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Kein Pflegegeld für minderjähriges Enkelkind mit „Niederlassungsbewilligung – Angehöriger“ gem § 47 Abs 3 NAG

MARTINATHOMASBERGER

Die Niederlassungsbewilligung als Angehöriger gem § 47 Abs 3 bewirkt keine Gleichstellung iSd § 3a Abs 2 Bundespflegegeldgesetz (BPGG). Eine analoge Ausdehnung der Anspruchsberechtigung gem § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG (Personen mit Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gem § 47 Abs 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz [NAG]) kommt mangels planwidriger Unvollständigkeit der rechtlichen Regelung nicht in Betracht.

SACHVERHALT

Der minderjährige Kl ist serbischer Staatsangehöriger und lebt mit seiner mütterlichen Großmutter sowie deren Ehemann und seinem jüngeren Bruder in Wien. Die Großmutter und ihr Ehemann, der die österreichische Staatsbürgerschaft hat, haben die gemeinsame Obsorge über den Kl. Die Großmutter ist serbische Staatsbürgerin und verfügt über einen befristeten Aufenthaltstitel als „Familienangehörige“ mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt. Der Kl hat eine Niederlassungsbewilligung als Angehöriger gem § 47 Abs 3 NAG.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Bekl lehnte den Antrag des Kl auf Zuerkennung des Pflegegeldes mit Bescheid ab.

Das Erstgericht erkannte dem Kl Pflegegeld der Stufe 4 im gesetzlichen Ausmaß unter Anrechnung der erhöhten Familienbeihilfe zu und wies das Mehrbegehren auf ein höheres Pflegegeld ab. Der Kl sei zwar nicht Familienangehöriger iSd § 47 Abs 2 NAG. Der Großmutter des Kl und ihrem Ehemann käme jedoch die Obsorge zu und damit auch die Verpflichtung zur Pflege und Betreuung des Kl. Unter Beachtung der RL 2003/109/EG über die Rechtsstellung von langfristig aufent-320haltsberechtigen Drittstaatsangehörigen (DaueraufenthaltsRL) stehe dem Kl das Recht auf Pflegegeld gem § 3a BPGG zu.

Das Berufungsgericht gab der gegen das Ersturteil gerichteten Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren ab. Der Kl verfüge nicht über einen Aufenthaltstitel als Familienangehöriger gem § 47 Abs 2 NAG, sodass er nicht gem § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG anspruchsberechtigt sei. Für die vom Kl gewünschte analoge Anwendung des § 47 Abs 2 NAG fehle es an einer planwidrigen Gesetzeslücke. Daran ändere auch die Übertragung der Obsorge an die Großeltern nichts, da sich dadurch das Verwandtschaftsverhältnis nicht ändere.

In der Revision hält der Kl an seinem Standpunkt fest, dass seine Anspruchsberechtigung analog § 3a Abs 2 Z 4 lit d zu bejahen sei. Der Gesetzgeber habe den Fall nicht beachtet, dass die Großmutter gemeinsam mit ihrem Ehemann auch Obsorgeberechtigte seien. Sie hätten damit die gleichen Rechte und Pflichten wie die Eltern. Ungeachtet seiner Stellung als Enkel sei der Kl im vorliegenden Fall als Teil der „Kernfamilie“ anzusehen.

Der OGH wies die Revision des Kl gegen das Urteil des Berufungsgerichts zurück, da keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung vorliege.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…]

2.2. Bereits zur Zeit der Schaffung des § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG regelte § 47 NAG […] in unterschiedlicher Weise die Erteilung eines Aufenthaltstitels ‚Familienangehöriger‘ (§ 47 Abs 2 NAG) und einer ‚Niederlassungsbewilligung – Angehöriger‘. Bereits zum damaligen Zeitpunkt normierte § 2 Abs 1 Z 9 NAG […], dass ‚Familienangehöriger‘ ist, ‚wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie) […].‘ § 2 Abs 1 Z 9 NAG setzt die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung um (VwGH2014/22/0001), das gemäß Art 4 Abs 1 RL 2003/86/EG nur Ehegatten und minderjährigen Kindern im Sinn der Mitglieder der in Erwägungsgrund 9 dieser Richtlinie genannten ‚Kernfamilie‘ zusteht (vgl VwGH2002/21/0028).

2.3. Die in § 47 Abs 3 NAG bereits im Zeitpunkt der Schaffung des § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG angeführten ‚sonstigen Angehörigen‘ stellen sich hingegen lediglich als Erweiterung des Personenkreises von Familienmitgliedern gegenüber dem in § 47 Abs 2 NAG verwendeten Begriff der Familienangehörigen im Sinn des § 2 Abs 1 Z 9 NAG dar (VwGH2008/22/0864).

3.1. Der Gesetzgeber hat daher in § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG bewusst die Anspruchsvoraussetzung für das Pflegegeld mit dem Hinweis auf die Stellung als ‚Familienangehöriger‘ gemäß § 47 Abs 2 NAG rechtlich geregelt und den Kreis der anspruchsberechtigten Fremden nur in diesem Umfang erweitert. Der Gesetzgeber hat damit auch die bewusste Entscheidung getroffen, für die Anspruchsberechtigung allein auf das Verwandtschaftsverhältnis als ‚Familienangehöriger‘ im Sinn des § 2 Abs 1 Z 9 NAG abzustellen, nicht aber auf eine allfällig davon abweichende – auch nach damaliger Rechtslage bereits mögliche – Obsorgeregelung.

3.2 Voraussetzung der vom Revisionswerber geforderten Analogie (§ 7 ABGB) ist das Vorliegen einer planwidrigen Lücke in § 3a Abs 2 BPGG. Eine Analogie ist nämlich jedenfalls dann unzulässig, wenn Gesetzeswortlaut und klare gesetzgeberische Absicht in die Gegenrichtung weisen […]. Ausgehend von der dargestellten bewussten Entscheidung des Gesetzgebers und der von ihm in den genannten Bestimmungen gewählten Regelungstechnik fehlt es jedoch im konkreten Fall an der für den vom Revisionswerber gewünschten Analogieschluss erforderlichen planwidrigen Unvollständigkeit der rechtlichen Regelungen […].

3.3. Dem zutreffenden Hinweis des Revisionswerbers, dass die Großmutter und ihr Ehegatte infolge der ihnen übertragenen Obsorge zur – unzweifelhaft aufwändigen – Pflege des Klägers verpflichtet sind, ist mit dem Berufungsgericht entgegenzuhalten, dass es nicht Aufgabe der Gerichte ist, allenfalls unbefriedigende Gesetzesbestimmungen zu ändern, sondern der Gesetzgebung (RIS-Justiz RS0008880).“

ERLÄUTERUNG

So wie im OGH-Urteil 10 ObS 51/18z (vgl DRdA-infas 2018/187) führt der OGH auch hier aus, dass das Zusammenspiel des NAG und der Gleichstellungsbestimmung in § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG keinen Raum dafür lässt, den Begriff der österreichischen Staatsbürgern gleichgestellten „Familienangehörigen“ weiter auszulegen als es § 47 Abs 2 iVm § 2 Abs 1 Z 9 NAG zulässt.

Im vorliegenden Sachverhalt führt der eng auszulegende Gesetzestext von § 3a Abs 2 Z 4 BPGG zu einem für Nicht-Juristen nur schwer nachvollziehbaren Ergebnis: Ein Minderjähriger mit erheblichen Behinderungen (in der ersten Instanz wurde festgestellt, dass die zeitlichen Voraussetzungen für das Pflegegeld der Stufe 4 vorliegen) erhält die zentrale österreichische Sozialleistung für Menschen mit Behinderungen nicht, obwohl er, abgesehen von seiner Staatsbürgerschaft, alle Voraussetzungen dafür erfüllt.

Selbst wenn die Unterscheidung zwischen „Angehörigen der Kernfamilie“ und „sonstigen Angehörigen“ sich aus der RL 2003/86/EG nach den anerkannten juristischen Methoden ableiten lässt,321bleibt doch ein erheblicher Rest an Unverständnis für die – vom Gesetzgeber offenbar bewusst gewählten – Auswirkungen dieser Regelungsgestaltung (wie es auch der OGH am Ende seines Urteils erkennen lässt).

Art 28 der UN-Behindertenrechtskonvention hält die Vertragsstaaten dazu an, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu Leistungen des Sozialschutzes, insb zu Leistungen für ein selbstbestimmtes Leben und zur Armutsvermeidung, zu gewähren. Wenngleich sich die Diskriminierung des minderjährigen Kl im vorliegenden Fall aus seinem fremdenrechtlichen Status als „sonstiger Angehöriger“ ergibt, drängt sich doch die Frage auf, ob sich diese Unterscheidung mit den Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention in Übereinstimmung bringen lässt. De lege ferenda sollte der Gesetzgeber auf der Basis seiner Selbstverpflichtung zur Wahrung von Behindertenrechten überlegen, § 3a Abs 2 BPGG auch für drittstaatsangehörige Minderjährige zu öffnen, für die Verwandte in Österreich ihre moralische Verpflichtung zur Pflege und Betreuung übernommen und durch eine formelle Obsorgeverpflichtung bekräftigt haben.