HabermannZum Schicksal allgemeiner Arbeitsbedingungen – Die ablösende Betriebsvereinbarung zwischen privatautonomer Günstigkeit und betrieblicher Kollektivmacht

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2017 387 Seiten, broschiert, € 113,–

MARTINRISAK (WIEN)

Mit dem Begriff der sogenannten „ablösenden BV“ wird in Deutschland eine BV bezeichnet, durch die vertraglich begründete AN-Ansprüche, die auf einer Einheitsregelung, Gesamtzusage oder betrieblichen Übung beruhen, aufgehoben oder beschränkt werden sollen. Es geht somit um die Frage, ob und inwieweit individualrechtliche Regelungen, die jedoch als generelle Regelungen in Form allgemeiner Arbeitsbedingungen intendiert und konzipiert sind, durch nachfolgende Vereinbarung im Konsens mit dem BR auch zum Nachteil der davon betroffenen AN ohne deren individuelle Zustimmung verschlechtert werden können. Dazu hat sich in Deutschland eine viele Jahrzehnte andauernde Diskussion entsponnen, die durch zahlreiche Entscheidungen des BAG, die immer wieder eine neue Richtung eingeschlagen haben, regelmäßig neue Impulse erhalten hat. Angesprochen ist dabei das komplexe Spannungsverhältnis zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Betriebsmacht im Allgemeinen, das Verhältnis von Günstigkeits- und Ablösungsprinzip im Besonderen sowie das Zusammenspiel von allgemeinen Arbeitsbedingungen und von Betriebsvereinbarungen im Speziellen.

Die vorliegende Publikation von Andreas Habermann, deren Inhalt besser durch den Untertitel beschrieben wird, und der eine an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg approbierte Dissertation zu Grunde liegt, schafft es in vorbildlicher Weise dieses Feld aufzuarbeiten, kritisch zu beleuchten und einen eigenen Ansatz zu entwickeln. Rechtsvergleichende Überlegungen werden dabei jedoch nicht angestellt, da das „deutsche Arbeitsrecht ... in sich zu eigen“ und das „Verhältnis von Individualarbeits- und Betriebsverfassungsrecht ... nicht vergleichstauglich“ sei (S 29). Dieser knappe Befund ist im Hinblick auf den österreichischen Rechtsbestand nicht unbedingt nachvollziehbar, gibt es doch in beiden Ländern ähnlich konzipierte Institutionen und Mitbestimmungsinstrumente. Unterschiede in Details des Betriebsverfassungsrechts machen aber bald klar, dass die für Deutschland entwickelten Lösungsansätze in Österreich über weite Strecken nicht übertragbar sind: Anders als in Deutschland (vgl § 88 BetrVG) besteht in Österreich ein geschlossener Katalog von Betriebsvereinbarungstatbeständen, die es in vielen Fällen mangels Kompetenz gar nicht möglich machen, ablösende Betriebsvereinbarungen abzuschließen. In Deutschland ist hingegen von einer grundsätzlich umfassenden Regelungszuständigkeit der BetriebspartnerInnen auszugehen und somit ein weiter Raum für ablösende Betriebsvereinbarungen eröffnet. Außerdem ist das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis Arbeitsvertrag und BV in Österreich in § 31 Abs 3 ArbVG gesetzlich normiert, während dies in Deutschland nicht der Fall ist, wo es nur in § 4 TVG für den Tarifvertrag ausdrücklich vorgesehen ist und wodurch die Spielräume für die Rsp erweitert sind.538

Gegliedert ist das Werk in einen längeren theoretischen Abschnitt, der die Problematik der ablösenden Betriebsvereinbarungen ebenso grundlegend aufarbeitet wie die Grundkonzepte der Kollision zwischen Arbeitsvertrag und BV, wobei die Privatautonomie und die betriebliche Kollektivmacht einander gegenübergestellt werden. Die Zwecke der Betriebsverfassung werden in der Schutz-, Ordnungs-, Flexibilisierungs- und Ausgleichsfunktion gesehen (S 108 ff) und auf dieser Basis begründet, warum sich der BR im Rahmen seiner Betriebsmacht auch an Maßnahmen beteiligen kann, die AN belasten (S 121). Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang immer auf den BR rekurriert wird und nicht auf die Belegschaft als Kollektiv, als deren Organ der BR auftritt. Auch wird die demokratische Legitimation des BR nicht zur Begründung von dessen Gestaltungsmacht herangezogen – beides Aspekte, die die Betriebsverfassung als „Fremdbestimmungsordnung“ (so zB S 103, 113) doch in einem anderen Lichte erscheinen lassen und sie eher als Komplettierung der Privatautonomie denn als deren Gegensatz einordenbar machen.

Herzstück der Arbeit ist die gründliche Aufarbeitung der einschlägigen BAG-Rsp, wobei drei Phasen unterschieden werden: Die erste wird als „Vom Ordnungs- zum Günstigkeitsprinzip“ bezeichnet und gipfelt im Beschluss des Großen Senats des BAG aus 1986. Dieser sah zwar in Abkehr zur bisherigen Rsp, die bis 1970 das Ordnungsprinzip und dann das Ablösungsprinzip judizierte, einen Günstigkeitsvergleich als für die Wirksamkeit der ablösenden Betriebsvereinbarungen erforderlich an. Er entschied aber zugleich, dass dieser als kollektiver Günstigkeitsvergleich durchzuführen sei, womit eine verschlechternde Abänderung im Form von „umstrukturierenden Betriebsvereinbarungen“ möglich sein soll. Diese Grundsatzentscheidung wird dann in der zweiten Phase bis 2013 weiterentwickelt. In der dritten Phase, die am BAG-Urteil aus 2013 ihren Ausgang nimmt, wird die schon früher angesprochene Möglichkeit, eine arbeitsvertraglich wirkende Vereinbarung „betriebsvereinbarungsoffen“, dh betriebsvereinbarungsdispositiv, anzulegen, in die Richtung weiterentwickelt, dass eine Regelvermutung für eine konkludente Betriebsvereinbarungsoffenheit von AGB bestehe. Diese Öffnungsklausel bewirkt letztlich, dass das grundsätzlich von der Rsp anerkannte Günstigkeitsprinzip auf individualarbeitsrechtlichem Weg ausgeschaltet wird (vgl S 185). Der Verfasser kritisiert diesen Zugang in der Folge auf unterschiedlichen Ebenen und entwickelt einen fundierten alternativen Lösungsansatz für das Kollisionsproblem, der als „eingeschränktes Günstigkeitsprinzip“ bezeichnet wird. Basis ist die Annahme, dass die ablösende BV eine eigene Aufgabe als angemessenes Anpassungsinstrument zwischen Flexibilität und Bestandsschutz erfülle (S 291) und die ihre Basis in der Besonderheit der allgemeinen Arbeitsbedingungen als individualrechtlich fundierte Einheitsregelungen findet. Deshalb soll hier das auf Individualvereinbarungen sonst anwendbare Günstigkeitsprinzip nicht gelten. Betont wird dabei aber als Sicherheitsnetz für die AN die gerichtlichen Rechtskontrolle. Wenngleich der ablösenden BV als Kompromissvertrag abstrakte Richtigkeitsgewähr zukomme (S 306), werde mit der Rechtskontrolle ausreichend gesichert, dass die BetriebspartnerInnen nicht unbeschränkt in bestehende Rechtspositionen der Arbeitsvertragsparteien zu Lasten der AN eingreifen und insb die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes wahren.

Auch wenn auf Grund der unterschiedlichen rechtlichen Ausgangspositionen in Österreich die Rechtsfigur der ablösenden BV bislang noch kaum Beachtung gefunden hat und sie vordringlich im Zusammenhang mit der Einräumung eines Gestaltungsrechts an den BR behandelt wurde (vgl Kietaibl, Allgemeine Arbeitsbedingungen [2011] 55 f), so ist nicht auszuschließen, dass versucht wird, ihr Potenzial nutzbar zu machen, um insb Betriebsübungen in einem Kompromiss mit dem BR kollektiv abzuändern. Das vorliegende Werk bietet in seiner grundlegenden Aufarbeitung der deutschen Rechtslage eine gute Basis dafür und kann schon deshalb zur Lektüre empfohlen werden.