HarnoncourtUnfreie Arbeit. Trabalho escravo in der brasilianischen Landwirtschaft

Promedia Verlag, Wien 2018, 248 Seiten, € 30,–

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Das lesenswerte, informative und aufrüttelnde Buch von Julia Harnoncourt thematisiert sklavenähnliche Beschäftigungsverhältnisse in Brasilien. Der Begriff „trabalho escravo“ steht für Arbeitsformen, die keine Bewegungsfreiheit für die ArbeiterInnen gewährleisten, die ihnen ein Arbeitspensum abpressen, das die Reproduktion der Arbeitskraft nicht erlaubt und bei denen am Arbeitsplatz die notwendigen Bedingungen für ein Überleben nicht oder kaum vorhanden sind. Die Autorin untersucht in ihrer an der Universität Wien approbierten Dissertation derartige Arbeitsformen am Beispiel der Landwirtschaft des Bundesstaates Pará in Brasilien.

Im ersten Abschnitt werden theoretische und methodische Fragen erörtert. Die theoretische Reflexion ist anspruchsvoll und orientiert sich an Bourdieu und seiner Forderung nach Multifokalität und Multidimensionalität. Eine methodisch zentrale Rolle spielen Interviews. Eine Vielzahl wörtlicher Zitate vermittelt einen unmittelbaren Eindruck in die Arbeits- und Lebenswirklichkeit dieser Menschen.

Ein Anliegen der Autorin ist es, das Phänomen der unfreien Arbeit in das globale Gefüge einzubetten. Im Hintergrund wird auch deutlich, wie sehr die Geschichte Brasiliens wesentlicher Faktor für Existenz und Ausbreitung dieser Arbeitsform ist. Zu diesem leider immer noch aktuellen Ausbeutungsregime tragen Umstände wie die Ungleichverteilung von Landbesitz, die Verbindungen zwischen Staat und den einflussreichen Geld- und Grundbesitz-„Eliten“, die Rolle des Rassismus und nicht zuletzt auch die Geschichte Brasilien als einer SklavInnengesellschaft bei.

Die Autorin nimmt in diesem theoretischen Teil zu den wesentlichen Hypothesen zur travalho escravo Stellung. Insb wird die Frage erörtert, inwieweit diese Arbeitsform mit kapitalistischen Verhältnissen kompatibel ist und warum sie vorwiegend in halbkapitalistischen Gesellschaften existiert. Harnoncourt vertritt dazu, dass ein Zusammenhang zum Kapitalismus existiert, dass diese Arbeit im kapitalistischen System eine Funktion hat und sie auf einer komplexen Verbindung mit machtpolitischen Positionen in bestimmten geographischen Einheiten beruht. Sie weist darauf hin, dass freie und unfreie Arbeit miteinander durch die Produktion für den globalen Markt verbunden sind und in den Betrieben oft beide Arbeitsformen nebeneinander bestehen. Unfreie Arbeit existiere, so die Autorin, weil sie billiger sei. Sie dient der Profitmaximierung der Unternehmen und der Steigerung der Kapitalakkumulation.

Der zweite Abschnitt der Monographie besteht in einer umfassenden empirischen Untersuchung der trabalho escravo in der Region Pará. Am Beginn der Abwärts-Karriere dieser ArbeiterInnen steht regelmäßig eine prekäre finanzielle Situation. Vor allem die Armut der Landbevölkerung wird von den „gatos“ ausgenutzt, die diese mit falschen Versprechungen rekrutieren. Schon die Reise nach Pará führt zu Desorientierung und zerreißt die bestehenden sozialen Bindungen. Bis zur Ankunft am Arbeitsplatz sind die ArbeiterInnen bereits verschuldet. Die Arbeit wird von bewaffneten Aufpassern („pistoleros“) streng überwacht und es ist kaum möglich, den Arbeitsort zu verlassen. Es gibt kaum (genießbare) Lebensmittel und wenig (zT verseuchtes) Trinkwasser. Die Lebensmittel sind oft verschimmelt und verwurmt, die Schlafgelegenheiten nicht selten nur Plastikplanen. Es gibt keine medizinische274 Versorgung und die Arbeit ist oft mit massiv gesundheitsschädlichen Arbeitsstoffen zu verrichten.

Der quantitative Umfang der Arbeitsform ist schwer feststellbar, da sie illegal ist und versteckt wird (nach meinen Recherchen handelt es sich derzeit um ca 160.000 Personen). Brasilien verfügt über Gesetze, die solche Beschäftigungen verbieten. Es gibt auch Verurteilungen von Unternehmen und schwarze Listen.

Harnoncourt beschreibt ua ausführlich die Reise in das Zielgebiet. Durchgängiges Kennzeichen ist, dass sich bei den Arbeitern schnell hohe Schulden anhäufen. Es beginnt dann ein Teufelskreis. Körperliche Gewalt und Manipulation sind an der Tagesordnung.

Die Autorin untersucht auch die Hierarchie dieser Ausbeutungsverhältnisse: Ganz oben steht der Unternehmer („fazendeiro“), oft aus einflussreichen Familien stammend, darunter stehen die Manager, die stark unter Druck gesetzt werden, eine Stufe tiefer agieren die „gatos“ (die vor allem an der Rekrutierung beteiligt sind) und die „pistoleiros“, die die Produktion überwachen und die Arbeiter daran hindern, den Ort zu verlassen. In den „Unternehmen“ arbeiten aber auch „freie“ AN (ArbeiterInnen, aber auch TierärztInnen, LehrerInnen für die Kinder der Angestellten usw).

Ein Kapitel widmet die Autorin den geschichtlichen Wurzeln der unfreien Arbeit. Beschrieben wird ua die Phase der SklavInnenarbeit (in Brasilien wurde sie erst 1888 verboten), die Zeit des Kautschukbooms und der wirtschaftliche Aufschwung der Produktion von Paránüssen. Aus Aktualitätsgründen ist der Abschnitt über die Rolle der Militärdiktatur (1964 bis 1985) besonders lesenswert, ist doch diese Zeit erklärtes „Vorbild“ für den soeben neu gewählten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Ziel war die Kolonialisierung des Amazonasgebiets durch Staat und Kapital (vorher zu großen Teilen in den Händen indigener Bevölkerungsteile). Mächtige Familien und große Unternehmen besetzten große Teile des Regenwaldes. Dafür gab es von der Diktatur billige Kredite und Steuernachlässe. Einige AnlegerInnen kamen aus dem Ausland, zB VW mit einem Betrieb in der Größe von 140.000 ha Land und 33.000 Kühen (Anfangsbestand). Zu dieser Erschließung gehört auch die berüchtigte Transamazônica, eine Autobahn vom Atlantik bis Peru. Harnoncourt berichtet über Vertreibungen der indigenen Bevölkerung, aber auch über Widerstand. Die Vertreibungen der Kleinbauern/-bäuerinnen und indigenen Gruppen hält bis heute an. Die Landkonflikte werden regelmäßig blutig ausgefochten. Es gibt in Pará einen permanenten Gewaltzustand. Legitimiert werden die Landnahmen damit, dass man möglichst produktiv für den Weltmarkt produzieren will.

Harnoncourt erwähnt aber auch Bemühungen des Staates in der Zeit nach der Militärdiktatur, die unfreie Arbeit zu bekämpfen. Es kam dabei auch zu einer Erweiterung der Definition dieser Arbeitsform: Nicht nur das Festhalten am Arbeitsplatz, sondern auch Faktoren wie „überanstrengender Arbeitstag“, „demütigende Umstände“ und „Gefährdung des Überlebens“ wurden Teil der Definition und Ziel von Maßnahmen. 2003 wurde eine nationale Kommission zur Beseitigung von trabalho escravo gebildet. Es mangelt aber, gerade in Pará, an der Umsetzung. Harnoncourt beschreibt die Ambivalenzen im staatlichen Gefüge und konstatiert pessimistisch, dass die unfreie Arbeit eben Teil der „Tiefenstruktur des brasilianischen Kapitalismus“ ist. Zwei weitere Abschnitte beschäftigen sich mit den Zusammenhängen der unfreien Arbeit mit dem Rassismus sowie Gender-Perspektiven des Problems.

Besonders erschütternd war für den Rezensenten der letzte Teil des Buches, der die unfreie Arbeit in brasilianischen Exportprodukten thematisiert. Hier nimmt die Autorin dem Problem eindrucksvoll den Hauch des fernen Exotischen und konfrontiert uns direkt mit unserer Beteiligung an diesen Missständen. In Pará werden vor allem Rindfleisch, Lebendrinder, Ethanol, Roheisen, Palmöl, Bauholz und Soja für den Export produziert. In der Rinderzucht ist der Anteil an trabalho escravo besonders hoch. Brasilien ist derzeit der größte Exporteur weltweit. Führend ist dabei die Unternehmensgruppe JBS, die Fleisch in 150 Länder exportiert und über 2.000 Produktionsstätten (mit zB 22,8 Mio geschlachteten Schweinen) und über 200.000 Beschäftigte verfügt. Das Unternehmen hat über zehn Jahre lang 1.829 PolitikerInnen und BeamtInnen mit umgerechnet etwa 200 Mio $ geschmiert. Dieses weltweit größte fleischproduzierende Unternehmen kauft Fleisch auch von Betrieben, die unfreie Arbeit einsetzen, hat aber kein Interesse daran, gegen diese Ausbeutungsform vorzugehen; ähnlich auch der Volkswagen-Betrieb, in dem ebenfalls Rindfleisch produziert wird. Weitere Exportartikel sind Holzkohle, Zuckerrohr und Agrosprit (Ethanol). Auch in diesen Bereichen nutzen große Konzerne die Kostenvorteile der unfreien Arbeit auf der untersten Stufe der Produktionskette. Auf diese Weise profitieren Kapital und letztlich auch die KonsumentInnen in den reichen Staaten von dieser extremen Ausbeutungsform.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Buch in verdienstvoller Weise auf der Basis entwickelter theoretischer Reflexionen und in methodisch höchst solider Qualität die Augen über eine Art von Halb-Sklaverei öffnet und vor allem auch eindrucksvoll nachweist, neben der präzisen und anschaulichen Darstellung dieser krassen Ausbeutungsverhältnisse, wer davon profitiert und welche Netzwerke den Kampf dagegen behindern.