Zulässigkeit von Verfallsklauseln unter Berücksichtigung der Elternurlaubs-RL*
Zulässigkeit von Verfallsklauseln unter Berücksichtigung der Elternurlaubs-RL*
Nach der derzeitigen innerstaatlichen Rechtslage und Rsp können offene Ansprüche mangels schriftlicher Geltendmachung auch während des Zeitraumes einer Elternkarenz zulässigerweise verfallen. Unter Berücksichtigung der Elternurlaubs-RL erscheint die Zulässigkeit von kollektivvertraglichen sowie einzelvertraglichen Verfallsbestimmungen, welche den Verfall von Ansprüchen auch grundsätzlich während einer gesetzlichen Karenz nach MSchG bzw VKG (Väter-Karenzgesetz)* anordnen, jedoch unter einem völlig anderen Gesichtspunkt und ist die derzeitig gängige Praxis daher mehr als zu hinterfragen. Im Folgenden wird daher die Zulässigkeit von Verfalls- bzw Verjährungsbestimmungen unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Bestimmungen der Elternurlaubs-RL einer Überprüfung unterzogen. Zudem erfolgt eine kurze Darstellung, wie ein möglicher Widerspruch von nationalem Recht und europäischem Richtlinienrecht von RechtsanwenderInnen gelöst werden kann.
Zur Verdeutlichung der Problematik wird eingangs folgender frei erfundener Sachverhalt geschildert, wie er in der Praxis jedoch in ähnlichen Fallkonstellationen immer wieder auftritt.
Die AN M war seit 1.9.2012 beim AG N beschäftigt. Aufgrund einer Schwangerschaft und der nachfolgenden Geburt ihres Kindes am 30.8.2017 befand sich M seit 5.7.2017 in Mutterschutz bzw an den Mutterschutz anschließend ab 26.10.2017 in gesetzlicher Karenz nach MSchG, welche bis zum Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes beantragt wurde. Vor Beginn des Mutterschutzes wurden das aliquote Gehalt sowie die aliquoten Sonderzahlungen ausbezahlt. Eine Abrechnung der offenen Überstunden wurde jedoch nicht durchgeführt. Der KollV verlangt bei sonstigem Verfall eine schriftliche Geltendmachung aller offenen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis binnen sechs Monaten. Eine schriftliche Geltendmachung der offenen Überstunden durch M ist jedoch unterblieben. In weiterer Folge wurde das Arbeitsverhältnis einvernehmlich mit 30.9.2018 beendet. Der AG N führte daher eine Endabrechnung durch, verweigerte jedoch die Auszahlung der offenen Überstunden und berief sich mangels schriftlicher Geltendmachung durch M auf die kollektivvertragliche Verfallsbestimmung.
Am 18.6.2009 wurde eine von den europäischen Sozialpartnern BUSINESSEUROPE, UEAPME, CEEP und EGB überarbeitete Fassung der am 14.12.1995 geschlossenen Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub, die als RL 96/34/EG* kundgemacht wurde, unterzeichnet und in weiterer Folge durch die Elternurlaubs-RL in Kraft gesetzt.* Gleichzeitig wurde die RL 96/34/EG samt der damals enthaltenen Rahmenvereinbarung mit Wirkung zum 8.3.2012 aufgehoben.* Die Befugnis der Sozialpartner, derartige Vereinbarungen abzuschließen, ergibt sich aus Art 155 AEUV. Ziel sowohl der Rahmenvereinbarung selbst als auch der Richtlinie sind die bessere Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben für erwerbstätige Eltern sowie die Förderung der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt.*
Neben zahlreichen anderen Bestimmungen, die diese Chancengleichheit und Gleichbehandlung zu fördern suchen, enthält § 5 Nr 2 der Rahmenvereinbarung* folgende Regelung:
„Die Rechte, die der Arbeitnehmer zu Beginn des Elternurlaubs erworben hatte oder dabei war zu erwerben, bleiben bis zum Ende des Elternurlaubs bestehen. Im Anschluss an den Elternurlaub finden diese Rechte mit den Änderungen Anwendung, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und/oder Gepflogenheiten ergeben.“46
Diese Bestimmung der Elternurlaubs-RL ist nahezu wortgleich mit der im Anhang der RL 96/34/ EG in § 2 Nr 6 der Rahmenvereinbarung enthaltenen Regelung,* daher kann bei Auslegungsfragen auf die bereits bestehende Judikatur des EuGH zu dieser Vorgängerbestimmung zurückgegriffen werden.*
Ausgehend vom Wortlaut der Bestimmung ist zunächst zu untersuchen, was unter den in der Bestimmung genannten „Rechten“ zu verstehen ist. Bei näherer Betrachtung der Bestimmung fällt sofort das Fehlen einer Konkretisierung des von den europäischen Sozialpartnern verwendeten Begriffes der „Rechte“ ins Auge. Durch die fehlende Eingrenzung erscheint eine weite Auslegung dieses Begriffes geboten, der vor allem auch arbeitsrechtliche Kernansprüche wie den auf das offene Entgelt miteinschließt. Diese Rechtsansicht deckt sich mit der bereits existierenden Judikatur des EuGH zur Vorgängerbestimmung in der RL 96/34/EG. In der Rs Meerts hat der EuGH festgestellt, dass § 2 Nr 6 der Rahmenvereinbarung nicht definiert sei.* Angesichts des mit der Rahmenvereinbarung verfolgten Ziels der Gleichbehandlung von Männern und Frauen dürfe die Bestimmung jedoch nicht restriktiv ausgelegt werden und seien von dieser Regelung daher alle unmittelbar oder mittelbar aus dem Arbeitsverhältnis abgeleiteten Rechte und Vorteile hinsichtlich Bar- oder Sachleistungen erfasst, auf die der AN bei Antritt des Elternurlaubs einen Anspruch gegenüber dem AG hatte.* Auch der zum Zeitpunkt des Antritts einer gesetzlichen Karenz nach MSchG bestehende Anspruch einer AN gegenüber ihrem AG auf das offene Entgelt dürfte der vom EuGH in der Rs Meerts aufgestellten Begriffsdefinition entsprechen, da es sich bei einem derartigen Anspruch geradezu um einen der wesentlichen sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Ansprüche in Form einer Barleistung handelt.
Schon allein angesichts dieser vom EuGH vorgenommenen Begriffsdefinition erscheint die Zulässigkeit kollektivvertraglicher Verfallsbestimmungen mehr als fraglich. Unter Berücksichtigung der mit § 5 Nr 2 der Rahmenvereinbarung und mit der Elternurlaubs-RL generell verfolgten Ziele bestätigt sich dieser Eindruck. In der ebenfalls zur Vorgängerbestimmung in RL 96/34/EG ergangenen E in der Rs Gómez-Limón Sánchez-Camacho hielt der EuGH fest, dass durch § 2 Nr 6 der Rahmenvereinbarung jede Beeinträchtigung der Rechte der AN, die sich für die Inanspruchnahme eines Elternurlaubs entschieden haben, vermieden werden solle.* Die Regelung solle zudem verhindern, dass AN aus dem Arbeitsverhältnis abgeleitete und bereits erworbene Rechte verlieren und es sei zu gewährleisten, dass sich AN im Anschluss an den Elternurlaub im Hinblick auf ihre Rechte in derselben Situation befinden wie vor dem Antritt.* Aus der Formulierung in § 5 Nr 2 der Rahmenvereinbarung, wonach erst im Anschluss an den Elternurlaub die Rechte mit den Änderungen Anwendung finden, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften und Tarifverträgen ergeben, lässt sich zudem ableiten, dass die europäischen Sozialpartner mit dieser Regelung für den Zeitraum einer Elternkarenz offenkundig jegliche Eingriffe durch nationale Gesetze bzw Kollektivverträge in bereits vor der Elternkarenz erworbene Rechtsansprüche verhindern möchten.
Erstmals konkret zur Frage der Zulässigkeit von Verfallsbestimmungen hat sich der EuGH in der Rs ZBR der Landeskrankenhäuser Tirols geäußert.* Mit Urteil des EuGH wurde die Unzulässigkeit einer damaligen Bestimmung des Tiroler LBedG* über den Verfall des Erholungsurlaubs festgestellt. Nach Ansicht des EuGH stehe § 2 Nr 6 der Rahmenvereinbarung einer nationalen Bestimmung* entgegen, nach der AN im Anschluss an den Elternurlaub Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub verlieren, die sie im Jahr vor der Geburt ihres Kindes erworben haben.* Infolge dieser E mussten zahlreiche nationale Bestimmungen auf Bundes- und Länderebene über den Verfall des Erholungsurlaubs abgeändert werden. So wurde zB die damals geltende Regelung im UrlG* unter Bezugnahme auf dieses Judikat novelliert.*
Die Leitsätze des Urteils bleiben mE jedoch nicht allein auf den Verfall des Erholungsurlaubs beschränkt. Vielmehr ist aus der Rsp des EuGH abzuleiten, dass während eines Elternurlaubs jegliche Eingriffe in bereits erworbene Rechte durch Verfallsbestimmungen konsequent verhindert werden sollen.* ISd in der Rs Meerts aufgestell-47ten Begriffsdefinition* ist diese Rsp auf andere arbeitsrechtliche Ansprüche ebenso anzuwenden. Die Zulässigkeit von nationalen Verfalls- bzw Verjährungsbestimmungen während einer gesetzlichen Karenz nach MSchG ist demzufolge klar zu verneinen. Eine Bejahung der Zulässigkeit derartiger Bestimmungen für den Zeitraum einer Elternkarenz würde in der Praxis nämlich zu einem konträren Ergebnis führen, das mit den in der Richtlinie und der Rahmenvereinbarung enthaltenen Zielen völlig unvereinbar ist.
Trotz der nach dem Urteil in der Rs ZBR der Landeskrankenhäuser Tirols erfolgten Sanierungen der in zahlreichen nationalen Gesetzen verstreuten Urlaubsregelungen bleibt weiterhin eine erhebliche Rechtsunsicherheit bestehen. Sinnvoller wäre daher die Einführung einer generellen Verfalls- bzw Verjährungshemmung für die Zeit einer Elternkarenz gewesen, welche direkt im MSchG erfolgen hätte können. Gerade im Hinblick auf mögliche weitere Anlassfälle sind die vom Gesetzgeber – nur bezüglich des Verfalls des Erholungsurlaubs – getroffenen Klarstellungen wahrscheinlich nur unzureichend. Lediglich die Regelungen über den Verfall des Erholungsurlaubs selbst dürften richtlinienkonform ausgestaltet sein. Jedenfalls lassen die vom Gesetzgeber getroffenen Änderungen eine klare, Rechtssicherheit schaffende Regelung über die durchaus heikle Frage der generellen Zulässigkeit von Verfalls- bzw Verjährungsbestimmungen während einer Elternkarenz vermissen.
Auch wenn die Zulässigkeit von Verfalls- bzw Verjährungsbestimmungen verneint werden kann, bleibt die Rechtsdurchsetzung von europäischem Richtlinienrecht auf nationaler Ebene eine mitunter komplexe Angelegenheit. Im Gegensatz zu Verordnungen, die allgemeine Geltung haben und verbindlich und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten, sind Richtlinien nach Art 288 AEUV immer nur für Mitgliedstaaten verbindlich und verpflichten diese, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels Regelungen zu treffen, ohne jedoch genauere Vorschriften über die Form und Mittel der Umsetzung festzulegen. Unter gewissen Umständen kann sich jedoch eine unmittelbare Wirksamkeit von Richtlinien ergeben.
Dies ist nach Ansicht des EuGH dann der Fall, wenn die vorgesehene Umsetzungsfrist abgelaufen ist und der Mitgliedstaat daher säumig ist, weiters die Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist sowie den Einzelnen begünstigt.* Bei Erfüllung dieser Voraussetzungen kommt eine unmittelbare Wirksamkeit jedoch nicht im Verhältnis zwischen Privatpersonen in Betracht (bloß eine „vertikale Wirkung“ und keine „horizontale Wirkung“).* Lediglich gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat selbst oder unter dessen Aufsicht stehenden oder mit besonderen Rechten ausgestatteten Organisationen und Einrichtungen kann sich der Einzelne auf die unmittelbare Wirksamkeit einer Richtlinie berufen.* So kann sich nach ständiger Rsp des EuGH ein Einzelner gegenüber dem Staat in dessen Eigenschaft als AG auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen, sofern diese inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind.* Zu § 2 Nr 6 der Rahmenvereinbarung in der RL 96/34/EG hat der EuGH bereits festgehalten, dass diese Regelung hinreichend genau sei und daher vom Einzelnen geltend gemacht werden könne.*
Kommt hingegen eine unmittelbare Wirkung nicht in Frage, kann mit dem Instrument der richtlinienkonformen Interpretation des nationalen Rechts eine „quasi-horizontale“ Wirkung zwischen zwei Privatpersonen herbeigeführt werden.* Auch in der Rs Meerts wurde mit Hilfe der richtlinienkonformen Auslegung die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit der Elternurlaubs-RL festgestellt.* Somit könnten auch die zumeist auf Arbeitsverhältnisse zwischen Privatpersonen anwendbaren Verfallsbestimmungen auf nationaler Ebene durch das Instrument der richtlinienkonformen Interpretation juristisch angefochten werden. De facto könnte so eine generelle Verfalls- bzw Verjährungshemmung für den Zeitraum einer Elternkarenz erzielt werden.
Trotz der richtlinienkonformen Interpretation kann nicht in jedem Fall ein dem Richtlinienzweck entsprechendes Auslegungsergebnis erzielt werden, da die Auslegung einer nationalen Bestimmung stets durch den äußerst möglichen Wortsinn begrenzt ist. Wenn die richtlinienkonforme Interpretation an ihre Grenzen stößt und ein richtlinienkonformes Auslegungsergebnis nicht mehr mit nationalem Recht in Einklang gebracht werden kann, kann dies zur Unanwendbarkeit der nationalen Regelung iSd Anwendungsvorrangs des Unionsrechts führen.* So müssten48dem Unionsrecht widersprechende Verfalls- und Verjährungsbestimmungen von nationalen Gerichten unangewendet gelassen werden, sofern nicht ohnehin bereits mit der unmittelbaren Wirksamkeit oder mit Hilfe der richtlinienkonformen Interpretation das Auslangen gefunden werden kann.
Der EuGH hat in der Vergangenheit mehrfach klargestellt, dass er Eingriffe in bereits vor Antritt eines Elternurlaubs erworbene Ansprüche klar ablehnt. Auch eine Verfallsregelung über den Erholungsurlaub im Tiroler LBedG erklärte der EuGH für unzulässig, was zahlreiche Gesetzesänderungen in Österreich zur Folge hatte. Doch bleibt dieses Urteil mE nicht allein auf den Verfall des Erholungsurlaubs beschränkt, sondern ist aus der Judikatur zur Elternurlaubs-RL eine generelle Verfalls- bzw Verjährungshemmung für den Zeitraum einer Elternkarenz abzuleiten. ISd Rechtssicherheit wäre daher eine gesetzliche Verankerung einer generellen Verfalls- bzw Verjährungshemmung im MSchG wünschenswert. Ein/e betroffene/r AN könnte die Unzulässigkeit einer Verfallsbestimmung im Zuge der richtlinienkonformen Auslegung gerichtlich geltend machen. Gegenüber dem Staat als AG kommt sogar eine unmittelbare Wirksamkeit in Betracht. Kann die Unzulässigkeit einer Verfalls- bzw Verjährungsbestimmung weder durch die unmittelbare Wirksamkeit noch durch die richtlinienkonforme Interpretation erzielt werden, sind die dem Unionsrecht widersprechenden nationalen Bestimmungen vom mitgliedstaatlichen Gericht unangewendet zu lassen.