Ferdinand Hanusch – Der Staatssekretär der kleinen großen Schritte*

 GUENTHERSTEINER (WIEN)
„Aus diesen kleinen Dingen, die wir fordern, setzt sich das große Ziel zusammen, das wir vor Augen haben. Es wäre sehr angenehm, immer nur das große Ziel vor Augen zu sehen. So aber geht der Weg der geschichtlichen Entwicklung nicht. Von den kleinen Dingen nur kommt man ins Große.“*
1.
Die Wochen der „österreichischen Revolution“

Es gehört zu den Erfolgsgeschichten der jüngeren österreichischen Geschichte, dass der Übergang von der Monarchie zur Republik 1918/19 relativ unblutig verlief. Der Sozialdemokratie mit Staatskanzler Karl Renner kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Nicht von ungefähr zeigt das Republikdenkmal beim Parlament, 1928 errichtet, drei sozialdemokratische Politiker. Einer davon ist, wieder nicht ohne Grund, Ferdinand Hanusch, ein Vorsitzender der Gewerkschaftskommission der Freien Gewerkschaften und Staatssekretär – in der damaligen Diktion der Rang eines Ministers – im Staatsamt für soziale Fürsorge. Die Sozialpolitik hatte für die SozialdemokratInnen, die diese junge Republik als ihren Staat betrachteten, geradezu identitätsstiftenden Charakter.

Wenn wir vor dem Äußersten bewahrt bleiben wollen, mussten wir in erster Linie bei der Arbeiterschaft das Vertrauen erwecken, daß dieser Staat ein anderer ist als der alte [...]. Die Opfer, die die Industrie bringen muß, fallen gegenüber den Milliardenschäden, die ein Tag Revolution in einer Großstadt bedeutet, nicht sehr in die Waagschale“,* resümierte Hanusch im Dezember 1919 vor der Industriekonferenz.

2.
Ferdinand Hanusch

Ferdinand Hanusch, der „Vater der Sozialgesetzgebung“ in Österreich, steht wie kaum ein anderer für das „Ideal der Arbeiterbewegung“, den beruflichen und sozialen Aufstieg aus ärmlichsten Verhältnissen.* Am 6.11.1866 wurde Ferdinand in Oberdorf/Horní Ves, einer kleinen Webergemeinde mit rund 1300 Einwohnern, im politischen Bezirk Troppau/Opava geboren.* Die Weberfamilie Hanusch – die WeberInnen waren nicht erst durch das Drama Gerhart Hauptmanns zum Sinnbild des Arbeiterelends geworden – bewohnte eine kleine Keusche am Ortsrand. Der oft kränkliche Bub musste bereits vor Schuleintritt als „Viehhirtler“ arbeiten. Nach der Schulpflicht hält sich Ferdinand als Taglöhner über Wasser bis er eine Beschäftigung als Hilfsweber findet. 1884 geht er so wie viele Jungen aus armen Familien auf Wanderschaft. Die Reisen in den folgenden Jahren – sie führten ihn nach Wien, Ungarn, Rumänien bis in die Türkei – sind von tage- und wochenweiser Arbeit, von Hunger, Entbehrungen, von Suche nach Schlafgelegenheiten und auch einem Arrestaufenthalt geprägt. Doch „seine Erfahrungen als Mitglied einer ausgestoßenen Randgruppe, als Almosenempfänger und ausgebeuteter Abhängiger lassen ein Solidaritätsgefühl für die Menschen am Rande der Gesellschaft entstehen. Später wird er in seinen literarischen Arbeiten immer wieder diese sein Leben prägende Phase beschreiben.* 1888 gelingt ihm eine Anstellung als Weber in einer Seidenfabrik in seiner Heimat. 1890 heiratete er seine Jugendfreundin, der es in der Folge gelang, ihn von Alkohol und Kartenspiel fernzuhalten. Hanusch engagierte sich in einem Arbeiterverein und wurde 1897 als besoldeter Partei- und Gewerkschaftssekretär nach Sternberg/Šternberk berufen, drei Jahre später wurde er Sekretär der Union der Textilarbeiter und als solcher Mitglied und später Obmann der Reichsgewerkschaftskommission der freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften.* Ende Oktober 1918 ersuchte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) die Gewerkschaftskommission um die Nominierung eines Staatssekretärs für das Staatssekretariat für Soziale Fürsorge. Die Gewerkschafter sprachen sich am 31.10. einstimmig für ihren Obmann Ferdinand Hanusch aus,* der am 2.11.1918 noch den kaiserlichen Minister Ignaz Seipel auf seinem Platz vorfindet und nicht einmal einen Schreibtisch zur Verfügung gestellt bekommt.*267

Am 12.11.1918 erhält Hanusch in Josef Resch einen Unterstaatssekretär im Staatsamt für soziale Verwaltung, als „Mitarbeiter und Aufpasser“.*

Die Sozialpolitik Hanuschs geschah in einem „window of opportunity“ – das wusste Hanusch auch selbst: „Ebenso wie ein Geschäftsmann, der die Konjunktur nicht auszunützen versteht, kein guter Geschäftsmann ist, so wäre auch der kein guter Sozialpolitiker, der es nicht verstünde, Machtverhältnisse zum Vorteil der Arbeiterklasse auszunützen.* In der revolutionären Stimmung waren die bürgerlichen Parteien bereit, Sozialgesetze mitzutragen. Hanusch wusste, dass diese Zeit begrenzt war. Er profitierte auch davon, dass in den letzten Jahren der Monarchie auf Druck der Gewerkschaften vieles in Vorbereitung, aber nicht umgesetzt worden war.*Hanusch begann – der Not der Zeit entsprechend – sofort zu handeln: „Im engsten Einvernehmen mit der Gewerkschaftskommission arbeitend, verwandelte er das Staatsamt in ein Exekutivorgan der Gewerkschaften. Mit ebensoviel Besonnenheit wie Tatkraft ging er daran, die praktischen Bedürfnisse der Zeit zu befriedigen.*

Hanusch gab einem seiner Beamten den Auftrag, einen Entwurf zu erarbeiten. Mitunter waren dafür nur Stunden Zeit. „Vielfach wurde der Entwurf, wenn er die Zustimmung der Gewerkschaftskommission fand, fast unverändert zum Gesetze oder zur Verordnung [...].“ In der ersten Zeit wurden die Entwürfe der „paritätischen Industriekommission“, zusammengesetzt aus drei VertreterInnen des Hauptverbandes der Industrie und drei VertreterInnen der sozialdemokratischen Gewerkschaftskommission, vorgelegt. Damit konnte man der Zustimmung der Wirtschaft wie der Arbeiterschaft sicher sein, erinnert sich Karl Přibram, einer der wichtigsten Mitarbeiter Hanuschs, der viele dieser Gesetzesvorlagen ausarbeitete.* Weitere wichtige Mitarbeiter im Staatsamt waren Heinrich Kautzky, Julius von Kaan, Otto von Gasteiger, Franz Meinzinger von Meinzingen, Max Lederer, Emanuel Adler und Julius Tandler.*

3.
Den Menschen eine Existenz geben

Zu einer der allerersten Maßnahmen der Regierung auf sozialpolitischen Gebiet gehörte die Vollzugsanweisungen vom 4.11.1918 betreffend die Errichtung von Einigungsämtern und jene betreffend die Arbeitsvermittlung für die Zeit der Abrüstung. Am 6.11.1918 folgte die Vollzugsanweisung betreffend die Unterstützung der Arbeitslosen.* Sie war vor allem aus der Notwendigkeit entstanden, jenen vom Krieg Zurückgekehrten, oftmals traumatisierten oder zum Invaliden gemachten, sofort eine, wenn auch sehr bescheidene Existenzgrundlage zu bieten und sie wieder in die Gesellschaft einzugliedern. „Oder hat sich jemals jemand gedacht, daß, wenn die Front im Süden zusammenbrechen wird und hunderttausende Menschen sich zurückwälzen, diese Menschen, denen man durch 4 Jahre das Morden und alle möglichen Untugenden beigebracht hat, sich dann zugunsten der Ruhe und Ordnung im Innern des Staates einfach hinlegen und ruhig sterben werden, ohne aufzumucken?* Das gleiche Motiv traf auf jene zu, die durch das plötzliche Ende der Kriegswirtschaft ihre Arbeit verloren.* In Österreich gab es am 1.12.1918 45.675 Arbeitslose, am 1.2.1919 waren es bereits 161.803.*

Die Regelung wurde über Nacht aus dem Boden gestampft.* Die Kosten wurden aus der Staatskasse beglichen. Es wurde nicht lange gefragt und überprüft, jeder krankenversicherungspflichtige Arbeiter – später wurde die Regelung auf Angestellte und vorübergehend auf Landarbeiter ausgedehnt – sollte eine Unterstützung erhalten. Es ging darum, den Leuten etwas zu geben. Die Verordnung ist daher so symptomatisch für die Zeit.

Es war eine aufgewühlte Stimmung, in der die Rätebewegung, die die sozialistische Republik forderte, regen Zulauf erhielt. In jener kurzen Zeit, in der noch nicht klar war, dass sich die demokratische Republik durchsetzen würde. Bei den Wahlen für die Wiener BezirksarbeiterrätInnen beteiligten sich im April und Mai 1919 nicht weniger als eine halbe Million Menschen, um mehr als 130.000 Personen mehr, als die Sozialdemokratie zur selben Zeit bei der Wiener Gemeinderatswahl Stimmen auf sich vereinigen konnte.*

Mehrmals verlängert wurden die sich auf die Unterstützung der Arbeitslosen beziehenden Vollzugsanweisungen schließlich vom Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 24.3.1920* abgelöst. Dieses sah eine Drittelteilung der Kosten auf AG, AN und den Staat vor. Die Norm bezweckte zwar „dass den Arbeitslosen ohne große wirtschaftliche Schäden eine Unterstützung durch das Gesetz gewährt werden kann“,* war jedoch vor allem auch charakterisiert durch strengere Anspruchsvoraussetzungen. „Nun hatte jene Nachsicht, die bisher bei der Gewährung der Arbeitslosenunterstützung im Interesse der öffentlichen Ordnung geübt werden musste, jede Berechtigung verloren.“ Monat für Monat wurden nun Tausende aus der AlV ausgeschieden.* In Zahlen drückte sich dies dadurch aus, dass im April 1920 – noch vor der Gültigkeit des Gesetzes – 45.883 Arbeitslose verzeichnet268 waren, im Mai, nach Inkrafttreten, waren es nur noch 19.155.*

In das Bild dieser ersten Phase passt in weiterer Folge auch die Vollzugsanweisung über die Einstellung von Arbeitslosen in gewerblichen Betrieben,* dessen Erfolg aber eher dürftig war.*

4.
Das Achtstundentagsgesetz*

Ein weiteres wesentliches Gesetz, das in dieser ersten Phase als Provisorium beschlossen und erst später definitiv und auf alle Betriebe ausgedehnt wurde, war jenes über die Einführung des Achtstundentags in den fabriksmäßig betriebenen Gewerbeunternehmen.* Das Gesetz wird auch damit begründet, dass eine Kürzung der Arbeitszeit, aufgrund des Rohstoffmangels, die Beschäftigung einer größeren Zahl von ArbeiterInnen ermöglichte. Hanusch: „Es geht aber in einer Zeit, wie es die jetzige ist, nicht an, daß auf der einen Seite zehntausende Menschen länger als acht Stunden, zehn und elf Stunden, arbeiten, während andererseits viele zehntausende Menschen völlig arbeitslos sind [...]. Ich möchte das so sagen, daß wir auch die Arbeit möglichst demokratisieren müssen, daß möglichst alle unterkommen.“* In kontinuierlichen Betrieben müssten, so Hanusch, statt zwei zwölfstündigen Schichten nun drei achtstündige geschoben werden, was wiederum ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit sei. Hanusch sah in der Arbeitslosigkeit nicht nur die finanziellen Probleme: „[...] denn die Arbeitslosigkeit ist ja nicht nur eine finanzielle Frage für den Staat, sie hat auch noch andere Gefahren in sich; wenn auch die Leute unterstützt werden, so ist die lange arbeitslose Zeit immer eine soziale Gefahr für den Gesellschaftskörper [...].“*Hanusch wollte das Gewerbe schon in das ursprüngliche Gesetz einbinden.* Für Hanusch war der Achtstundentag für die ArbeiterInnen eine internationale Frage, sollten daher die Ententeländer den Achtstundentag nicht einführen, wäre es seinem Dafürhalten nach auch für die österreichische Volkswirtschaft nicht möglich, den Achtstundentag beizubehalten.*

Hanusch anlässlich der Beratung des Achtstundentagsgesetzes im Parlament im Dezember 1919: „Es wird das Staatsamt für soziale Verwaltung von der rechten Seite – und ich meine nicht die rechte Seite des Hauses, sondern die rechte Seite im allgemeinen – sehr unangenehm behandelt und es wird an ihm sehr unangenehme Kritik geübt: es sei ein Staatsamt für soziale Vergewaltigung, ein Staatsamt für soziale Verwüstung und wie all die Redensarten schon hießen. Ich mache Sie darauf aufmerksam: Wenn das Staatsamt für soziale Verwaltung seine Arbeit nicht so eingerichtet hätte, daß es vorschauend gewirkt hätte, ich weiß nicht, wie wir über die Klippe hinweggekommen wären, als in Budapest und München die Rätediktatur vorhanden war. Gerade durch die soziale Arbeit war es möglich, daß die Arbeiterschaft zu diesem Staate und zu dieser Regierung Vertrauen gewonnen hat und es war möglich, sie gegen die Versuche widerstandsfähig zu machen, es ebenso zu machen, wie es in Bayern und Budapest war. Es ist das nicht mein Verdienst gewesen und nicht das Verdienst des Amtes. Aber es ist notwendig, daß man es ausspricht, daß Regieren nicht nur von einem Tag auf den anderen leben heißt, sondern nach meiner Anschauung hat einer, der in der Regierung sitzt, auch die Aufgabe, etwas vorschauend zu wirken und Dinge zu tun, die vorschauend sind, damit Katastrophen verhindert werden können.*

5.
Das Betriebsrätegesetz

Die zweite Phase reichte von der Konstituierung der Nationalversammlung, einem ersten deutlichen Schritt der Konsolidierung des Staatswesens, bis etwa im Juli 1919, nach dem Zusammenbruch des zweiten kommunistischen Putschversuches in Österreich und dem Sturz des kommunistischen Regimes in Bayern und Ungarn, als die Rätebewegung endgültig in sich zusammensackte, und damit auch nicht mehr als das Schreckgespenst gegenüber den bürgerlichen Kräften eingesetzt werden konnte.

Diese zweite Phase bezeichnet Přibram als eine des „Radikalismus der Gesetzgebung“. Nun ging es nicht um quasi improvisierte Sofortmaßnahmen, sondern um die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft; „Sozialisierung“ hieß das Schlagwort. Eine Sozialisierungskommission wurde eingesetzt, deren Vorsitzender Otto Bauer war. Von dieser Sozialisierung blieb in der wirtschaftlichen Praxis freilich nicht viel übrig. Letztlich musste man sich damit begnügen, die riesigen Areale der ärarischen Rüstungsbetriebe, wie das Arsenal in Wien sowie auch die Betriebe in Wöllersdorf, Blumau und Fischamend, in „gemein- bzw. gemischtwirtschaftliche Unternehmungen“ zu überführen, was allerdings auch bald scheiterte. Von der „Sozialisierungskommission“ blieb letztlich als ihr sichtbarster Ausdruck das von ihr vorverhandelte Betriebsrätegesetz.* Das Gesetz wandelte, so Ferdinand Hanusch, die „absolute Monarchie des Fabrikherrn in eine konstitutionelle“ um.* Das Gesetz befriedigte einen dringenden Wunsch der Gewerkschaften, ohne wirklich in die kapitalistische Wirtschaftsordnung einzugreifen.* Und doch erhielten die AN bedeutende Rechte, die bislang undenkbar waren: „Die gesetzlich anerkannten Vertrauensmänner der Arbeiter sind nun269 als Betriebsräte berechtigt, den Betrieb mitzuverwalten, an der Betriebsführung teilzunehmen, die Bilanz des Unternehmens zu prüfen, die Gewinn- und Verlustausweise und die Lohnlisten zu kontrollieren. Mit diesem Gesetz ist nun die Grundlage der demokratischen Betriebsverfassung, die die Arbeiterklasse zur Mitbestimmung des wirtschaftlichen Schicksals heranzieht, gelegt.* Das österreichische Betriebsrätegesetz, die „Magna Charta der Arbeiterschaft der Nachkriegszeit“,* war weltweit einzigartig und wurde zum Vorbild für die Einführung der betrieblichen Mitbestimmung in anderen Staaten.

In diese Phase gehört auch das Gesetz über den Urlaub von ArbeiterInnen vom 30.7.1919.* Durch diese Norm wurde ein Anspruch auf Urlaub vor allem den gewerblichen Hilfsarbeitern gewährt. Zwar hatten bereits zahlreiche Kollektivverträge einen entsprechenden Urlaubsanspruch festgelegt, doch eine gesetzliche Festlegung gab es in Österreich, wie auch in anderen Staaten, nicht. Das Gesetz knüpfte in seinen Bestimmungen zum Teil an eine frühere Vollzugsanweisung des Staatsamtes für soziale Verwaltung über den Urlaub von jugendlichen Lehrlingen, Arbeitern und Angestellten aus dem Jahre 1919 an. Wurde in jener Vollzugsanweisung unter bestimmten Bedingungen für das Jahr 1919 ein vierwöchiger Urlaub festgelegt, so wurde nun – von diversen Bedingungen befreit – ein vierzehntägiger Urlaub ohne Verkürzung der Bezüge normiert.* Der Sozialdemokrat Josef Wiedenhofer betonte in der Nationalversammlung, dass die AG nichts gegen das Gesetz hätten, da es geneigt war, den sozialen Frieden zu fördern, „da es die Kämpfe erspart, die bei Abschluss von Kollektivverträgen die Frage der Urlaubsgewährung immer wieder hervorgerufen hat“.*

6.

Die dritte Phase ist nach Přibram jene, in der zahlreiche alte Forderungen der Gewerkschaft umgesetzt wurden: Die Verkürzung der Arbeitszeit, die AlV, das Gesetz über die Einigungsämter und die kollektiven Arbeitsverträge,* die Schaffung der Arbeiterkammern.*

Einigungsämter wurden per Vollzugsanweisung des Staatsrates vom 4.11.1918 errichtet. Es ging damals darum, die von der Arbeiterschaft auf ihrem großen Arbeitertag vom 5.11.1916* geforderten und dann 1917 eingerichteten „Beschwerdekommissionen“ ihres militärischen Charakters zu entkleiden. In den Beschwerdekommissionen ging es vor allem darum, dem Unmut der Arbeiter in den Kriegsleistungsbetrieben zu begegnen.*Hanusch war schon für die AN-VertreterInnen in dieser Beschwerdekommission gesessen. Die bislang provisorische Einrichtung der Einigungsämter sollte nun eine gesetzliche Grundlage erhalten. Den Gewerkschaften gelang es zwar, in der Vorkriegszeit Kollektivverträge in immer größeren Umfang durchzusetzen, doch es gab – wie Hanusch in der Nationalversammlung ausführte – „eigentlich kein Gericht, welches über Kollektivverträge zu entscheiden gehabt hätte, ein Zustand, der bei der heutigen wirtschaftlichen Verfassung und bei dem heutigen Organisationsleben auf Seiten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer selbstverständlich nicht mehr geduldet werden kann“.* Bezüglich der kollektiven Arbeitsverträge wollte der Gesetzgeber klar zum Ausdruck bringen, dass diese „einen bestimmenden Einfluss auf die Regelung der Arbeitsverhältnisse“ haben und somit dem sogenannten Werkstätten- oder Firmenvertrag nur „eine untergeordnete Wirkung“ zukommt.* Die Normierung der Priorität der Kollektivverträge war den Gewerkschaften ein ganz zentrales Anliegen und spielte schon bei den Diskussionen über das Betriebsrätegesetz in Unterkommissionen der Sozialisierungskommission eine große Rolle.*

Die Einrichtung von Arbeiterkammern, einer lang zurückliegenden Forderung von Teilen der Arbeiterschaft, war bereits im Zusammenhang mit den Beratungen über das Betriebsrätegesetz von den Regierungsparteien vereinbart worden. Für Hanusch war vor allem auch die Herstellung von „Sozialparität“ in der Vertretung der großen gesellschaftlichen Gruppen von Bedeutung und ein ganz entscheidendes Anliegen, das es durchzusetzen galt. Wenn es Handels- und Gewerbekammern gibt, dann „müssen die Arbeiter darauf Gewicht legen, dass sie eine gleichartige Vertretung bekommen, da sie wissen, wie sehr die Staatsverwaltung durch die Tätigkeit dieser Art von Interessenvertretungen beeinflusst wird.* Doch die Arbeiterkammern waren nicht nur als Pendant zu den Gewerbe-, Industrie- und Handelskammern sowie der Landeskulturräte (als Vorläufer der Landwirtschaftskammern) gedacht, sondern vielmehr als Unterstützung der Betriebsräte und Gewerkschaften. Sie sollten ein „Schutzschild“ zur Verteidigung der sozialen Errungenschaften in der Revolutionszeit sein und den „Gewerkschaften ein Apparat sein, die Wirtschaft zu durchleuchten, sozialpolitisch das Gestrüpp gesetzlicher Einrichtungen zu durchdringen und arbeitsrechtlich alles verteidigen zu helfen“.*

7.
Das Ende der Amtszeit Hanuschs

Das Ende der dritten Phase markiert das Ende der Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und270 Christlichsozialen nach den Wahlen des Oktober 1920, gleichbedeutend mit dem Ende der Ministerschaft Hanuschs. Die Sozialdemokratie wurde in die Opposition gedrängt. Das Ende der Koalition und damit seiner Tätigkeit als Staatssekretär nahm Hanusch nicht schwer. Er hatte bei einem Fortbestand der Koalition Angst vor Spaltungstendenzen: „Ich muß schon sagen, mir ist die Einheit der Partei und der Gewerkschaften lieber als die ganze Regiererei. [...] Und wenn verlangt wird, daß das Ministerium für soziale Verwaltung allein von uns übernommen werden solle, so müßten Sie erst den Mann finden, der sich dazu hergibt, unter dem Zepter Seipels ein Amt zu leiten. Weder ich noch ein anderer hätten, ohne uns zu prostituieren, auch nur acht Tage in einem solchen Kabinett aushalten können.*

Das Ende seiner Amtszeit machte es Hanusch jedoch unmöglich, ein großes Projekt im Bereich der SV noch voranzutreiben. Auf seinem Schreibtisch lag ein Entwurf für eine Alters- und Invalidenversicherung der ArbeiterInnen. Im Dezember 1920 brachte er ihn im Nationalrat ein. Zur Alters- und Invalidenversicherung sagt Hanusch im Juli 1919, dass ein solcher Entwurf nicht möglich sei, solange die Grenzen des Staates noch nicht feststehen würden.* Basis des Aufbaus der SV war für ihn die Organisation der Krankenkassen. Das Ideal der Einheitskasse scheiterte auch daran, dass die Arbeiterkassen sich gegen die Integrierung der LandarbeiterInnen sträubten, die sie als „indifferentes Proletariat“ sahen. Auch sahen die Angestellten ein Bedürfnis, ihre eigenen Kassen zu behalten, die wiederum die ArbeiterInnen als „schädlich“ erachteten. Schließlich hakte es gegenüber den Christlichsozialen auch an der Frage der Zusammensetzung der Gremien. Die SozialdemokratInnen hatten Angst vor der Übernahme der Kasse durch die UnternehmerInnen mithilfe von „gelben“ Gewerkschaften.* Angesichts dieser Probleme konnte man, wie es im Ausschussbericht hieß, „daher nur machen, was Konsens fände, und dies sei die Beseitigung der nicht leistungsfähigen Kassen“.* Die Regelung des Kassenkonzentrationsgesetzes fiel dementsprechend defensiv aus.

Auch von Hanusch bereits eingebracht wurde ein Gesetzentwurf zur Einbeziehung aller unselbständig Erwerbstätigen in die KV.* Realisiert wurde dies jedoch erst mit der VII. Novelle des KVG von 1921.* Unter die Errungenschaften der Ära Hanusch gehört jedoch die Einbeziehung der Staatsbediensteten in die KV.*Hanusch wurde nach dem Ende seiner Ministerschaft Direktor der Arbeiterkammer Wien. Dies blieb er bis zu seinem Tod.

8.
Das „window of opportunity“ schließt sich

Mit dem Ende der Koalition war zweifellos das „window of opportunity“, das sich durch die revolutionäre Situation für die Sozialpolitik ergeben hatte, wieder geschlossen. Die Angst vor der Revolution war vorüber. Die Klage über die „sozialen Lasten“ stieg wieder an. Berühmt ist der Ausspruch von Bundeskanzler Ignaz Seipel vom „Wegräumen des revolutionären Schuttes“.* Auch wenn Seipel nicht sagte, was er konkret damit meinte, war doch klar, dass er die Sozialpolitik der Umbruchzeit mit der „Revolution“ verknüpfte. Ebenso wie die SozialdemokratInnen dies taten, die Bewertung war eine unterschiedliche. Hanusch meinte dazu: „Es gab noch keine Zeit, in der über die sozialpolitischen Lasten nicht gejammert wurde.

Eine Industrie, so Hanusch, die sich mit den Banken solidarisch erkläre und gegen eine Senkung des Kreditzinssatzes sei, habe kein Recht, sich über soziale Lasten zu beklagen. „Und wenn dieselbe Industrie noch Umlagen einhebt, um Frontkämpfer- und andere Büttelorganisationen zu unterstützen, hat sie erst recht kein Recht, sich über sozialpolitische Lasten zu beklagen.*

Die Sozialdemokratie habe, so Hanusch, seitdem sie aus der Regierung ausgeschieden sei, die Errungenschaften der Revolution zu erhalten vermocht. Er warnte jedoch davor, dass die Regierung diese Sozialpolitik durchlöchern würde.* In der Tat betrieb die Regierung Seipel dann eher Klientelpolitik für die Angestellten und eine Sozialpolitik unter der Prämisse dessen, was in ihren Augen wirtschaftlich möglich erschien.

9.
Konservative Sozialpolitik?

Karl Přibram, kritischer Zeitgenosse, Mitarbeiter Ferdinand Hanuschs und damals wohl Anhänger eines radikalen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft – wie er

Otto Bauer
vorschwebte – betonte im Rückblick den konservativen Charakter der damaligen Sozialpolitik. Er meinte, die Gewerkschaften hätten „den politischen Radikalismus der Partei“ gehemmt und „alle weitausgreifenden, auf eine grundsätzliche Umwälzung des Wirtschaftslebens abzielenden Pläne“ mehr oder minder verhindert:*Denn alle Sozialpolitik, mag sie sich scheinbar noch so radikal gebärden, entspringt konservativen Instinkten; immer will sie das Bestehende erhalten, gewissermaßen durch einen Einbau die schwankend gewordenen Grundlagen der geltenden Wirtschaftsordnung pölzen und festigen.*

Abgesehen davon, dass eine progressive, radikale Sozialpolitik – wie die Geschichte lehrt – dazu beiträgt, einem jeden Kapitalismus innewohnenden schrankenlosen Liberalismus Einhalt zu gebieten und damit hilft, eine sozialere und gerechtere Wirtschafts- und Gesellschaftsform zu etablieren, ist in der „österreichischen Revolution“ sehr rasch klar271 geworden, dass weder eine sozialistische Revolution nach dem Vorbild der (nur kurzfristig bestandenen) Räterepubliken noch ein Anschluss an Deutschland in der Realität in Österreich auch nur die geringste Chance auf Verwirklichung haben. Für die österreichische Sozialdemokratie ging es darum, durch eine offensive, beispielslose Sozialpolitik die Arbeiterschaft in den neuen Staat zu integrieren. Die Sozialpolitik hatte somit eine hohe demokratiepolitische Funktion.

Ferdinand Hanusch war ein Exponent dieses Verständnisses von Sozialpolitik. Er sah Sozialpolitik als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Konzeptes: „Eine weitschauende Staatspolitik muß darauf bedacht sein, eine Gemeinschaft lebenstüchtiger, gesunder, arbeitsfroher, intelligenter und ihrer Menschenwürde bewußter Individuen zu züchten und zu erhalten. Gelingt ihr dies, dann ist erhöhte Produktivität, volkswirtschaftlicher Aufschwung und allgemeiner Wohlstand die naturgemäße Folge. Eine fortschrittliche Sozialpolitik schafft die Vorbedingungen, um dieses Ziel, wenn auch unter Opfern der Gesamtheit und Hintansetzung persönlicher Interessen einzelner Gesellschaftsschichten, zu fördern.*

Hanusch knüpfte auch die Verbindung von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik: „Nur wenn die Arbeiterschaft Gelegenheit findet, sich mit den Fragen der Wirtschaftspolitik eingehend zu beschäftigen, wird sie auch jeweils den Wert und das Ausmaß der erforderlichen Sozialpolitik zu überblicken vermögen. [...] Alle diese gesetzlichen Maßnahmen sollen dem Arbeiter nicht nur die physiologisch zur körperlichen Erholung nötige Ruhezeit sichern und dadurch seine Arbeitsfähigkeit verlängern, sondern sollen ihm auch die Möglichkeit bieten, Körper und Geist zu kultivieren. [...] Er soll den Wert seiner Persönlichkeit, die Bedeutung seiner Arbeit für den gesamten Wirtschaftsprozeß erkennen lernen. [...]*

10.
„Erntezeit“

Das Bild von Ferdinand Hanusch prangt zu Recht auf dem Republikdenkmal. Die Sozialpolitik war eines der Charakteristika dieser neuen Republik (Deutsch)Österreich. Die Sozialpolitik hatte wesentlichen Anteil daran, dass diese Umbruchphase von der Monarchie zur Republik gelang. Ferdinand Hanusch hatte an der Spitze des Staatsamtes für soziale Fürsorge bzw soziale Verwaltung eine Schlüsselposition und einen wesentlichen Anteil daran. Bemerkenswert ist hierbei vor allem auch sein Verständnis vom Zusammenhang von Sozialpolitik mit Wirtschaftspolitik, das damals bei Vertretern der Arbeiterschaft noch nicht allgemein gegeben war.

Für die (sozialdemokratische) Gewerkschaftskommission war Ferdinand Hanusch der richtige Mann zur richtigen Stunde am richtigen Platz. Etwas (wohl sehr übertrieben) pathetisch urteilte sie in einem Erinnerungsbuch: „Es gibt kein Gebiet der sozialpolitischen Gesetzgebung, auf welchem Hanusch nicht Spuren seiner segensreichen Wirksamkeit hinterlassen hätte. Er war der unmittelbar aus der Arbeiterschaft hervorgegangene Staatsmann der Arbeiter, der Minister für soziale Verwaltung im wahrsten Sinne des Wortes, ein Mann von einer Reinheit und Lauterkeit der Gesinnung, von einer Großzügigkeit und Auffassungsgabe, von einer Tatkraft und Umsicht, von einem Verständnis für den Geist der Zeit und von einem Zauber der Persönlichkeit, wie sie sich selten in einem Menschen vereinigen.*

Ferdinand Hanusch starb am 28.9.1923. Selbst die christlichsoziale Reichspost kam nicht umhin, ihm in einem Nachruf Respekt zu zollen: „Er zeichnete sich unter den Sozialdemokraten stets durch seine Mäßigung aus und erfreute sich im Parlament auch bei seinen politischen Gegnern große Achtung, die nicht nur seinen ehrenwerten Charaktereigenschaften, sondern auch seinen Kenntnissen in sozialpolitischer Beziehung galt.*272