Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt – Wie entsteht eine Arbeitsnorm in der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)*

RUTHETTL
1.
Wozu internationale Arbeitsnormen?

In Zeiten zunehmender Globalisierung (technischer Fortschritt, Liberalisierung der Wirtschaft) ist es umso wichtiger, Standards für das Zusammenleben auf internationaler Ebene zu verhandeln. Bei der Verletzung von Rechten, wie Menschen- und Arbeitsrechten, durch Staaten können diese nur schwer innerstaatlich zur Verantwortung gezogen werden. Deshalb sind außerstaatliche Institutionen wie die ILO für die Durchsetzung von Menschen- und Arbeitsrechten unerlässlich. Durch wirtschaftlichen und politischen Druck aus der internationalen Gemeinschaft kann auf Staaten eingewirkt werden, um eine menschenwürdige (Arbeits-)Welt zu schaffen.

2.
Aufgaben und besondere Funktion der ILO
2.1.
Weltweite Friedenssicherung durch menschenwürdige Arbeit

Die ILO wurde 1919 nach den leidvollen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gegründet.* Der zerstörerischen Kraft der Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten sollte ein System der internationalen Kooperation entgegengestellt werden. Die Bedeutung menschenwürdiger Arbeit und da-49mit auch von Armutsbekämpfung für die Friedenssicherung wurde schon damals erkannt. So hält bereits die Verfassung der ILO von 1919 Folgendes in ihrer Präambel fest: „Der Weltfriede kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden.* Sozialpolitische Fragen und soziale Rechte sollten nicht mehr ausschließlich innere Angelegenheiten der Staaten sein, sondern internationale Mindeststandards für die Arbeitswelt geschaffen werden. „Die österreichische Arbeiterbewegung erkannte schon frühzeitig den hohen Wert der internationalen Zusammenarbeit. Durch das Zusammenleben in einem national vielgestaltigen Staatswesen war sie seit jeher mit der Notwendigkeit vertraut, die arbeitenden Menschen verschiedenster Nationen im Kampf um die soziale Gerechtigkeit zu vereinen.*

Österreich trat der ILO erstmals 1919 bei und war bis 1938* Mitglied. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte 1947 die Wiederaufnahme in die ILO.

2.2.
Dreigliedrige Struktur der ILO

Die Einzigartigkeit der ILO liegt ua in ihrer dreigliedrigen Struktur. Sie ist die einzige UN*-Sonderorganisation, in der nicht nur RegierungsvertreterInnen in den Gremien mitwirken, sondern gleichberechtigt auch VertreterInnen von AN (Gewerkschaften) und AG (AG-Verbänden). Diese Beteiligung der Sozialpartner an den Entscheidungsprozessen ist für die Arbeit der ILO, deren Effektivität und Umsetzung in der Praxis wesentlich. Für die AN-Bewegung ist sie ein wichtiges Forum zur Thematisierung von Problemen und Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt* und zur internationalen Solidarisierung.

2.3.
Normsetzung und Überwachung

Menschenwürdige Arbeit soll vor allem durch die Setzung von internationalen Arbeits- und Sozialstandards (Normen*) gewährleistet und geschützt werden. Die ILO hat zwar keine echte Gesetzgebungskompetenz wie Nationalstaaten, aber sie ist weit mehr als ein politisches Forum. Die Mitgliedstaaten der ILO, derzeit 187, haben die Kompetenzen zur Aushandlung internationaler Arbeitsstandards und deren Überwachung auf die zwischenstaatliche Ebene der ILO übertragen.

Die Standard- bzw Rechtssetzung erfolgt nicht einstimmig auf diplomatischem Weg, sondern mit qualifizierter Mehrheit in Gremien unter Beteiligung von AN- und AG-Organisationen. Die ILO-Normen gelten zwar nicht unmittelbar in den Mitgliedstaaten und diese müssen sich auch nicht völkerrechtlich verpflichten, ILO-Normen innerstaatlich umzusetzen (Ratifikation*). Es gibt aber eine Pflicht der Mitgliedstaaten, beschlossene Übereinkommen* ihren nationalen Legislativorganen (in Österreich dem Parlament) innerhalb eines Jahres vorzulegen* (gem Art 19 Z 5 lit b ILO-Verfassung) und zusätzlich gibt es darauf bezogene Berichtspflichten. Wenn jedoch ein Mitgliedstaat eine ILO-Norm ratifiziert, ist er daran gebunden und muss sie im nationalen Recht umsetzen.* Die Kontrolle der Einhaltung funktioniert vor allem über Berichtspflichten und den sogenannten Normüberwachungsausschuss der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK).*,*

3.
Normsetzung von internationalen Arbeits- und Sozialstandards
3.1.
Wer setzt Recht?

Die IAK legt als oberstes Organ der ILO die internationalen Arbeitsnormen und die Grundzüge der Politik zu sozialen und arbeitsrechtlichen Fragen fest. Sie ist somit die Legislative* der ILO, oft auch als „internationales Parlament der Arbeit“ bezeichnet, und tagt jährlich für zwei Wochen in Genf. Jeder Mitgliedstaat wird auf der Konferenz durch eine Delegation vertreten, die sich aus zwei VertreterInnen der Regierung, einer/m VertreterIn50der AN und einer/m VertreterIn der AG sowie deren technischen BeraterInnen zusammensetzt. Die Erarbeitung der Normen sowie die Kontrolle der Durchführung werden an dreigliedrige Ausschüsse delegiert. Die Stimmenverteilung im Plenum stellt sich wie folgt dar: zwei Stimmen für die Regierung und jeweils eine für die AN- und AG-Vertretung. Das bedeutet, dass die Regierungen von den Sozialpartnern im Plenum nicht überstimmt werden können.

3.2.
Überblick Rechtssetzungsprozess in der ILO

Wenn die ILO eine Norm setzen will, ist das ein Prozess von mehreren Jahren.

Zuerst beschließt der Verwaltungsrat (Exekutivorgan* der ILO), dass eine Norm verhandelt werden soll. Das Internationale Arbeitsamt (Operative*)) erstellt daraufhin einen vorläufigen Bericht („white report“) zu dem Thema und schickt Fragebögen an die Regierungen und AN- und AG-Organisationen der Mitgliedstaaten. Dann fasst das Amt die Fragebeantwortungen zusammen und verfasst einen ersten Schlussfolgerungsentwurf („yellow report“) – dieser ist die Basis für die erste Verhandlungsrunde auf der IAK. Auf der Konferenz finden erste Diskussionen statt und es werden erste Vorschläge für zukünftige Instrumente gemacht (Abstimmung mit 2/3-Mehrheit). Beruhend auf den ersten Schlussfolgerungen der IAK erstellt das Amt den „brown report“, der Überarbeitungen, Vorschläge, einen ersten Normenentwurf sowie Fragen an die Mitgliedstaaten und AN- und AG-Organisationen enthält. Nach der Konsultation der Regierungen, Vertretungen der AN und AG verfasst das Amt den „blue report“, der den überarbeiteten Normenentwurf als Basis für die zweiten Verhandlungen der IAK enthält. Zuletzt diskutiert und beschließt die IAK mit 2/3-Mehrheit die neue internationale Arbeitsnorm.

3.3.
Arten von ILO-Normen

Es gibt verschiedenste Arten von internationalen Arbeitsnormen.*Übereinkommen sind internationale Verträge, die mit Ratifikation völkerrechtlich verbindlich werden. Empfehlungen sind unverbindliche* Richtlinien für staatliches Handeln und dienen vor allem der Auslegung von Übereinkommen. Durch Protokolle werden Teile von Übereinkommen überarbeitet und aktualisiert. Resolutionen sind idR formelle Meinungsäußerungen bzw Willensbekundungen durch die IAK. Wenn die IAK ein formelles Bekenntnis zu bestimmten Prinzipien und Werten abgeben will und dies eine wichtige symbolische und politische Verpflichtung darstellen soll, tut sie dies in Form von Deklarationen.*

Bis dato wurden 189 Übereinkommen auf der IAK beschlossen.

Die wichtigsten Normen der ILO sind die sogenannten Kernarbeitsnormen,* die durch die Erklärung der ILO über grundlegende Rechte und Pflichten bei der Arbeit* politisch stark aufgewertet wurden, indem sich alle Mitgliedstaaten ausdrücklich zu ihnen bekennen. Diese Normen umfassen folgende Bereiche und Prinzipien: Vereinigungsfreiheit* und Recht auf Kollektivverhandlungen,* die Beseitigung der Zwangsarbeit,* das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf* und die Abschaffung der Kinderarbeit.*

Österreich hat bis dato alle acht Kernarbeitsnormen und insgesamt 54 Übereinkommen ratifiziert, 44 davon sind heute in Kraft.

4.
Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt

Wie die Normsetzung der ILO in der Praxis funktioniert, soll im Folgenden anhand des wichtigen51und aktuellen Themas „Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt“ dargestellt werden.

4.1.
Die Gewerkschaften machen Druck

35 % der Frauen weltweit haben Gewalterfahrungen, physisch und/oder sexuell. Zwischen 40 und 50 % der Frauen erleben unerwünschte sexuelle Annäherungsversuche, Körperkontakt oder andere Formen von sexueller Belästigung bei der Arbeit. Gewerkschaften und IGB (Internationaler Gewerkschaftsbund) forderten deshalb seit Jahren ein internationales Übereinkommen über geschlechtsspezifische Fragen von Gewalt am Arbeitsplatz und haben den Verwaltungsrat der ILO aufgerufen, das Thema auf die IAK-Agenda zu setzen.*

4.2.
Überblick über den bisherigen Rechtssetzungsprozess

Im Jahr 2015 setzte der Verwaltungsrat das Thema „Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt“ schließlich auf die Tagesordnung der IAK 2018. Es sollte eine erste internationale Norm zu Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt geschaffen werden. 2016 wurde eine Sachverständigentagung abgehalten und 2017 durch das Internationale Arbeitsamt ein erster Bericht „white report* mit einem Problemaufriss erstellt und mit einem Fragebogen an die Mitgliedstaaten und Sozialpartner versandt. Auf Basis der Antworten verfasste das Amt einen zweiten Bericht mit einem erstem Schlussfolgerungsentwurf „yellow report“.* Im Mai/Juni 2018 gab es erste Verhandlungen auf der IAK 2018. Die Schlussfolgerungen der IAK 2018 wurden durch das Amt überarbeitet und im Sommer 2018 als „brown report* – mit Fragen und einem ersten Normenentwurf – an die Regierungen und die VertreterInnen der AN und der AG zur Stellungnahme versandt. Auf Basis der Rückmeldungen wird ein letzter Bericht, der sogenannte „blue report“, durch das Amt erstellt werden, auf dessen Grundlage die abschließenden Verhandlungen auf der IAK 2019 stattfinden sollen.

4.3.
Erfahrungen aus dem Ausschuss „Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt“ der IAK

Als Basis für die ersten Verhandlungen auf der IAK 2018 diente der „yellow report“,* aus dem ua die Positionierungen der unterschiedlichen Regierungen und AN- und AG-Verbände zu einzelnen Themen ersichtlich sind. Beispielsweise hinsichtlich der Frage, welche Art von Instrument (= Norm) gewünscht ist. Das Internationale Arbeitsamt selbst schlug ein (verbindliches) Übereinkommen mit begleitender (unverbindlicher) Empfehlung vor. Das wurde seitens der Bundesarbeitskammer (BAK) und des ÖGB unterstützt. Die Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) wollte gar keine Norm zu dem Thema, und wenn schon, dann eine Empfehlung. Die österreichische Bundesregierung nahm gegen ein Übereinkommen und nur für eine Empfehlung Stellung.

Inhaltlich enthält der Bericht wichtige Punkte,* die im Umgang mit und im Kampf gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt entscheidend sind. Der Bericht verbrieft ein Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung und definiert neben Gewalt und Belästigung auch geschlechtsspezifische Gewalt. Er legt einen weiten persönlichen (wer ist aller geschützt) und örtlichen (und wo, bspw am Arbeitsweg oder im Rahmen arbeitsbezogener Kommunikationen, bspw E-Mails) Schutzbereich fest. Weitere wichtige Punkte: die Mitgliedstaaten und AG sollen zu Präventionsmaßnahmen verpflichtet werden, Betroffene sollen leichten Zugang zu geeigneten und wirksamen Abhilfemaßnahmen und Zugang zu Gerichten erhalten sowie BeschwerdeführerInnen Schutz vor Viktimisierung genießen. Außerdem sollen die Mitgliedstaaten in Fällen von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt angemessene Strafen vorsehen. Die Mitgliedstaaten sollen ebenfalls den AG und AN und ihren Verbänden sowie den Vollzugsbehörden Leitlinien, Ressourcen, Schulungen und sonstige Instrumente bereitstellen und Initiativen, darunter Sensibilisierungskampagnen, durchführen.

Der Ausschuss* im Rahmen der IAK 2018 bestand aus 515 Mitgliedern, 146 VertreterInnen der Regierungen, 185 der AG und 184 der AN. Das Thema Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt wurde teils heftig diskutiert. Das spiegelt sich auch in den über 300 eingebrachten Änderungsanträgen wider. Zum einen nahm die Diskussion, ob überhaupt ein verbindliches Übereinkommen beschlossen werden soll, viel Raum ein. Vor allem die AG positionierten sich stark dagegen. Ebenso ausführlich debattiert wurde über die Definition von Gewalt und Belästigung. Die Diskussion darum, wer AN iS dieser Norm sein soll, spiegelt den Gedanken wider, wie weit der Schutz vor Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt reichen52soll (bspw auch atypische Beschäftigungsformen). Sehr hitzig und nicht abgeschlossen diskutiert wurden die Themen, inwieweit sich häusliche Gewalt auf die Arbeitswelt auswirkt und ob es bestimmte, besonders „vulnerable“ (verletzliche) Gruppen gibt, die besonders Gewalt ausgesetzt sind, wie bspw MigrantInnen, AN mit Behinderung, LGBTI*. Mit einiger Überraschung der AN-Gruppe wurde sogar das Streikrecht seitens der AG bei verschiedenen Themen im Ausschuss ins Spiel gebracht und angegriffen – so forderten die AG bspw Schadenersatz bei Arbeitskämpfen. Dies wurde seitens der AN als wiederholter Versuch der AG gesehen, das durch die ILO-Kernarbeitsnormen garantierte Streikrecht zu untergraben und konnte in diesem Rahmen erfolgreich abgewehrt werden.

Trotz einiger Konflikte und inhaltlicher Divergenzen wurde der Text des potentiellen Übereinkommens im Ausschuss vorläufig fertig verhandelt, ein Großteil der ergänzenden Empfehlung ist noch offen. Nachlesbar ist dies im Verhandlungsbericht inklusive Schlussfolgerungen* und der „summary of prodceedings“*, die das Ausschussverfahren zusammenfasst.

Im Plenum der IAK fand ebenfalls eine Diskussion zum Thema statt und es wurde wie gewohnt beschlossen, den Normsetzungsprozess in einer zweiten Verhandlungsrunde auf der IAK 2019, die dann das 100-jährige Bestehen der ILO feiern wird, fortzusetzen.*

4.4.
Ausblick

Derzeit arbeitet das Internationale Arbeitsamt einen überarbeiteten Normenentwurf aus, den „blue report“. Dieser wird die Basis für die Verhandlungen auf der IAK im Juni 2019 sein. Falls die Verhandlungen 2019 erfolgreich abgeschlossen werden, wird dies die erste internationale Norm zu Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt werden – ein längst notwendiger Schritt.53