30Grobe Fahrlässigkeit bei Fehlen von Unterweisung für Arbeiten an einer Großbügelmaschine
Grobe Fahrlässigkeit bei Fehlen von Unterweisung für Arbeiten an einer Großbügelmaschine
Nicht nur die Übertretung der AN-Schutzvorschriften durch AG und ihnen gleichgestellte Personen begründet den Anspruch auf Integritätsabgeltung; auch eine grob fahrlässige Übertretung durch Arbeitskollegen des Versicherten kann ihn auslösen. Es kommt darauf an, ob AN-Vorschriften grob fahrlässig im Rahmen des vom DG zu vertretenden und ihm zuzuordnenden Bereichs verletzt wurden.
Die zum Unfallzeitpunkt gerade 15-jährige Kl war in den Sommerferien als Ferialpraktikantin in einem Wäschereiunternehmen beschäftigt. Sie war zu Beginn ihrer Tätigkeit von ihren KollegInnen nur instruiert worden, wie die Wäsche richtig und sorgfältig zu bügeln ist. Weder der Geschäftsführer noch die für die Arbeitseinteilung zuständige Arbeiterin oder andere MitarbeiterInnen hatten ihr die Sicherheitseinrichtungen der jeweiligen Bügelmaschinen oder die beim Bügeln einzuhaltenden Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmen erklärt. Auch vor dem Arbeitseinsatz an der Bügelmaschine „Großmangel“ erhielt sie keine sicherheitstechnische Unterweisung über die maschinenbezogenen Gefahren. Die Funktionsweise der Fingerschutzleiste und der beiden „Not-Aus-Taster“ wurden ihr nicht erklärt. Sie wusste nicht, dass bei der „Großmangel“ die Fingerschutzleiste aufgrund von Fehlfunktionen immer wieder nicht funktionierte und die Maschine trotz Aktivierens der Fingerschutzleiste weiterläuft. Allen anderen an dieser Maschine eingesetzten Büglerinnen war diese spezifische Gefährlichkeit der Arbeit an der „Großmangel“ bekannt. Die für die Arbeitseinteilung zuständige Arbeiterin hatte im Hinblick darauf die Arbeiterinnen – nicht aber die Kl – instruiert, dass trotz Fingerschutzleiste bei der Arbeit an der „Großmangel“ ein Maschinenstopp stets nur durch Betätigen eines der beiden „Not-Aus-Taster“ herbeizuführen ist. Hätte sie diese Anweisung auch der Kl gegeben, wäre der Unfall verhindert worden. Zum Unfallzeitpunkt war die für die Arbeitseinteilung zuständige Arbeiterin nicht anwesend.
Die eigentliche Ursache der Störanfälligkeit der Fingerschutzleiste war – wie ein später eingeholtes technisches Sachverständigengutachten ergab – ein nicht erkennbarer Konstruktionsfehler.
Die Kl geriet infolge dieser defekten Fingerschutzleiste mit der rechten Hand in die heiße Walze und erlitt Verbrennungen dritten Grades an der Hand und am Unterarm. Als Unfallfolge ist der Daumen in Beugestellung fixiert, an den anderen vier Fingern mussten Teilamputationen (am vierten und fünften Finger bis zur Mitte des Grundglieds) vorgenommen werden, die Hand weist nur noch eine geringe Restmotorik auf. Die Gesamtminderung bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt beträgt 70 %.
Die Kl begehrte die Gewährung einer Integritätsabgeltung im Ausmaß von 100 % der zum Unfall-38zeitpunkt geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
Im Berufungsverfahren schränkte die Kl ihr Begehren auf Zuerkennung einer Integritätsabgeltung im Ausmaß von 80 % der doppelten Höchstbemessungsgrundlage ein. Das Berufungsgericht sprach aus, dass das Ersturteil im Umfang der Klageeinschränkung wirkungslos ist, im darüber hinaus gehenden Umfang änderte es die E des Erstgerichts dahin ab, dass das Klagebegehren dem Grunde nach zu Recht besteht.
Der OGH wies die außerordentlichen Revisionen der Bekl zurück und führt aus, dass die Entscheidung von der Lösung der Rechtsfrage abhängt, ob der Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von AN-Schutzvorschriften verursacht wurde (§ 213a Abs 1 ASVG). Strittig ist nur noch, ob insoweit grobe Fahrlässigkeit vorliegt.
„[…]
I.2. Nach ständiger Rechtsprechung ist grobe Fahrlässigkeit iSd §§ 213a und 334 Abs 1 ASVG dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen (RIS-Justiz RS0030510). Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war (RIS-Justiz RS0030644). […] Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen. […] Der objektiv besonders schwere Sorgfaltsverstoß muss auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen sein […]. Bei der Beurteilung des Verschuldensgrades sind jeweils die Umstände des Einzelfalls zu prüfen […].
I.3. Da nach § 213a ASVG die erhebliche und dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden sein muss, kommt es für die Anspruchsbegründung nicht darauf an, dass nachgewiesen wird, welche bestimmte Personen den Unfall grob fahrlässig verursacht haben. Jeder Arbeitsunfall, der sich im Betrieb des Arbeitgebers ereignet hat und jede Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften sind – unfallversicherungsrechtlich und nicht haftungsrechtlich betrachtet – im weitesten Sinn der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen. […] Es liegt im Verantwortungsbereich des Arbeitgebers, seinen Betrieb so zu organisieren, dass es zu keinen Gefahren für die in die Betriebsorganisation des Arbeitgebers eingegliederten Arbeitnehmer kommt. Der Arbeitgeber hat für die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften zu sorgen. Nicht nur die Übertretung der Arbeitnehmerschutzvorschriften durch Arbeitgeber und ihnen gleichgestellte Personen begründet daher den Anspruch auf Integritätsabgeltung; auch eine grob fahrlässige Übertretung durch andere Personen – insbesondere durch Arbeitskollegen des Versicherten – kann ihn auslösen […]. Es kommt darauf an, ob Arbeitnehmervorschriften grob fahrlässig im Rahmen des vom Dienstgeber zu vertretenden und ihm zuzuordnenden Bereichs verletzt wurden.
I.4. Von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung weicht die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht ab. Es steht fest, dass jegliche nach den Arbeitnehmerschutzvorschriften gebotenen Unterweisungspflichten gegenüber der jugendlichen Klägerin (§ 14 ASchG, § 5 AM-VO, § 24 KJBG) außer Acht gelassen wurden und die von Seiten des Dienstgebers vorgeschriebene Belehrung über die Sicherheitseinrichtungen – auch von der (dem Dienstgeber zurechenbaren) Vorarbeiterin – unterlassen wurde. Indem die Aufklärung über die spezielle Gefährlichkeit der Arbeit an der Großmangel infolge der Störanfälligkeit der Fingerschutzleiste unterlassen wurde, wurden nach objektiver ex ante-Betrachtungsweise ganz einfache und naheliegende Überlegungen in Bezug auf den Arbeitnehmerschutz nicht angestellt, sodass ein Unfall als geradezu wahrscheinlich vorhersehbar war. […]
II.1. Der Umstand, dass dem Dienstgeber die Unkenntnis des Konstruktionsfehlers als Ursache der Störungen an der Fingerschutzleiste nicht subjektiv vorwerfbar ist, führt nicht zu dessen Entlastung als primären Adressaten der Arbeitnehmerschutzvorschriften. […]“
Versicherten gebührt bei einer Erwerbsminderung infolge eines Arbeitsunfalls im Ausmaß von mindestens 20 % eine Versehrtenrente aus der gesetzlichen UV. Aufgrund der gesetzlichen Bestimmung des § 213a ASVG haben Versicherte darüber hinaus Anspruch auf eine angemessene Integritätsabgeltung, wenn der Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von AN-Schutzvorschriften verursacht wurde, die Versicherten dadurch eine erhebliche und dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität erlitten haben und Anspruch auf Versehrtenrente besteht. Die Integritätsleistung ist eine einmalige Leistung.
Die vorliegende E verdeutlicht, dass nicht nur die Übertretung von AN-Schutzvorschriften durch den AG und ihm gleichgestellten Personen den Anspruch auf Integrationsabgeltung begründet; auch39die grob fahrlässige Außerachtlassung durch ArbeitskollegInnen löst den Anspruch aus. Außerdem weist der OGH zutreffend darauf hin, dass eine grob fahrlässige Verletzung von AN-Schutzvorschriften stets nach einer objektiven ex ante-Betrachtung in Bezug auf den AN-Schutz zu prüfen und immer dann anzunehmen ist, wenn der Eintritt eines Unfalles als geradezu wahrscheinlich vorhersehbar ist.