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Wesentliche Änderung des Pflegebedarfs in Übergangsfällen

MONIKAWEISSENSTEINER

Der Kl, bei dem ua ein Zustand nach mehrfachen Wirbelsäulenoperationen besteht, bezog aufgrund eines Vergleichs vom 8.11.2012, der in einem Verfahren wegen Herabsetzung des Pflegegeldes geführt worden war, Pflegegeld der Stufe 3. Mit Bescheid vom 21.11.2016 entzog die Bekl das Pflegegeld mit Ablauf des Monats Dezember 2016. Der Kl begehrte die Weitergewährung in gesetzlicher Höhe, mindestens in der Höhe der Stufe 1.

Das Erstgericht sprach ein Pflegegeld der Stufe 1 zu; maßgeblich sei die neue Rechtslage. Der unstrittig festgestellte Pflegebedarf habe sich auf 94,5 Stunden monatlich verringert, weil der Kl infolge eines Wohnungswechsels mit dem Rollstuhl nun alle Wege in der Wohnung zurücklegen könne. Bei einem Pflegebedarf von 94,5 Stunden im Monat gebühre (nur) die Stufe 1.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. Die Revision ließ es im Hinblick auf die divergierende Judikatur und in der Literatur vertretene Auffassungen zu.

Der OGH hält die Revision für zulässig und ändert die Urteile der Vorinstanzen dahingehend ab, dass ein Pflegegeld der Stufe 2 ab 1.1.2017 zugesprochen wird.

In der sehr ausführlichen Entscheidungsbegründung setzt sich der OGH mit seiner bisherigen Judikatur und der Kritik in der Literatur auseinander und trifft folgende wichtige Klarstellungen: Eine Minderung oder Entziehung eines nach der alten Rechtslage rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes ist nur dann zulässig, wenn auch eine wesentliche Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfs eingetreten ist. Eine solche Änderung ist nur dann wesentlich, wenn diese so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der alten Rechtslage eine Minderung oder Entziehung zulässig gewesen wäre.

Entscheidend ist nicht der Bezug eines Pflegegeldes in einer bestimmten Pflegegeldstufe, sondern – nur – die Veränderung des Ausmaßes des Pflegebedarfs. Die Schutzwirkung der §§ 48b und 48f BPGG ist nicht nur auf die Pflegegeldstufen 1 und 2 zu beziehen. Vielmehr entfaltet sich diese auch für eine ehemals gewährte (höhere) Pflegegeldstufe – wie im vorliegenden Fall die Pflegegeldstufe 3. Der Kl hat bereits vor dem 1.1.2015 Pflegegeld in Höhe der Stufe bezogen, er fällt somit grundsätzlich in die Gruppe des von § 48f BPGG besonders begünstigten Personenkreises. Es besteht bei ihm seit der Gewährung – durchgehend – auch über den 1.1.2017 hinaus ein Pflegebedarf von jedenfalls 94,5 Stunden pro Monat. Nach der Rechtslage bis Ende 2014 entspricht dies der Pflegegeldstufe 2, nach der seit 2017 geltenden Rechtslage entspräche dieser Pflegebedarf der Pflegegeldstufe 1. Nach dem Gesetzeszweck des § 48f BPGG sind aber die am 31.12.2014 geltenden Zeitwerte heranzuziehen. Deshalb besteht Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Pflegegeldstufe 2.

Zudem vermeidet dieses Verständnis eine sachlich nicht zu rechtfertigende Differenzierung unterschiedlicher Gruppen von Pflegegeldbeziehern. Wie in der Revision aufgezeigt, wäre der Kl bei einem Zuspruch nur des Pflegegeldes der Stufe 1 wesentlich schlechter gestellt als ein Pflegebedürftiger, dessen Gesundheitszustand seit 2012 konstant einen durchschnittlichen Pflegebedarf von 94,5 Stunden monatlich bedingt hätte. Zu bedenken ist auch, dass der geringere Pflegebedarf ua auch darauf zurückzuführen ist, dass er in eine Wohnung gezogen ist, in der er die Wege mit dem Rollstuhl selbständig zurücklegen kann. Dass ihm der Umzug gegenüber36einem Pflegebedürftigen, der diese Veränderung nicht vorgenommen hat, beim laufenden Bezug des Pflegegeldes Nachteile in Zusammenhang mit einer Gesetzesänderung einbringen sollte, wäre mit dem Gesetzeszweck unvereinbar, Pflegegeldbezieher vor Kürzungen der ihnen vor der Novelle zuerkannten Pflegegelder zu schützen.

ANMERKUNG DER BEARBEITERIN:
Die Anspruchsgrundlagen für das Pflegegeld der Stufen 1 und 2 wurden zwei Mal verschärft. Mit dem Budgetbegleitgesetz 2011 (BGBl 2010/111BGBl 2010/111) wurden für ein Pflegegeld der Stufe 1 statt vorher mehr als 50 Stunden ab 1.1.2011 mehr als 60 Stunden und für die Stufe 2 statt 75 dann 85 Stunden erforderlich. Seit 1.1.2015 (BGBl 2015/12BGBl 2015/12) sind mehr als 65 bzw mehr als 95 Stunden erforderlich. In beiden Novellen gibt es Übergangsbestimmungen (§§ 48b Abs 2 bzw 48f Abs 2 BPGG), die eine Entziehung bzw Herabsetzung allein durch die geänderte Rechtslage verhindern sollten. Auch der OGH war bereits mehrfach mit Übergangsfällen befasst: 12.9.2013, 10 ObS 108/13z; 19.11.2013, 10 ObS 107/13b, 10 ObS 146/13p; 17.12.2013, 10 ObS 171/13i; 28.1.2014, 10 ObS 184/13a, 10 ObS 3/14k; 25.4.2017, 10 ObS 36/17t. Mit der vorliegenden E sieht sich der Gerichtshof zu einer Klarstellung veranlasst.