*
Die Verfassungsnovelle 2008 hat die von der Lehre und Rsp herausgearbeiteten Strukturmerkmale der „Sonstigen Selbstverwaltung“ festgeschrieben, durch einige Klarstellungen ergänzt und in einigen Punkten auch weiterentwickelt.
Art 120c Abs 2 B-VG bestimmt, dass eine sparsame und wirtschaftliche Erfüllung der Aufgaben der Selbstverwaltungskörper nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen durch Beiträge ihrer Mitglieder oder durch sonstige Mittel sicherzustellen ist. Nach Abs 3 der genannten Bestimmung sind die Selbstverwaltungskörper selbständige Wirtschaftskörper. Sie können im Rahmen der Gesetze zur Erfüllung ihrer Aufgaben Vermögen aller Art erwerben, besitzen und darüber verfügen.
Der AB* stellt dazu fest, durch Art 120c Abs 2 werde „gewährleistet, dass Selbstverwaltungskörper in die Lage versetzt sind, die ihnen zukommenden Aufgaben wahrzunehmen, wobei bei der Erfüllung der Aufgaben die Grundsätze der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit einzuhalten sind
“.
Die Verfassungsnovelle hat also die finanzielle Autonomie der „Sonstigen“ (und somit auch der sozialen) Selbstverwaltung ausdrücklich anerkannt und garantiert. Im Einzelnen ergibt sich daraus Folgendes:
Die Einhebung von Beiträgen oder die Bereitstellung sonstiger finanzieller Mittel zur Erfüllung der Aufgaben der Selbstverwaltungsträger bedarf einer (einfach)gesetzlichen Grundlage. Der Gesetzgeber ist dabei an die verfassungsrechtliche Vorgabe gebunden, dass das Ausmaß der finanziellen Mittel groß genug sein muss, um den Selbstverwaltungskörpern die Erfüllung ihrer ebenfalls gesetzlich determinierten Aufgaben zu ermöglichen.* Eine konkrete Höhe von Beiträgen oder anderen finanziellen Mitteln lässt sich aus der Verfassung zwar nicht ableiten, doch müssen Aufgaben und finanzielle Grundlagen in einem sachgerechten, nachvollziehbaren Verhältnis stehen. Man kann wohl davon ausgehen, dass die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassungsnovelle 2008 geltenden einfachgesetzlichen Regelungen über die Finanzierung der sozialen Selbstverwaltung den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprochen haben. Künftige Änderungen der einfachgesetzlichen Bestimmungen müssen an diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben gemessen werden. Eine Reduzierung der Beiträge oder sonstiger finanzieller Mittel, die dazu führen würde, dass die Selbstverwaltung ihre gesetzlichen Aufgaben nicht mehr erfüllen könnte, wäre verfassungswidrig. Die Entscheidung darüber, wie die finanziellen Mittel zur Erfüllung der Aufgaben verwendet werden, haben die Selbstverwaltungsträger autonom zu treffen. Sie sind dabei (nur) an die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gebunden. Über die Frage der Zweckmäßigkeit des Mitteleinsatzes haben die zuständigen Organe der Selbstverwaltung autonom in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber ihren Mitgliedern zu entscheiden. Gleiches gilt für Entscheidungen über einen allfälligen Reformbedarf hinsichtlich der Aufgabenerfüllung oder der Mittelverwendung. Auch das ist ausschließlich Angelegenheit der Selbstverwaltung. Jede staatliche Intervention – und sei es auch „nur“ in Form einer Ankündigung einschränkender gesetzlicher Regelungen – widerspricht dem Verfassungsverständnis von Selbstverwaltung.
Unter diesen Gesichtspunkten erschiene zB eine einfachgesetzliche Herabsetzung der Höchstgrenze der Arbeiterkammerumlage, wie sie im Wahlkampf vor der NR-Wahl wiederholt gefordert wurde und auch im Regierungsprogramm verklausuliert, aber dennoch unmissverständlich in Aussicht gestellt wird, verfassungswidrig.* Die Reduzierung des Höchstausmaßes der Umlage von 0,5 % auf 0,4 % erscheint zwar gering, bedeutet aber im Ergebnis eine Kürzung der AK-Budgets um 20 %, was wohl zu einer Einschränkung der Leistungen für die kammerzugehörigen AN führen müsste. Damit wäre den Arbeiterkammern – im Widerspruch zur verfassungsrechtlichen Garantie des Art 120c Abs 1 B-VG – die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben nicht mehr möglich.
Noch mehr gilt das hinsichtlich der im Regierungsprogramm angekündigten „Reform“ der AUVA. Abgesehen von der sozialpolitischen Unzumutbarkeit der vorgesehenen Maßnahmen, müsste die Senkung des Unfallversicherungsbeitrags dazu führen, dass die AUVA die bisherigen Leistungen nicht mehr erbringen könnte, diese Leistungen aber weiterhin notwendig wären und von anderen Versichertengemeinschaften oder von staatlichen Einrichtungen erbracht und die Kosten dafür auf diese überwälzt werden müssten, was jedenfalls klar verfassungswidrig wäre.
Bestandteil der verfassungsrechtlich garantierten Finanzautonomie ist auch die Beitragshoheit in der SV. Sie bedeutet, dass die Träger der Selbstverwaltung in der SV die zur Erfüllung ihrer Aufgaben gesetzlich vorgesehenen Beiträge selbst einheben, die Richtigkeit der Beitragsgrundlagen selbst prüfen und über die Verwendung der Beiträge im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen selbst entscheiden können. Eine Übertragung der Kompetenz zur Beitragseinhebung und zur Beitragsprüfung von den Krankenversicherungsträgern auf die staatliche Finanzverwaltung, wie sie im Regierungsprogramm vorgesehen ist, wäre jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn eine staatliche Behörde über die „Zuteilung“ der Beiträge an die einzelnen Selbstverwaltungsträger entscheiden sollte.
Ebenso widerspricht es dem Grundsatz der Finanzautonomie, wenn einem Träger der sozialen Selbstverwaltung durch Gesetz versicherungsfremde Aufgaben oder Leistungen übertragen werden, ohne dass dabei auch für die finanzielle Bedeckung dieser Leistungen durch den Gesetzgeber gesorgt wird.
Die staatliche Aufsicht über die Selbstverwaltungskörper bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Die Instrumente der Staatsaufsicht sind so zu gestalten, dass die Eigenständigkeit der Selbstverwaltungsorgane bei der Erledigung ihrer Aufgaben gewahrt bleibt und die Aufsichtsbehörde nicht in die Lage versetzt wird, selbst Entscheidungen bei Erfüllung von Selbstverwaltungsaufgaben zu treffen.*
Sowohl die Arbeiterkammern als auch die Sozialversicherungsträger unterliegen der Staatsaufsicht. Die diesbezüglichen einfachgesetzlichen Regelungen über den Inhalt und den Umfang der staatlichen Aufsicht unterscheiden sich allerdings deutlich. Während sich das AKG mit einem einzigen kurzen Satz begnügt, nämlich: „Bei Ausübung der Aufsicht ist die Gesetzmäßigkeit und die Einhaltung der nach diesem Gesetz ergangenen Vorschriften (Verordnungen, Richtlinien) zu prüfen
“,* enthält § 449 ASVG eine umfangreiche, detaillierte Regelung über die Ausübung des Aufsichtsrechts,* die ausdrücklich auch die Möglichkeit einräumt, die Aufsicht auf Fragen der Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Sparsamkeit zu erstrecken, wobei sich die Aufsichtsbehörden „auf wichtige Fragen beschränken und in das Eigenleben und in die Selbstverantwortung der Versicherungsträger (des Hauptverbandes) nicht unnötig eingreifen sollen
“. Die Formulierung der Beschränkung der Aufsicht ist zwar ungenau, durch eine ausführliche Judikatur des VwGH aber weitgehend geklärt. Für eine Zweckmäßigkeitskontrolle bestehen drei wichtige Schranken: Es muss sich um eine wichtige Frage handeln, die Maßnahme muss grob zweckwidrig sein, und die Alternative muss rechtmäßig sein.*
Aufgrund der detaillierten gesetzlichen Bestimmungen und der Bindung an das Legalitätsprinzip besteht für die Sozialversicherungsträger zumindest bei der Vollziehung des Leistungsrechts – sieht man vom Satzungsrecht* ab – nur wenig Spielraum für autonome Entscheidungen. Die Arbeiterkammern als gesetzliche Interessenvertretung der AN haben dagegen nach § 1 AKG eine sehr weite, nur allgemein umschriebene Aufgabenstellung, die sie in Selbstverwaltung zu erledigen haben. In diesen weiten Rahmen der Autonomie fällt auch die Frage, welche konkreten Maßnahmen zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben „zweckmäßig“ sind. Dabei handelt es sich um eine interessenpolitische Entscheidung, die nicht von der staatlichen Aufsichtsbehörde, sondern nur von den zuständigen Organen der Selbstverwaltung autonom getroffen werden kann.*
Ähnliche Überlegungen waren maßgeblich dafür, dass die erst im Jahr 1994 eingeführte Rechnungshofkontrolle über die gesetzlichen beruflichen Vertretungen den Umfang der Kontrolle sehr genau regelt und zugleich beschränkt:*
Nach Art 127b B-VG hat sich die Überprüfung des Rechnungshofes auf die ziffernmäßige Richtigkeit, die Übereinstimmung mit den bestehenden Vorschriften, ferner auf die Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Gebarung zu erstrecken; diese Überprüfung erfasst jedoch nicht die für die Wahrnehmung der Aufgaben als Interessenvertretung maßgeblichen Beschlüsse der zuständigen Organe der gesetzlichen beruflichen Vertretungen. Fragen der (interessenpolitischen) Zweckmäßigkeit sind also von der Rechnungshofkontrolle nicht erfasst.
Grundgedanke der sozialen Selbstverwaltung ist, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen ihre Interessen unabhängig vom Staat durch ihre demokratisch legitimierten Vertreter selbst wahrnehmen. Nach diesem Prinzip sind sowohl die Arbeiterkammern als auch die Träger der SV organisiert.
Das Arbeiterkammergesetz 1920 ging von einem Organisationsmodell der AN-Vertretung aus, in dem freiwillige Berufsvereinigungen, nämlich die Gewerkschaften, und gesetzliche Interessenvertretungen, in den Betrieben die Betriebsräte, auf überbetrieblicher Ebene die Arbeiterkammern, in enger Zusammenarbeit und sinnvoller Aufgabenteilung in Selbstverwaltung die AN-Interessen wahrnehmen. Als Vertreter der Betroffenen sollten die Funktionäre der Arbeiterkammern möglichst von der Basis, also aus den Betrieben, kommen und die Selbstverwaltung leiten.
Ähnliches gilt für die Selbstverwaltung in der SV. Auch hier standen von Anfang an die Nähe zu den Versicherten, die Kenntnis ihrer Interessen und Bedürfnisse und die unmittelbare Verbindung mit der betrieblichen Basis im Vordergrund.
Von diesem historischen Idealbild der Selbstverwaltung ist die Realität inzwischen ein Stück weit entfernt. Sowohl in den Einrichtungen der SV als auch in den Arbeiterkammern werden Funktionen der Selbstverwaltung überwiegend von Personen ausgeübt, die hauptberuflich als Angestellte der Gewerkschaften bzw des ÖGB tätig sind. An der Spitze der Selbstverwaltung stehen durchwegs führende GewerkschafterInnen. AN-Vertreter, die unmittelbar aus einem Betrieb kommend, die Selbstverwaltung leiten, sind eher die Ausnahme. Allerdings verfügen auch die aus den Gewerkschaften in Führungspositionen der sozialen Selbstverwaltung kommenden FunktionärInnen durchwegs über eine fundierte Ausbildung und über enge Verbindungen zur betrieblichen Praxis.
Anders wäre es auch kaum möglich: Umfang und Komplexität der Aufgaben und Probleme in einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft sind so groß, dass die Vertretung der AN oder der Versicherten vollen Einsatz und größtmögliche Professionalität erfordert. Vor allem die Leitungsfunktion in den Einrichtungen der SV oder in den Arbeiterkammern ist eine Tätigkeit, die nicht „nebenbei“ ausgeübt werden kann, und die außer entsprechender politischer Erfahrung und „Verankerung“ auch ein hohes Maß an Managementqualität und entsprechende Ausbildung verlangt. Aber auch in den anderen Organen der Selbstverwaltung müssen die Funktionäre über das notwendige Fachwissen verfügen, um wirklich mitentscheiden und die daraus folgende Verantwortung tragen zu können.
Ähnliches gilt auch für die hauptberuflich als AN in Einrichtungen der sozialen Selbstverwaltung Beschäftigten. Sowohl die Arbeiterkammern als auch die Sozialversicherungsträger sind heute bedeutende Dienstleistungsunternehmen mit einer großen Zahl von hoch qualifizierten MitarbeiterInnen, die von einem professionellen Management geführt werden müssen.
FunktionärInnen und Angestellte der Selbstverwaltungseinrichtungen üben ihre Tätigkeit mit hoher Professionalität und großem Engagement aus. Bei den Sozialversicherungsträgern können sich allerdings Probleme einerseits aus der Divergenz zwischen formaler Gesetzeslage und realer Praxis hinsichtlich der Aufgabenverteilung zwischen den Organen der Selbstverwaltung und dem Büro und andererseits durch den Informationsvorsprung und das spezielle Expertenwissen der hauptberuflichen MitarbeiterInnen gegenüber den Entscheidungsträgern der Selbstverwaltung ergeben.
Die Einrichtungen der sozialen Selbstverwaltung verfügen durchwegs über ein gut funktionierendes, professionelles Berichtswesen, das die Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane mit einer Fülle von Unterlagen und Informationen versorgt. Diese Informationsfülle so zu verarbeiten, dass sie eine geeignete Entscheidungsgrundlage darstellt, ist für Mitglieder der Selbstverwaltung, die diese Funktion nicht hauptberuflich ausüben, mitunter schwierig. Die Transformation und Vermittlung von Wissen und Information an die Betroffenen ist eine der wichtigsten Aufgaben und auch eine der großen Stärken des Systems der Selbstverwaltung.* Sie kann aber nur dann funktionieren, wenn die Aufgaben zwischen Selbstverwaltung und Büro sinnvoll und zweckmäßig verteilt sind. Die gegenwärtige gesetzliche Regelung entspricht diesem Erfordernis nicht: Sie ist nicht praxisgerecht und führt dazu, dass die Mitglieder der Selbstverwaltung in ihrer Verantwortung mitunter überfordert werden. Hier – und nicht bei vordergründigen, parteipolitisch motivierten „Strukturdebatten“ – wäre ein Ansatzpunkt für eine Reform der SV, auch in Richtung von mehr Effizienz.
Berufliche und soziale Selbstverwaltung sind unverzichtbare Strukturelemente einer nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der Solidarität organisierten demokratischen Gesellschaft. Um ihren Bestand zu sichern und ihre Funktionsfähigkeit auch in Zukunft zu erhalten, sind zweifellos Reformen notwendig. Vorrangiges Ziel muss dabei sein, die Finanzierung der Sozialen Sicherheit langfristig und nachhaltig sicherzustellen. Eine Reform der sozialen Selbstverwaltung muss aber auch bei der inneren Organisation und bei der Aufgabenverteilung zwischen den Organen der Selbstverwaltung und einer professionellen Geschäftsführung ansetzen. Die derzeit für die SV geltende gesetzliche Regelung entspricht den Erfordernissen einer der Größe und Bedeutung der Sozialversicherungsträger entsprechenden Führung nicht mehr. Die Sozialversicherungsträger haben insgesamt ca 27.000 Beschäftigte und verwalten in Summe ein Finanzvolumen von mehr als 60 Mrd € im Jahr, das entspricht mehr als drei Vierteln des Bundesbudgets.
Nach § 434 ASVG obliegt die Geschäftsführung und die Vertretung des Versicherungsträgers dem Vorstand. Er kann einzelne seiner Aufgaben an Ausschüsse oder an den Obmann/die Obfrau und die Besorgung bestimmter laufender Angelegenheiten an das Büro übertragen. Die Generalversammlung hat vor allem die Budgethoheit* und das Satzungsrecht,* die Kontrollversammlung ist in erster Linie für die Gebarungskontrolle zuständig.* Der Obmann/die Obfrau führt den Vorsitz im Vorstand und in der Generalversammlung, hat im Vorstand ein Dirimierungsrecht,*) verfügt aber nach dem Gesetz über keinen eigenständigen Aufgabenbereich, sondern ist nur für jene Angelegenheiten zuständig, die ihm/ihr vom Vorstand durch die Geschäftsordnung ausdrücklich übertragen werden.*
Über die Aufgaben der leitenden Angestellten enthält das Gesetz überhaupt keine Regelung.* § 460 ASVG regelt nur den Bestellungsvorgang und die dienstrechtliche Position der leitenden Angestellten, und in § 438 Abs 1 wird lediglich normiert, dass die leitenden Angestellten berechtigt sind, an den Sitzungen der Verwaltungskörper mit beratender Stimme teilzunehmen. Nach § 460 Abs 3 unterstehen die Bediensteten des Versicherungsträgers dem Vorstand.*
Verwaltungskörper des Hauptverbands sind nach § 441 ASVG die Trägerkonferenz und der Verbandsvorstand. „Basisorgan“ ist die Trägerkonferenz, die für grundsätzliche Beschlüsse der Selbstverwaltung zuständig ist, die Generalkompetenz zur „Besorgung aller Aufgaben“ liegt beim Verbandsvorstand, dem das Verbandsmanagement weisungsunterworfen, auskunfts- und berichtspflichtig ist.*
Das Gesetz geht also von einer Generalkompetenz des Vorstands zur Geschäftsführung aus und sieht lediglich Delegationsmöglichkeiten an Ausschüsse, an den Obmann/die Obfrau und in bestimmten „laufenden Angelegenheiten“ an das Büro vor. Dieses Organisationsmodell der sozialen Selbstverwaltung entspricht weder den Anforderungen, die an die Führung von Dienstleistungsunternehmen dieser Größenordnung zu stellen sind, noch der Realität in der Praxis. Die Vorstellung, dass die laufende Geschäftsführung und die Dienstaufsicht über hunderte oder sogar tausende Beschäftigte von einem fünfzehnköpfigen Gremium besorgt werden könnte, das einmal im Monat zu einer ein- bis zweistündigen Sitzung zusammentritt, ist völlig wirklichkeitsfremd. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Geschäftsordnungen der Versicherungsträger von der gesetzlichen Delegationsmöglichkeit des Vorstands in großem Umfang Gebrauch machen. Das Ergebnis ist eine umfangreiche, überaus kasuistische* und trotzdem unvollständige Regelung der Aufgabenverteilung, die den Vorstand dazu verpflichtet, entweder über nicht ausdrücklich delegierte Angelegenheiten selbst entscheiden zu müssen oder immer wieder neue Delegierungsbeschlüsse zu fassen.* Andererseits liegt es in der Geschäftsführungskompetenz des Vorstands, über Projekte oder Maßnahmen mit finanziellen Auswirkungen in Millionenhöhe, etwa im IT-Bereich, zu entscheiden, deren sachgerechte Beurteilung den Vorstandsmitgliedern mangels entsprechender Fachkenntnisse kaum möglich ist. In solchen Fällen wird die Verantwortung (persönliche Haftung) der Versicherungsvertreter unzumutbar überfordert.
Dass ein solches Organisationsmodell reformbedürftig ist, bedarf wohl keiner weiteren Begründung.
Eine Organisationsreform der sozialen Selbstverwaltung muss für eine klare, einheitliche Führung und für eine sinnvolle, praktikable Aufgabenverteilung sorgen. Ähnlich wie im AKG* sollte ausdrücklich klargestellt werden, dass der/die Vorsitzende (statt „Obmann/Obfrau“) den Selbstverwaltungsträger leitet und nach außen vertritt. Hinsichtlich der Geschäftsführung sollte das derzeit im Gesetz vorgesehene Prinzip umgekehrt werden: Die Generalkompetenz zur operativen Geschäftsführung in laufenden Angelegenheiten obliegt dem Büro unter der Leitung eines/einer entsprechend qualifizierten GeschäftsführerIn (DirektorIn), und die der Entscheidung durch die Organe der Selbstverwaltung vorbehaltenen Angelegenheiten sollten ausdrücklich im Gesetz aufgezählt werden. Um die Autonomie der Selbstverwaltung zu wahren, muss der/die Vorsitzende das Recht haben, in begründeten Fällen auch in die laufende Geschäftsführung einzugreifen.* Der/die GeschäftsführerIn ist an Beschlüsse der Organe der Selbstverwaltung gebunden und diesen gegenüber berichts- und auskunftspflichtig. Im Rahmen der Vorgaben durch die Selbstverwaltung ist er/sie vor allem für die innere Organisation, für die Personalführung und -entwicklung sowie für die Wirtschafts- und Finanzverwaltung zuständig. Im Übrigen muss der/die für die Leitung des Büros Verantwortliche ausreichend Freiraum für eine kreative, flexible Führung unter Beteiligung motivierter MitarbeiterInnen haben. Aufgabe einer zukunftsorientierten Führung ist es, nicht nur zu „administrieren“, sondern den Unternehmenswandel unter Mitwirkung motivierter MitarbeiterInnen aktiv zu gestalten (Change Management*). Dass Motivation die Leistungsbereitschaft und damit auch die Effizienz der Arbeit steigert, gehört zu den Binsenweisheiten der Managementausbildung.
Das hier vorgeschlagene Organisationsmodell würde keineswegs eine „Entmachtung“ der Selbstverwaltung bewirken – im Gegenteil: Die Organe der Selbstverwaltung könnten ihre Tätigkeit auf grundsätzliche Angelegenheiten, wie die Strategie zur optimalen Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben, Zielsteuerung, Monitoring, Investitions- und Finanzplanung, Budget und Rechnungsabschluss, Personalplanung, Ausübung von Leitungsfunktionen, Beziehungen zu den Vertragspartnern udgl konzentrieren und damit die Wirksamkeit der Selbstverwaltung sogar noch verstärken.*
Die Fokussierung der Diskussion über eine Reform der sozialen Selbstverwaltung auf die von der Bundesregierung geplante Zusammenlegung von Sozialversicherungsträgern geht an den tatsächlichen Problemen und Bedürfnissen vorbei. Wie der Autor der LSE-Studie* Prof. Mossialos bei der Präsentation der Studie festgestellt hat, ist für revolutionäre Veränderungen an den Strukturen des österreichischen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems kein Anlass gegeben. Eine Zusammenlegung von Sozialversicherungsträgern löst allein keine Probleme, bindet aber in erheblichem Ausmaß Ressourcen, die für tatsächlich erforderliche Reformen dringend benötigt werden.
Für Organisationsreformen – auch im Bereich der SV – hat der Grundsatz zu gelten: „Form follows function“.* Zuerst muss Klarheit über die Aufgaben und Leistungen bestehen, und erst dann kann über die dafür zweckmäßigsten Strukturen entschieden werden. Vordringlich sind deshalb eine Bündelung der Aufgaben der Versicherungsträger und eine Harmonisierung der Leistungen, wie sie im Hauptverband schon seit einiger Zeit in Etappen erarbeitet wird.
In einem Punkt ist allerdings eine Änderung in der Struktur der Selbstverwaltung dringend geboten: In den Organen der Selbstverwaltung müssen neben den Vertretern der AG und der AN auch Vertreter der Seniorenorganisationen mit Stimmrecht vertreten sein. Das gilt jedenfalls für die soziale KV, in der Pensionisten pflichtversichert sind, Beiträge zahlen und leistungsberechtigt sind. Die gegenwärtige Rechtslage, die eine stimmberechtigte Teilnahme dieser Versicherten an der Selbstverwaltung nicht vorsieht, ist gleichheitswidrig und steht im Widerspruch zur Verfassungsbestimmung des Art 120c Abs 1 B-VG, wonach die Organe der Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu bilden sind.
Die soziale Selbstverwaltung ist ein historisches Erfolgsmodell. Sie hat auch unter geänderten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen weiterhin eine wichtige Funktion, bedarf aber – wie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – ständiger Anpassung und Weiterentwicklung. Reformen in diesem gesellschaftlich besonders sensiblen Bereich, bei dem es um die Wahrnehmung und um den Ausgleich unterschiedlicher Interessen, um Gesundheit und soziale Sicherheit von Millionen Menschen geht, erfordern von der Politik Augenmaß, Verantwortung und die Bereitschaft zur Einbeziehung der Betroffenen und Beteiligten.
Es ist zu hoffen, dass bei den Reformvorhaben der Bundesregierung tatsächlich das Wohl der AN, der Versicherten und der übrigen Bürger im Vordergrund steht, und nicht taktisches Kalkül, blinde Suche nach Neuem, parteipolitisches Prestigedenken oder politische Machtspiele das politische Handeln bestimmen. Anderenfalls wäre zu befürchten, dass nicht nur der Sozialstaat nachhaltig beschädigt, sondern darüber hinaus auch der gesellschaftliche Zusammenhalt ernsthaft gefährdet wird.