Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB

DAPHNEAICHBERGER-BEIG (WIEN)
Der AN behält gem § 1155 Abs 1 ABGB seinen Entgeltanspruch, wenn der AG ihn trotz aufrechten Vertrags tatsächlich nicht beschäftigt. Die Entgelthöhe kann jedoch reduziert sein, weil § 1155 Abs 1 ABGB anordnet, dass vom Entgelt dasjenige abzuziehen ist, was der AN sich infolge des Unterbleibens der Arbeitsleistung erspart, er infolgedessen anderweitig verdient oder absichtlich zu verdienen versäumt hat. In der Lehre wird die Anwendbarkeit dieser Anrechnungsregel überwiegend für jene Fälle in Zweifel gezogen, in denen der AG den AN „grundlos“ freistellt oder ihm das Unterbleiben der tatsächlichen Beschäftigung vorwerfbar ist. Der vorliegende Beitrag analysiert die Funktion und den Anwendungsbereich der Anrechnungsregel und zeigt, dass Ersparnisse und tatsächlich bezogene anderweitige Einkünfte des AN stets anzurechnen sind, aber das Versäumen anderweitiger Einkunftsmöglichkeiten nur unter sehr engen Voraussetzungen das Entgelt schmälern kann.
  1. Fragestellung

  2. Meinungsstand

    1. Lehre

    2. Judikatur

  3. Eigene Stellungnahme

    1. Gliederung

    2. Abgrenzung zwischen Nichterfüllung und Erfüllung

    3. Anrechnung tatsächlicher Vorteile

      1. Der zivilrechtliche Annahmeverzug

      2. Zweck der Anrechnung

      3. Historische Auslegung

      4. Zum Rechtsmissbrauch

      5. Analogie zu § 1162b ABGB?

      6. Recht auf Beschäftigung

      7. Zwischenfazit

    4. Absichtlich zu erwerben versäumtes Entgelt

      1. Inhalt der Obliegenheit

      2. Keine zusätzlichen Verhaltensanordnungen

      3. Zweck der Versäumnisanrechnung

      4. Absichtlichkeit

      5. Vergleich mit OGH-Judikatur

  4. Zusammenfassung

1.
Fragestellung

§ 1155 Abs 1 ABGB regelt, dass der AN seinen Entgeltanspruch behält, wenn er die geschuldete Arbeitsleistung zwar nicht erbringt, er aber arbeitsbereit ist und die Arbeitsleistung aufgrund von Umständen auf Seite des AG unterbleibt. Die Bestimmung ordnet jedoch keine Verpflichtung des AG zur Zahlung des vollen Entgelts an, sondern sieht eine Vorteilsanrechnung vor: Der AN muss sich dasjenige anrechnen lassen, was er sich infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart hat, und das, was er infolgedessen anderweitig verdient oder zu verdienen absichtlich versäumt hat.

Große praktische Bedeutung hat diese Anrechnungsregel insb für Fälle, in denen der aufrechte Bestand des Arbeitsverhältnisses vom AG zu Unrecht bestritten wurde oder der AN die Kündigung erfolgreich angefochten hat.* Bis zur Klärung der Frage, ob ein aufrechtes Arbeitsverhältnis besteht bzw ob die AG-Kündigung anfechtbar ist, setzt der AG den AN typischerweise nicht zur Arbeitsleistung ein. Behält dann der AN Recht, so steht ihm für den Zeitraum der Nicht-Beschäftigung gem § 1155 ABGB ein Entgeltanspruch zu, der um die Anrechnungsposten gemindert sein kann. Wenig ins Gewicht fallen zumeist die ersparten Aufwendungen (zB Fahrtkosten); sehr relevant ist aber der Abzug von Einkünften, die der AN inzwischen anderswo tatsächlich bezogen hat oder beziehen hätte können. AN nehmen während solcher – zuweilen lange dauernder – Rechtsstreitigkeiten über den Bestand des Arbeitsverhältnisses schon deswegen häufig eine anderweitige Beschäftigung auf, um sich für den Fall des Prozessverlusts abzusichern. Dass die Anrechnungsregel in derartigen Fällen zur Anwendung kommt, ist jedoch sehr umstritten; in Hinblick auf versäumte Einkünfte verneinen dies sogar fast alle Autoren (siehe sogleich).473

2.
Meinungsstand
2.1.
Lehre

In der Diskussion um den Anwendungsbereich der Anrechnungsregel des § 1155 ABGB wird häufig zwischen „Unmöglichkeit“ und „Annahmeverzug“ unterschieden. Zufolge dieser – nicht vollkommen einheitlich getroffenen* – Unterscheidung liegt nur bei tatsächlichen Leistungshindernissen ein Unmöglichkeitsfall vor (wie zB einem Stromausfall im Betrieb), während der Begriff „Annahmeverzug“ Fallkonstellationen bezeichnen soll, in denen die Arbeitsleistung objektiv möglich ist, aber der AG sie nicht entgegen nimmt (zur abweichenden Terminologie des allgemeinen Zivilrechts siehe unten unter 3.3.1.). Dem Annahmeverzug zugerechnet werden dementsprechend zB die oben unter 1. beschriebenen Fälle der Nicht-Beschäftigung während eines Rechtsstreits über den aufrechten Bestand des Arbeitsverhältnisses oder zB Freistellungen während des Laufs der Kündigungsfrist.

Das ältere Schrifttum war überwiegend der Auffassung, dass § 1155 ABGB sowohl die Unmöglichkeit als auch den Annahmeverzug erfasst und begründete dies mit Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den zwei Fällen und mit den Gesetzesmaterialien zu § 1155 ABGB, welche ausdrücklich erläutern, dass die Bestimmung beides regeln soll.*

Schon seit längerem aber halten fast alle* Stimmen in der Lehre die Anrechnungsregel in bestimmten Fallvarianten für problematisch und plädieren dafür, deren Anwendungsbereich einzuschränken. Die variantenreichen Ansichten in der Literatur lassen sich zu vier Ansätzen zusammenfassen:

Der erste Ansatz geht davon aus, dass § 1155 ABGB eine Gefahrtragungsregel sei und daher nur Fälle regle, in welchen der AG ohne Verschulden faktisch nicht in der Lage sei, den AN zu beschäftigen. Verzichte der AG hingegen auf die mögliche Arbeitsleistung, sei § 1155 nicht anwendbar; es handle sich dann um Annahmeverzug mit der Rechtsfolge, dass der AG jedenfalls das volle, ungekürzte Entgelt zu zahlen habe.* Die genaue Umschreibung der Fälle, die dem Annahmeverzug zuzuordnen sei, variiert bei den verschiedenen Autoren: Vertreten wird, dass die Anrechnung „bei Vorsatz oder grobem Verschulden des Arbeitgebers“* oder – nach anderer Ansicht – schon bei jedem Verschulden des AG* entfalle; andere Autoren stellen wiederum darauf ab, dass die Nicht-Beschäftigung „willkürlich“,* „grundlos“,* „trotz sinnvoller Beschäftigungsmöglichkeit“* oder „ohne vertretbaren Grund“* erfolgt ist.

Die zweite Argumentationslinie räumt zwar ein, dass § 1155 sowohl den Annahmeverzug als auch die Unmöglichkeit erfasse; das Anrechnungsbegehren sei jedoch rechtmissbräuchlich, wenn der AG den AN grundlos freistelle oder ihm ein grobes Fehlverhalten anzulasten sei.*

Der dritte Ansatz zieht eine Analogie zu § 1162b ABGB. Diese Bestimmung zur Kündigungsentschädigung gewährt dem AN für die ersten drei Monate das Entgelt ohne Vorteilsanrechnung. Nach Meinung mehrerer Autoren sei diese dreimonatige Anrechnungssperre analog auf Fallvarianten des § 1155 anwenden, in denen die Schwere des Verschuldens des AG jenem in den Fällen des § 1162b ABGB entspreche.*

Als vierter Ansatz werden hier jene Ansichten zusammengefasst, die nicht den Anwendungsbereich der gesamten Anrechnungsregel, sondern bloß die Anrechnung des zu erwerben versäumten Entgelts einschränken möchten. Manche Autoren halten die Versäumnisanrechnung bei grundlosen Freistellungen für rechtsmissbräuchlich.* Andere setzen bei der Zumutbarkeit der Aufnahme einer Ersatzbeschäftigung an und legen das Zumutbarkeitskriterium beweglich in Abhängigkeit von der Schwere des AG-Verschuldens aus; nicht zumutbar sei die Annahme einer anderweitigen Beschäftigung im Fall einer grundlosen Nicht-Beschäftigung durch den AG.*

2.2.
Judikatur

Der OGH stellte in älterer Zeit die Anwendung der Anrechnungsregel bei allen arbeitgeberseitigen Arbeitshindernissen – inklusive der Fälle des „Annahmeverzugs“ – nicht in Frage.* Auch in jüngerer Zeit hat er diese Judikaturlinie im Ergebnis weiterverfolgt. Zwar nimmt er seit einiger Zeit auf kritische Stimmen Bezug und nennt als Schranke für die Anrechnung in mehreren Ent-474scheidungen den Rechtsmissbrauch;* der Rechtsmissbrauchsvorbehalt führte jedoch in keiner E im konkret entschiedenen Fall zur Ablehnung der Anrechnung. Zu Unrecht wird dies von der OGH-E 8 ObA 2046/96g* behauptet. In dieser E erwähnte der OGH erstmals in Zusammenhang mit § 1155 ABGB den Rechtsmissbrauchsvorbehalt. Er hatte dort jedoch nicht die Anwendung der Anrechnungsregel, sondern die Abdingbarkeit des Anspruchs gem § 1155 ABGB zu beurteilen. Der OGH hielt es für unzulässig zu vereinbaren, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch bei „grundlosen Freistellungen“ (wie der entscheidungsgegenständlichen Kündigungsfreistellung) entfallen soll, und begründete dies damit, dass auch die Anrechnung in solchen Fällen ausgeschlossen sei. In jenen späteren Entscheidungen, in denen das Höchstgericht tatsächlich über die Anrechnung zu entscheiden hatte, beurteilte es das Anrechnungsbegehren des AG jedoch auch dann nicht als rechtsmissbräuchlich, wenn der AG den AN motivwidrig gekündigt hatte,* wenn nach einem Betriebsübergang der Erwerber den Übergang des Arbeitsverhältnisses bestritten hatte,* wenn der AG dem AN trotz Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung durch das Erstgericht ein Hausverbot erteilt hatte* sowie jüngst bei ungerechtfertigter Entlassung eines begünstigten Behinderten.*

3.
Eigene Stellungnahme
3.1.
Gliederung

Da § 1155 ABGB und seine Anrechnungsregel ausschließlich bei Unterbleiben der Dienstleistung einschlägig sind, soll vorab geklärt werden, wann die Erfüllung der Arbeitspflicht eintritt (Kap 3.2.); hat nämlich der AN seine Vertragspflicht erbracht, so kann er jedenfalls das ungekürzte Entgelt verlangen.

Anschließend wird der Abzug von Ersparnissen und tatsächlichen Einkünften bei Nicht-Beschäftigung untersucht (Kap 3.3.). Getrennt und in einem eigenen Abschnitt betrachtet wird die Anrechnung absichtlich zu erwerben versäumten Entgelts, die zum Abzug bloß hypothetisch erzielbarer Einkünfte und damit zu einem Einkommensverlust führt (Kap 3.4.).

3.2.
Abgrenzung zwischen Nichterfüllung und Erfüllung

Der volle Entgeltanspruch steht dem AN jedenfalls für Zeitabschnitte zu, in denen er die geschuldete Leistung erbracht hat. § 1155 ABGB setzt das Unterbleiben der Arbeitsleistung voraus.

Ein AN ist – entsprechend dem Inhalt der Arbeitspflicht – lediglich dazu verpflichtet, dem AG seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, und erfüllt daher seine Vertragspflichten auch dann, wenn er sich zur vereinbarten Arbeitszeit am Arbeitsort bereit hält und der AG ihm keine konkret zu verrichtenden Tätigkeiten zuweist.* Der Umstand, dass der AN bereits durch die Arbeitsbereitschaft erfüllt, hat zu Diskussionen über den Anwendungsbereich des § 1155 ABGB geführt, weil § 1155 ABGB – scheinbar widersprüchlich – einerseits die Arbeitsbereitschaft des AN voraussetzt, aber andererseits die Rechtsfolgen der unterbliebenen Erfüllung regelt.* Richtigerweise erklärt sich dies daraus, dass zwar bereits in der Leistungsbereitschaft die Erfüllung der Arbeitspflicht liegt, aber die Erfüllung dann scheitert, wenn der Empfänger die Leistung ablehnt.* Der Anwendungsbereich des § 1155 ABGB ist daher eröffnet, wenn der AG die Arbeitsleistung – für den AN erkennbar – endgültig nicht in Anspruch nimmt,* zB indem er ihn „nachhause schickt“ oder freistellt. Der AG bringt auch dann zum Ausdruck, dass er die Arbeitsleistung nicht in Anspruch nehmen möchte, wenn er den Bestand des Arbeitsverhältnisses bestreitet oder sich auf die Wirksamkeit der vom AN angefochtenen Kündigung beruft.*

Wie auch der OGH (in Zusammenhang mit dem Entgeltanspruch nicht-streikender AN eines bestreikten AG)* ausgeführt hat, trifft den AG eine Erklärungsobliegenheit, dem AN bekannt zu geben, dass die Vertragserfüllung nicht möglich sein wird; denn ohne eine solche Erklärung des AG bleibt der AN verpflichtet, sich während der Dienstzeit am Arbeitsort aufzuhalten, und erfüllt durch die Arbeitsbereitschaft seine Arbeitspflicht. Eine solche Erklärungsobliegenheit des AG besteht – wie auch der OGH in dieser E erläutert – nur dann nicht, wenn die Unmöglichkeit der Leistungserbringung aufgrund der Umstände evident ist.

Das Abstellen auf die Ablehnung der Erfüllung durch den AG für den Anwendungsbereich des § 1155 ABGB bedeutet freilich, dass es der AG in der Hand hat, einseitig die Nichterfüllung der Arbeitspflicht herbeizuführen. Diese Möglichkeit475des AG, durch die Nichtinanspruchnahme der Arbeitsleistung die Vorteilsanrechnung des § 1155 ABGB zur Anwendung zu bringen, ist der Grund für das Unbehagen großer Teile der Lehre mit der Anrechnungsregel des § 1155 ABGB. Ob diese Bedenken berechtigt sind, soll im Folgenden analysiert werden.

3.3.
Anrechnung tatsächlicher Vorteile

Zunächst soll gezeigt werden, dass in Einklang mit der Judikatur tatsächliche Vorteile des AN stets vom Entgelt abzuziehen sind. Der weite Anwendungsbereich der Anrechnungsregel entspricht sowohl dem eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers als auch dem Normzweck, eine Bereicherung des AN zu verhindern.

3.3.1.
Der zivilrechtliche Annahmeverzug

Mehrere Autoren berufen sich auf die Rechtsfigur des Annahmeverzugs, um zu begründen, dass dem AN der volle, ungekürzte Entgeltanspruch zusteht (siehe oben unter 2.1.). Dieses zivilrechtliche Rechtsinstitut passt jedoch nicht für die hier untersuchten Fälle, in denen der AG den AN tatsächlich nicht beschäftigt.* Während der AN sich im Anwendungsbereich des § 1155 ABGB die unterbliebene Arbeitsleistung endgültig erspart, betrifft der zivilrechtliche Annahmeverzug Fälle, in denen die Leistung nicht endgültig entfällt, sondern der Schuldner sie zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen hat;* zB hat der Verkäufer die Ware später zu liefern, wenn der Käufer sie zum Erfüllungstermin nicht entgegen nimmt. Die Verpflichtung zur Zahlung des Entgelts bleibt beim Annahmeverzug schon deshalb in voller Höhe aufrecht, weil auch der Schuldner die Leistung vollständig erbringen muss. Die Anwendung der Regeln zum Annahmeverzug auf den Arbeitsvertrag würde somit bedeuten, dass nicht nur das Arbeitsentgelt ungeschmälert zustünde, sondern auch die Arbeitsleistung nachgeholt werden müsste. Die gewünschte Rechtsfolge, dass trotz Entfall der Arbeitsleistung das volle Entgelt zusteht, lässt sich mit dem Annahmeverzug nicht begründen.

Die Zivilrechtsdogmatik nennt nicht nachholbare Leistungen (wie zB die Arbeitsleistung) absolute Fixschulden.* Wird eine absolute Fixschuld zur vereinbarten Leistungszeit vom Empfänger nicht entgegen genommen, so tritt nicht Annahmeverzug, sondern Unmöglichkeit ein.* Die Rechtsfolge einer solchen dem Leistungsempfänger zuzurechnenden Unmöglichkeit ist – auch im allgemeinen Zivilrecht und analog zur arbeitsrechtlichen Regelung – , dass der Entgeltanspruch um Vorteile zu kürzen ist.*

Die zivilrechtliche Bedeutung des Begriffs „Annahmeverzug“ spricht jedoch nicht unbedingt gegen die Ausgrenzung bestimmter, als „Annahmeverzug“ bezeichneter Fallgruppen aus dem Anwendungsbereich des § 1155 ABGB. Jenen Autoren, welche auf den Annahmeverzug rekurrieren, geht es ja auch nicht um dieses zivilrechtliche Rechtsinstitut als solches, sondern um die Beurteilung von Fällen, in denen der AG die mögliche Arbeitsleistung grundlos ablehnt. Auch dies vermag jedoch mE nicht zu überzeugen:

3.3.2.
Zweck der Anrechnung

Ausweislich der Materialien* und nach einhelliger Auffassung* verfolgt die Anrechnungsregel den Zweck, jene Bereicherung zu verhindern, die einträte, wenn der AN Vorteile aus dem Unterbleiben der Dienstleistung zieht (zB weil er sich dadurch Fahrtkosten erspart oder währenddessen eine Beschäftigung bei einem anderen AG aufnimmt) und – zusätzlich zu diesen Vorteilen – das volle Entgelt erhalten würde; die Funktion der Vorteilsanrechnung ist es, dafür zu sorgen, dass der AN im Fall der Nicht-Beschäftigung nicht besser gestellt wird als bei ordnungsgemäßer Abwicklung des Vertrags.

Wirtschaftliche Vorteile aus dem Unterbleiben der Dienstleistung (ersparte Aufwendungen oder anderweitiger Erwerb) kann ein AN aber auch bei „grundloser“ Freistellung ziehen, sodass auch in diesen Fällen die Vorteilsanrechnung erforderlich ist, um eine Bereicherung des AN zu verhindern. Gerade jener Umstand, der die Fälle des § 1155 von dem zivilrechtlichen Annahmeverzug unterscheidet, nämlich das endgültige Unterbleiben der Arbeitsleistung, erfordert den Abzug von dadurch entstandenen Vorteilen von dem Entgelt. Dieser Zweck der Anrechnung gebietet deren Anwendung auch bei vom AG verschuldeter oder grundloser Nicht-Beschäftigung.

3.3.3.
Historische Auslegung

Die Materialien zur 3. Teilnovelle bringen eindeutig zum Ausdruck, dass der Anwendungsbereich des § 1155 weit sein soll: Sie führen explizit aus, dass § 1155 sowohl bei Unmöglichkeit als auch bei Annahmeverzug einschlägig ist und dass die Bestimmung nicht nur bei unverschuldeter Unmöglichkeit, sondern umso mehr bei vom AG verschuldeter Nicht-Beschäftigung des AN anzuwenden ist.*

Die faktische Unmöglichkeit der Arbeitsleistung ist auch nicht der historische Ausgangspunkt des § 1155 ABGB.* § 1155 ABGB hat vielmehr scha-476denersatzrechtliche Wurzeln. In der Fassung vor der 3. Teilnovelle normierte die Bestimmung einen Schadenersatzanspruch und setzte primär beim Verschulden des AG an. Die 3. Teilnovelle erweiterte die Gefahrtragung des AG und konzipierte den Anspruch als Erfüllungsanspruch.* Infolge dieses Wechsels von einem Schadenersatz- auf einen Erfüllungsanspruch fand die Anrechnungsregel in § 1155 ABGB Eingang, um eine Überkompensation zu verhindern.*

3.3.4.
Zum Rechtsmissbrauch

Die Anrechnung tatsächlicher Vorteile stellt den AN vermögensmäßig so wie bei Erfüllung. Das Anrechnungsbegehren kann daher nicht mit dem Argument abgelehnt werden, dass es rechtsmissbräuchlich sei, weil Rechtsmissbrauch überhaupt nur dann zu prüfen ist, wenn mit der Handlung (zumindest auch) ein Schädigungszweck verfolgt wird.*) Der AN erleidet jedoch keinen Schaden, wenn er vom AG tatsächlich nicht beschäftigt wird und sich infolgedessen den Abzug der Vorteile, die er daraus gezogen hat, gefallen lassen muss.

3.3.5.
Analogie zu § 1162b ABGB?

Vertreten wird auch, dass die Anrechnung durch eine Analogie zu § 1162b ABGB zu beschränken sei; die dreimonatige Anrechnungssperre des § 1162b ABGB müsse analog auf jene Fallvarianten des § 1155 ABGB angewendet werden, in denen dem AG ein den dort geregelten Fallvarianten vergleichbarer Vorwurf an der Nicht-Beschäftigung anzulasten sei.*

§ 1162b ABGB regelt die Ansprüche des AN bei unbegründeter Entlassung und bei vom AG verschuldetem Austritt. Gem § 1162b ABGB kann der AN das vertragsmäßige Entgelt bis zu jenem Zeitpunkt verlangen, zu dem der AG das Arbeitsverhältnis frühestens ordnungsgemäß beenden hätte können (dh bis zum nächstmöglichen Kündigungstermin bzw bei befristeten Verträgen ohne Kündigungsmöglichkeit bis zum Ablauf des Vertrags). Gleichlautend wie § 1155 ordnet auch § 1162b die Anrechnung von Ersparnissen und anderweitigen Einkünften und absichtlich versäumten Einkünften ein. Im Gegensatz zu § 1155 ABGB enthält § 1162b ABGB aber eine dreimonatige Anrechnungssperre, sodass die Anrechnung erst ab dem vierten Monat stattzufinden hat.

Vergleicht man die Entgeltfortzahlungspflicht des § 1155 mit der Kündigungsentschädigung, so fällt auf, dass § 1155 ABGB den Entgeltanspruch regelt, wohingegen die Kündigungsentschädigung nach hA schadenersatzrechtlicher Natur ist. Dieser Unterschied ist jedoch mE für die Frage der Analogie nicht entscheidend. Denn der Gesetzgeber des § 1162b erachtete die darin geregelten Ansprüche als Entgeltansprüche. Erst nach Inkrafttreten der Norm hat sich die Schadenersatztheorie durchgesetzt, welche besagt, dass die rechtswidrige Beendigung wirksam ist, aber Schadenersatzansprüche auslöst.*

Eine Analogie zu § 1162b ABGB würde nur die ersten drei Monate der Nicht-Beschäftigung betreffen und wäre daher bei langen Zeiträumen der Nicht-Beschäftigung von nicht allzu großer Bedeutung. Sie ist mE aber aus mehreren Gründen abzulehnen: Wie bereits ausgeführt (siehe oben unter 3.3.3.), ist die Bestimmung nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers und entsprechend ihrem Zweck auch bei Verschulden des AG anzuwenden. Es fehlt daher eine planwidrige Lücke, die durch Analogie geschlossen werden könnte.*

Darüber hinaus ist eine solche Analogie sowohl mit Blick auf die ratio der Anrechnungssperre des § 1162b ABGB als auch aufgrund von Abgrenzungsschwierigkeiten abzulehnen:

Der Zweck der Anrechnungssperre ist nicht leicht nachvollziehbar. Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass die Kündigungsentschädigung pönale Elemente aufweist, weil ihre Höhe den tatsächlichen Schaden des AN übersteigen kann.* Die Materialien lassen erkennen, dass durch die Anrechnungssperre der Verlust des Arbeitsplatzes ausgeglichen werden soll.* Als ratio für die dreimonatige Sperrfrist lässt sich am ehesten sagen, dass die pauschalierte Zahlung AN begünstigen soll, die ihren Dienstvertrag verlieren, wenn den AG ein Vorwurf in Bezug auf die Vertragsbeendigung gemacht werden kann.* Diese ratio ist mE nicht vollkommen überzeugend, weil die Überkompensation durch Strafschadenersatz im österreichischen Recht systemwidrig ist und zweitens davon gerade jene AN profitieren, die schnell wieder eine neue Stelle finden und daher tendenziell weniger schutzbedürftig sind. Jedenfalls fehlt es aber an einer Analogiebasis für Fälle, in denen es nicht um die Beendigung, sondern um Entgeltansprüche während des aufrechten Dienstverhältnisses geht.

Darüber hinaus ist mE eine Abgrenzung in Abhängigkeit von dem AG-Verschulden wenig praktikabel. Ob zB eine Betriebsschließung infolge von Materialmangel oder von Absatzproblemen dem AG vorwerfbar waren, ist schwer entscheidbar und für den freigestellten AN oft nicht ersichtlich. Auch die Nicht-Beschäftigung während Kündigungsschutzprozessen, deren Ausgang nicht immer leicht vorhersehbar ist, ist dem AG nicht stets anzulasten.477

Es ist weder sinnvoll noch notwendig, den schlichten Abzug von anderweitigem Erwerb, der eine Bereicherung des AN verhindert, mit der Frage zu belasten, inwieweit der AG die Freistellung verhindern hätte können oder sollen.

3.3.6.
Recht auf Beschäftigung

Zu Recht wendet die Rsp die Anrechnungsregel auch bei Lehrlingen* und bei AN an, die über ein Recht auf tatsächliche Beschäftigung verfügen,* und sieht überdies die gesetzliche Regelung in § 18 TAG (Theaterarbeitsgesetz), die ebenso AN mit Beschäftigungsanspruch betrifft, eine mit § 1155 ABGB übereinstimmende Anrechnungsregel vor. Das besondere Interesse dieser AN-Gruppen an der tatsächlichen Erbringung der Leistung, das für die Gewährung eines Beschäftigungsanspruchs ausschlaggebend ist (zB Qualifikationsverlust durch Brachliegen der Fähigkeiten), kann Schadenersatzansprüche des AN begründen. Es hat jedoch nichts mit der Höhe des Entgeltanspruchs zu tun. Tatsächliche Vorteile infolge der Nicht-Beschäftigung sind gem § 1155 ABGB vom Entgelt abzuziehen.

3.3.7.
Zwischenfazit

Zusammenfassend und auf einer ganz grundsätzlichen Ebene gesprochen, lässt sich sagen, dass der AG im Allgemeinen wie jeder andere Vertragspartner die eigene vertragliche Leistung zur Gänze erbringen muss, dh also das volle Entgelt zu zahlen hat. Dies gilt jedoch uneingeschränkt nur für den Fall, dass die beiderseitigen Vertragsleistungen, Arbeit und Entgelt, ausgetauscht werden. Unterbleibt dieser Leistungsaustausch, so ist der AN so zu stellen, wie er bei Erfüllung stünde, aber nicht besser. Er muss sich daher tatsächliche Vorteile auch dann vom Entgelt abziehen lassen, wenn die Nicht-Beschäftigung grundlos erfolgt oder vom AG verschuldet wurde.

3.4.
Absichtlich zu erwerben versäumtes Entgelt

Anders als bei der Anrechnung tatsächlicher Vorteile werden im Zuge der Versäumnisanrechnung Beträge in Abzug gebracht, die der AN bloß hypothetisch erwerben hätte können. Die Versäumnisanrechnung führt daher zu einem Einkommensverlust des AN und ist besonders heikel.

Noch mehr als die Anrechnung tatsächlicher Vorteile steht die Versäumnisanrechnung in der Kritik der Lehre. Sie ist nach ganz überwiegender Auffassung nicht anzuwenden, wenn der AG den AN grundlos nicht beschäftigt oder ihm ein Verschulden an der Nicht-Beschäftigung anzulasten ist (siehe zum Meinungsstand oben 2.1.). Die Hauptursache für das Unbehagen mit der Versäumnisanrechnung liegt wohl darin, dass es nicht als sachgerecht angesehen wird, wenn der AG durch eine grundlose Freistellung den AN einseitig mit der Obliegenheit zur Aufnahme eines anderweitigen Erwerbs belasten kann.*

3.4.1.
Inhalt der Obliegenheit

Während der Anwendungsbereich der Versäumnisanrechnung viel Beachtung gefunden hat, wird kaum diskutiert, unter welchen Voraussetzungen anderweitiger Erwerb absichtlich versäumt wurde. In der Literatur* und in den Rechtssätzen der Judikatur* wird übereinstimmend ausgeführt, dass anderweitiger Erwerb schon dann anrechenbar sei, wenn der AN erfolgversprechende Bemühungen zur Aufnahme einer zumutbaren Beschäftigung unterlassen habe, und es nicht erforderlich sei, dass der AN ein konkretes Angebot ausgeschlagen habe. Zum Kreis der zumutbaren Tätigkeiten finden sich wenig konkrete Kriterien; ausgeführt wird, die Zumutbarkeit fehle bei von den geschuldeten wesentlich abweichenden* bzw nicht gleichwertigen* Tätigkeiten. Mehrere Autoren plädieren, wie oben erwähnt, dafür, bei Beurteilung der Zumutbarkeit die Verantwortung des AG für die mangelnde Beschäftigung iS eines beweglichen System zu berücksichtigen.* Vertreten wird auch, dass die anderweitige Tätigkeit vom ursprünglichen Arbeitsvertrag gedeckt sein muss.*

Der Kern der Problematik ist mE nicht der – viel diskutierte – Anwendungsbereich der Versäumnisanrechnung, sondern die zu großzügige Auslegung des Tatbestandsmerkmals des „absichtlichen Versäumens“.* Die beiden Fragen hängen zusammen: Je höher die an den AN durch die Obliegenheit gestellten Anforderungen sind, einen anderweitigen Erwerb aufzunehmen, desto weniger erscheint ein weiter Anwendungsbereich gerechtfertigt, der auch Fälle grundloser Nicht-Beschäftigung umfasst.*

3.4.2.
Keine zusätzlichen Verhaltensanordnungen

ME ist die Obliegenheit zur Aufnahme eines anderweitigen Erwerbs eng auszulegen: Wie im Folgenden näher begründet werden soll, ist es selbst bei vom AG nicht abwendbarer, faktischer Unmög-478lichkeit der Arbeitsleistung unbegründet, dem AN Verhaltensanordnungen aufzuerlegen, die ihn bei Erbringung der Dienstleistung nicht treffen würden. Wird die Versäumnisanrechnung – so wie dies hier vertreten werden soll – so eng ausgelegt, dass sie den AN im Vergleich zur Vertragsdurchführung nicht belastet, so ist es unproblematisch, dass der AG ihre Anwendung einseitig herbeiführen kann.

Aus dem Postulat, den AN nicht mit zusätzlichen Verhaltensanordnungen zu belasten, ergeben sich folgende Voraussetzungen für die Versäumnisanrechnung:

Erstens ist das Tatbestandsmerkmal des absichtlichen Versäumens nur dann erfüllt, wenn der AN ein konkretes Arbeitsangebot abgelehnt hat, weil er auch bei aufrechtem Vertrag nicht dazu verhalten ist, Anstrengungen zu unternehmen, um eine anderweitige Erwerbsgelegenheit zu suchen. Da die meisten AN ohne aktive Postensuche keine Jobangebote erhalten, wird eine Versäumnisanrechnung meist nur dann erfolgen können, wenn der AG selbst dem AN ein Zwischenarbeitsverhältnis anbietet* oder ein solches für den AN ausfindig macht.

Zweitens muss die angebotene Tätigkeit dem AN zumutbar sein. Zumutbar sind nur Tätigkeiten, die vom ursprünglichen Arbeitsvertrag gedeckt sind. Der AN kann die Verrichtung von Tätigkeiten, die er arbeitsvertraglich nicht schuldet, sanktionslos ablehnen. Andernfalls könnte der Versetzungsschutz umgangen werden.*

Diese These soll im Folgenden näher untersucht und begründet werden. Dabei wird sich zeigen, dass für sie sowohl die ratio der Versäumnisanrechnung (dazu 3.4.3.) als auch der Gesetzeswortlaut (dazu 3.4.4.) spricht. Überdies stimmt die hier vertretene Ansicht zwar nicht mit den Rechtssätzen der Judikatur, aber im Wesentlichen mit den Ergebnissen der OGH-Entscheidungen überein (3.4.5.).

3.4.3.
Zweck der Versäumnisanrechnung

Der Zweck der Versäumnisanrechnung spricht gegen eine Obliegenheit des AN zur Postensuche und zur Übernahme vertraglich nicht geschuldeter Tätigkeiten: Die Versäumnisanrechnung ist ausweislich der Materialien Ausdruck einer exceptio doli* und dient bloß dazu, die Anrechnungsregel gegen böswilliges Unterlaufen abzusichern. Der Zweck, doloses Handeln zu verhindern, kann jedoch nicht die Statuierung neuer Verhaltenspflichten begründen, sondern rechtfertigt die Anrechnung nur, wenn die Interessen des AN im Vergleich zur Beschäftigung nicht beeinträchtigt werden. Dies ist nur dann der Fall, wenn ihm ein konkretes Angebot mit vom ursprünglichen Vertrag gedeckten Tätigkeitsbereich unterbreitet wurde.

Gem § 1155 ABGB trägt der AG während aufrechten Vertrags das Risiko für die Verwertbarkeit der Arbeitsleistung. Eine extensivere als die hier vertretene Auslegung der Obliegenheit zur Aufnahme eines anderweitigen Erwerbs würde die Risikoverteilung des § 1155 ABGB – über den Umweg der Versäumnisanrechnung – teilweise wieder zurücknehmen.

3.4.4.
Absichtlichkeit

Dass eine enge Auslegung des Tatbestands geboten ist, ergibt sich auch daraus, dass das Gesetz nicht etwa das bloß fahrlässige Versäumen einer Erwerbsgelegenheit regelt, sondern Absichtlichkeit verlangt. Es ist daher erforderlich, dass es dem AN – zielgerichtet – gerade darauf angekommen ist, keine alternative Erwerbsgelegenheit aufzunehmen. Wenn der AN erfolgversprechende Bemühungen zur Postensuche unterlässt, so kann dies viele Gründe haben, wie zB Nachlässigkeit. Die Absichtlichkeit des Versäumnisses liegt nur dann nahe, wenn dem AN eine konkrete und zumutbare Erwerbsmöglichkeit angeboten wurde und er diese nicht angenommen hat.

Unrichtigerweise wird teilweise in Judikatur* und Literatur* die Absichtlichkeit so verstanden, dass der AN die Aufnahme einer Alternativbeschäftigung mit dem Ziel unterlassen haben muss, dadurch die Anrechnung zu verhindern. Eine solche subjektive Voraussetzung wäre nicht nur deshalb paradox, weil diese Motivation des AN auf dem Rechtsirrtum beruhen würde, dass er durch das absichtliche Ausschlagen einer anderen Erwerbsgelegenheit die Anrechnung verhindern könnte. Überdies ist nach dem Wortlaut des § 1155 Abs 1 ABGB klar, dass die Absichtlichkeit auf das Versäumen des anderweitigen Erwerbs und nicht auf die Verhinderung der Anrechnung zu beziehen ist.

3.4.5.
Vergleich mit der OGH-Judikatur

Obwohl das Höchstgericht die Voraussetzungen für die Versäumnisanrechnung in seinen Rechtsausführungen weit fasst, ordnet es im Ergebnis ganz selten die Anrechnung versäumter Einkünfte an.

In zahlreichen OGH-Entscheidungen kam es schon deshalb zu keiner Versäumnisanrechnung, weil den AG die Beweislast dafür trifft, dass der AN eine zumutbare anderweitige Anstellung aufnehmen hätte können. Die Judikatur erachtet es zu Recht nicht als ausreichend, wenn der AG nur unsubstantiiert ausführt, dass der AN anderswo arbeiten hätte können.* Schon aus dieser Beweislastverteilung folgt, dass dem AG eine Berufung auf die Versäumnisanrechnung meist nur dann gelingen kann, wenn er auf vom AN abgelehnte Angebote verweisen kann.*479

In mehreren Entscheidungen beurteilte der OGH einen anderweitigen Erwerb als nicht zumutbar (zB aufgrund der fehlenden Gleichwertigkeit der Dienste,* der erforderlichen räumlichen Trennung von der Familie* oder des fortgeschrittenen Alters des AN* und jüngst ua aufgrund der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der erhöhten Mobilitätsanforderungen*). Letztlich kam es nur in ganz wenigen Entscheidungen zur Versäumnisanrechnung: In zwei Fällen verwies der OGH die Rechtssache an das Erstgericht zurück und machte die Versäumnisanrechnung von den vom Erstgericht noch zu treffenden weiteren Feststellungen abhängig; die Entscheidungssachverhalte deuten aber da rauf hin, dass die AN in der Zeit der Nicht-Beschäftigung konkrete Angebote erhalten haben könnten.* Nur in drei Entscheidungen beurteilte der OGH die Versäumnisanrechnung abschließend selbst und bejahte sie. Das erste Urteil* betraf das Dienstverhältnis eines Solotänzers mit der Volksoper; der Tänzer hatte in der E genau bezeichnete, konkrete Angebote von anderen Bühnen ausgeschlagen. Die zweite E* wird in der Literatur zwar oft als Nachweis dafür zitiert, dass der AN selbst Anstrengungen zur Postensuche unternehmen müsse; tatsächlich hatte der AG sich jedoch in diesem Fall um eine anderweitige Beschäftigung für die AN bemüht und die AN hatte das konkrete und zumutbare Angebot abgelehnt. Nur in einer einzigen E* billigte der OGH die von dem Berufungsgericht aufgestellte Obliegenheit zur aktiven Arbeitsplatzsuche, sodass der AG mit seinem Anrechnungsbegehren durchdrang, ohne auf ein konkretes Angebot verweisen zu können. Für dieses Urteil war jedoch mE auch der besonders gelagerte Sachverhalt ausschlaggebend. Der AN hatte angegeben, während des Zeitraums der Nicht-Beschäftigung seine Ehefrau dabei unterstützt zu haben, sich selbstständig zu machen. Deshalb lag es nahe, dass der AN und seine Frau doch einen – tatsächlichen und nicht bloß versäumten – finanziellen Nutzen aus der Freistellung gezogen haben. Dass versäumte Einkünfte schon dann anzurechnen seien, wenn der AN erfolgversprechende Anstrengungen zur Postensuche unterlassen habe, entspricht jedoch – mit Ausnahme dieser vereinzelten E – nur den Rechtssätzen der Judikatur, aber nicht der tatsächlichen Entscheidungspraxis.

4.
Zusammenfassung

Die Anrechnungsregel des § 1155 ist bei allen arbeitgeberseitigen Leistungshindernissen anzuwenden. Der Abzug von Vorteilen, die der AN tatsächlich aus der Nicht-Beschäftigung gezogen hat, entspricht sowohl dem eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers als auch dem Normzweck, eine Bereicherung des DN zu verhindern. Der AN wird dadurch nicht schlechter gestellt, als er bei Beschäftigung stünde.

Die Versäumnisanrechnung ist eng auszulegen. Sie dient dazu, doloses Verhalten des AN zu verhindern, aber begründet keine neuen Obliegenheiten, die den AN bei Beschäftigung nicht treffen würden. Versäumter Erwerb ist nur dann anzurechnen, wenn der AN nachweislich ein zumutbares und konkretes Arbeitsangebot abgelehnt hat.480