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Auslegung des Ablöseverbots nach Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

VERENAZWINGER (WIEN)
Art 12 Abs 1 VO 883/2004; Art 5 Abs 1, 19 Abs 2 VO 987/2009
  1. Art 5 Abs 1 der VO (EG) 987/2009 des Europäischen Parlament und des Rates [...] ist iVm Art 19 Abs 2 der VO 987/2009 [...] dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO (EG) 883/2004 [...] ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

  2. Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 [...] ist iVm Art 19 Abs 2 der VO 987/2009 [...] dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 [...] ausgestellte A1-Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.

    Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 [...] ist iVm Art 19 Abs 2 der VO 987/2009 [...] dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 [...] ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende AN nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.

  3. Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 [...] ist dahin auszulegen, dass ein von einem AG zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter AN, der dort einen anderen, von einem anderen AG entsandten AN ablöst, iS dieser Bestimmung „eine andere Person ablöst“, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein AG gewöhnlich tätig ist.

    Dabei spielt es keine Rolle, ob die AG der beiden betreffenden AN ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.

[...]

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19 Alpenrind ist im Geschäftszweig der Vieh- und Fleischvermarktung tätig. [...]

20 Im Lauf des Jahres 2007 schloss Alpenrind [...] einen Vertrag mit der in Ungarn ansässigen Martin-Meat [...]. Die Arbeiten führten nach Österreich entsandte Mitarbeiter in den Räumlichkeiten von Alpenrind aus. Zum 31.1.2012 gab Martin-Meat den Bereich der Fleischzerlegung auf [...].

21 Am 24.1.2012 schloss Alpenrind mit der ebenfalls in Ungarn ansässigen Martimpex einen Vertrag [...] im Zeitraum vom 1.2.2012 bis 31.1.2014 [...]. Die Arbeiten führten nach Österreich entsandte Mitarbeiter in den Räumlichkeiten von Alpenrind aus.

22 Ab dem 1.2.2014 beauftragte Alpenrind wiederum Martin-Meat, [...] [A]rbeiten [...] durchzuführen. [...]

23 Für die im streitgegenständlichen Zeitraum von Martimpex beschäftigten mehr als 250 Mitarbeiter stellte der zuständige ungarische Sozialversicherungsträger – teilweise rückwirkend und teilweise in Fällen, in denen der österreichische Sozialversicherungsträger bereits festgestellt hatte, dass der betreffende AN nach den österreichischen Rechtsvorschriften pflichtversichert sei – Bescheinigungen über die Anwendung der ungarischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit [...] aus. In all diesen Bescheinigungen ist Alpenrind als AG an dem Ort, an dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, genannt.

24 Die Salzburger Gebietskrankenkasse stellte fest, dass die genannten AN während des streitgegenständlichen Zeitraums nach § 4 Abs 1 und 2 des ASVG und § 1 Abs 1 lit a des AlVG aufgrund ihrer abhängigen entgeltlichen Tätigkeit [...] pflichtversichert gewesen seien. [...]

34 Der VwGH [hat ...] beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Gilt die in Art 5 der VO 987/2009 normierte Bindungswirkung von Dokumenten iSd Art 19 Abs 2 der VO 987/2009 auch in einem Verfahren vor einem Gericht iSd Art 267 AEUV?

2. Für den Fall, dass nicht schon die Frage 1. verneint wird:

  1. Gilt die genannte Bindungswirkung auch dann, wenn zuvor ein Verfahren vor der Verwaltungskommission stattgefunden hat, das weder zu einer Einigung noch zu einer Zurückziehung der strittigen Dokumente geführt hat?

  2. Gilt die genannte Bindungswirkung auch dann, wenn eine A1-Bescheinigung erst ausgestellt wird, nachdem der Aufnahmemitgliedstaat formell die Pflichtversicherung nach seinen Rechtsvorschriften festgestellt hat? Gilt die Bindungswirkung in diesen Fällen auch rückwirkend?

3. Für den Fall, dass sich unter bestimmten Voraussetzungen eine beschränkte Bindungswirkung von Dokumenten iSd Art 19 Abs 2 der VO 987/2009 ergibt:220

Widerspricht es dem in Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 enthaltenen Ablöseverbot, wenn die Ablöse nicht in Form einer Entsendung durch denselben DG erfolgt, sondern durch einen weiteren DG? Spielt es dabei eine Rolle,

  1. ob dieser DG im selben Mitgliedstaat wie der erste DG seinen Sitz hat oder

  2. ob zwischen dem ersten und dem zweiten entsendenden DG personelle und/oder organisatorische Verflechtungen bestehen?

Zu den Vorlagefragen

[...]

37 Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 sieht vor, dass vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der VO 883/2004 und der VO 987/2009 bescheinigt wird, sowie [...] für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden. [...]

39 Die genannte Bestimmung sieht aber [...] vor, dass solche Dokumente „so lange verbindlich [sind], wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden“, was darauf hindeutet, dass grundsätzlich nur die Behörden und Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats die A1-Bescheinigungen gegebenenfalls widerrufen oder für ungültig erklären können.

40 Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte und den Kontext von Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 gestützt. [...]

44 Folglich hätte der Unionsgesetzgeber, wenn er beim Erlass der VO 987/2009 von der früheren insoweit ergangenen Rsp hätte abweichen wollen, ausdrücklich vorsehen können, dass für die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten A1-Bescheinigungen nicht verbindlich sein sollen.

45 Im Übrigen behalten, wie der Generalanwalt in Nr 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die der Rsp zur Bindungswirkung der Bescheinigungen E 101 zugrunde liegenden Erwägungen im Rahmen der Verordnungen 883/2004 und 987/2009 ihre volle Gültigkeit. [...]

47 Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 iVm deren Art 19 Abs 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats [...] A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

48 Mit dem ersten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 iVm deren Art 19 Abs 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte. [...]

60 Speziell für einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens [...] sehen die Abs 2 bis 4 dieses Artikels ein Verfahren zur Lösung dieser Meinungsverschiedenheit vor. Insb ist in Art 5 Abs 2 und 3 geregelt, welche Schritte die betreffenden Träger bei Zweifeln an der Gültigkeit solcher Dokumente [...] oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, zu unternehmen haben. Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden nach Art 5 Abs 4 die Verwaltungskommission anrufen, die sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung „um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte“ bemüht. [...]

62 Somit beschränkt sich die Rolle der Verwaltungskommission im Rahmen des in Art 5 Abs 2 bis 4 der VO 987/2009 vorgesehenen Verfahrens auf eine Annäherung der Standpunkte der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die sie angerufen haben. [...]

64 Folglich ist auf den ersten Teil der zweiten Vorlagefrage zu antworten, dass Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 iVm deren Art 19 Abs 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.

65 Mit dem zweiten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 iVm deren Art 19 Abs 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende AN nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist. [...]

70 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die im Einklang mit Art 11a der VO 574/72 ausgestellte Bescheinigung E 101 Rückwirkung haben kann. Insb kann eine solche Bescheinigung, auch wenn ihre Ausstellung besser vor Beginn des betreffenden Zeitraums erfolgt, auch während dieses Zeit-221raums und sogar nach dessen Ablauf ausgestellt werden (vgl in diesem Sinne Urteil vom 30.3.2000, Banks ua, C-178/97, EU:C:2000:169, Rn 52 bis 57).

71 Der aus den Verordnungen 883/2004 und 987/2009 bestehenden Unionsregelung lässt sich kein Hinderungsgrund für eine entsprechende Handhabung auch bei den A1-Bescheinigungen entnehmen. [...]

77 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf den zweiten Teil der zweiten Frage zu antworten, dass Art 5 Abs 1 der VO 987/2009 iVm deren Art 19 Abs 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende AN nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.

78 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 dahin auszulegen ist, dass ein von einem AG zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter AN, der dort einen anderen, von einem anderen AG entsandten AN ablöst, iS dieser Bestimmung „eine andere Person ablöst“, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein AG gewöhnlich tätig ist. Ferner möchte es wissen, ob dabei eine Rolle spielt, dass die AG der beiden AN ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder dass zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen. [...]

87 Somit ist zu prüfen, ob das Ablöseverbot in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens während des streitgegenständlichen Zeitraums eingehalten wird sowie ob und inwieweit es dabei eine Rolle spielt, wo sich der Sitz der betreffenden AG befindet und ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.

88 Nach stRsp des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21.9.2017, Kommission/Deutschland, C-616/15, EU:C:2017:721, Rn 43 und die dort angeführte Rsp). [...]

90 Aus dem Wortlaut von Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 und insb aus dem Wort „sofern“ geht dabei hervor, dass ein entsandter AN schon deshalb, weil er eine andere Person ablöst, nicht weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sein AG gewöhnlich tätig ist, unterliegen kann und dass das Ablöseverbot kumulativ neben der ebenfalls in dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzung in Bezug auf die Höchstdauer der betreffenden Arbeit anwendbar ist.

91 Darüber hinaus deutet das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf den Sitz der jeweiligen AG oder auf etwaige personelle oder organisatorische Verflechtungen zwischen ihnen im Wortlaut dieser Bestimmung darauf hin, dass solche Umstände für ihre Auslegung nicht relevant sind.

92 Sodann ist zum Kontext von Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 festzustellen, dass schon nach der Überschrift dieses Artikels die dort vorgesehenen Regeln [...] eine „Sonderregelung“ für die Bestimmung der Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit darstellen [...].

95 Daraus folgt, dass Art 12 Abs 1 der VO 883/2004, da er eine Ausnahme von der allgemeinen Regel für die Bestimmung der Rechtsvorschriften darstellt, [...] eng auszulegen ist.

96 Schließlich ist hinsichtlich der mit Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 sowie, allgemeiner [...] Ziele festzustellen, dass [...] gleichwohl [...] der Unionsgesetzgeber auch vermeiden [wollte], dass von dieser Sonderregel AN profitieren können, die nacheinander zur Ausführung derselben Arbeiten entsandt werden.

97 Zudem könnte eine je nach dem jeweiligen Sitz der betreffenden AG oder dem Vorliegen personeller oder organisatorischer Verflechtungen zwischen ihnen differierende Auslegung [...] das vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziel gefährden, dass ein AN grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegen soll, in dem er seine Tätigkeit ausübt.

98 Insb wurde, wie aus dem 17. ErwGr der VO 883/2004 hervorgeht, die Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die betreffende Person eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, als allgemeine Regel deshalb als zweckmäßig erachtet, um die Gleichbehandlung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Personen am besten zu gewährleisten. Überdies ist nach den ErwGr 5 und 8 [...] die Gleichbehandlung der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats beschäftigten Personen in bestmöglicher Weise sicherzustellen. [...]

100 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 dahin auszulegen ist, dass ein von einem AG zur Ausführung einer Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat entsandter AN, der dort einen anderen, von einem anderen AG entsandten AN ablöst, iS dieser Bestimmung „eine andere Person ablöst“, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein AG gewöhnlich tätig ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die AG der beiden betreffenden AN ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen. [...]

ANMERKUNG

Die vorliegende E betrifft im Wesentlichen drei Fragen, die der österreichische VwGH dem EuGH vorgelegt hat (Vorabentscheidungsersuchen des VwGH [Österreich], eingereicht am 14.10.2016, ABl C 2017/14, 22).222

1.
Bindung der Gerichte des Aufnahmestaats an Entsendebescheinigung des Herkunftsstaats

Auf die erste Vorlagefrage nach der Bindung der Gerichte an A1-Bescheinigungen stellte der EuGH wenig überraschend klar, dass auch im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 (Grundverordnung [GVO], VO [EG] 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2004/166, 1) und VO (EG) 987/2009 (Durchführungsverordnung [DVO], VO [EG] 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO [EG] 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 2009/284, 1) nicht nur die Träger, sondern auch die Gerichte des jeweiligen Aufnahmemitgliedstaats grundsätzlich an Bescheinigungen des Entsendemitgliedstaats gebunden sind. Der Wortlaut von Art 5 Abs 1 DVO sieht zwar vor, dass Dokumente wie die A1-Bescheinigung (nur) für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden. Der EuGH schlussfolgert aus dem letzten Halbsatz des vorhergehenden Satzes, dass grundsätzlich nur die Behörden und Gerichte des Ausstellungsmitgliedsstaats die A1-Bescheinigungen gegebenenfalls widerrufen oder für ungültig erklären können (EuGH 6.9.2018, C-527/16, Alpenrind, EU:C:2018:669, Rz 38 f). Schon im Geltungsbereich der VO 1408/71 und VO 574/72 aus dem Kontext und der Entstehungsgeschichte der Bestimmungen hat der EuGH daher umgekehrt abgeleitet, dass sowohl die Träger als auch die Gerichte des Mitgliedstaates, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, von der Bindungswirkung erfasst sind (vgl EuGH26.1.2006, C-2/05, Herbosch Kiere , EU:C:2006:69, Rz 30 ff; EuGH 27.4.2017, C-620/15, A-Rosa Flussschiff, EU:C:2017:309, Rz 51). Schließlich wird als finales Argument darauf verwiesen, dass die geltende Rechtslage als eine Kodifizierung der Rsp, der Beschlüsse der Verwaltungskommission und 30-jähriger Praxis in der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu sehen sei. Insofern hätte bei anderer Auffassung in den nunmehr geltenden Verordnungen ausdrücklich anderes geregelt werden können (EuGH Rs Alpenrind, Rz 44; so auch die Schlussanträge des GA Saugmandsgaard Øe, 31.1.2018, EU:C:2018:52, Rz 35).

2.
Bindung auch nach Verfahren vor der Verwaltungskommission und Feststellung der Pflichtversicherung in Österreich durch Bescheid

Zur zweiten Vorlagefrage äußerte sich der EuGH dahingehend, dass die Bindungswirkung der Bescheinigungen selbst dann gilt, wenn die zuständigen Behörden der beiden Mitgliedstaaten – wie im Anlassfall – die Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit bemüht haben und diese im Vermittlungsverfahren zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte. Entsprechendes gilt selbst bei rückwirkend ausgestellten A1-Bescheinigungen (vgl EuGH Rs Alpenrind, Rz 77; idS schon EuGH Rs A-Rosa Flussschiff, Rz 41 und die dort angeführte Rsp), die erst nach der förmlichen Eingliederung (in Österreich mittels Bescheid) in das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmestaats ausgestellt wurden (vgl Marhold/Zwinger, Die Europäische Sozialverwaltung und der Europäische Sozialbürger, in Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft [Hrsg], Verwaltung im Sozialstaat des 21. Jahrhunderts [2018] 127). Insofern führt der EuGH seine Rsp zur nahezu umfassenden Bindungswirkung von ausgestellten Entsendebescheinigungen fort (krit Hlava, Anwendbares Sozialversicherungssystem bei Arbeitnehmerentsendung, AuR 2019, 84 [86]; krit auch Höllbacher/Kneihs, Zu den sozialrechtlichen Verordnungsbestimmungen über die Entsendung von Arbeitnehmern und Selbständigen [Teil II], DRdA 2012, 171 [172 f]). Eine Befassung der Verwaltungskommission ist allerdings nicht zwingend notwendig, sondern optional: In Rs Altun führt der EuGH aus, dass unter gewissen Umständen und bei Vorliegen ausreichender Anhaltspunkte eine rechtsmissbräuchlich erworbene A1-Bescheinigung ausnahmsweise vom Aufnahmestaat außer Acht gelassen werden kann. Dafür ist vorab die Einleitung des Dialogverfahrens gem Art 5 Abs 2 DVO notwendig, wonach der ausstellende Träger zur Überprüfung des Sachverhalts zu ersuchen ist (EuGH 11.7.2018, Kommission/Belgien, EU:C:2018:555; vgl Hennecke/Andorfer, Souveränität und Dienstleistungsfreiheit, ZESAR 3/19, 114 ff). Wird dadurch keine Einigung zwischen den Mitgliedstaaten erzielt, ist es möglich, die Verwaltungskommission anzurufen, die sich um eine Annäherung der Standpunkte bemüht (Art 5 Abs 4 DVO). Sollte der ausstellende Träger der Aufforderung zur Überprüfung des Sachverhalts nicht nachkommen, verletzt er den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (siehe 3.4.).

3.
Ablöseverbot nach Art 12 Abs 1 VO 883/2004
3.1.
Weite Auslegung – Arbeitsplatzbezug

Die wichtigsten Erkenntnisse liefert die E Alpenrind zur dritten Vorlagefrage. Der VwGH ersuchte um Klärung der Tragweite des Ablöseverbots im Rahmen der Koordinierungsverordnungen. Nach dem Ablöseverbot iSd Art 12 Abs 1 letzter HS GVO ist der Verbleib im System der sozialen Sicherheit des Entsendestaates verwehrt, wenn die entsandte Person eine andere (endsandte) Person (während des streitgegenständlichen Zeitraums wurde Art 12 Abs 1 der GVO durch die VO 465/2012 [ABl L 2012/149, 4] geändert; EuGH Rs Alpenrind, Rz 6), bei Ausführung derselben Arbeiten auf Rechnung ihres AG in einem anderen Mitgliedstaat ablöst. Im223 Anlassfall wurde die genaue Anwendung dieser Bestimmung in Frage gestellt, da die AN im streitgegenständlichen Zeitraum zur Ausführung derselben Arbeiten zunächst von Martin-Meat nach Österreich zu Alpenrind entsandt wurden, danach von Martimpex und zuletzt erneut von Martin-Meat (vgl EuGH Rs Alpenrind, Rz 86), wobei idF beide entsendenden Unternehmungen im Mitgliedstaat Ungarn ansässig waren. Mit der vorliegenden E wird vom EuGH klargestellt, dass es für die Frage des Ablöseverbots nicht darauf ankommt, ob die betroffenen AN für den gleichen AG tätig sind. Es kommt auch nicht darauf an, ob die jeweiligen AG ihren Sitz in demselben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen eine personelle oder organisatorische Verflechtung besteht.

3.2.
Sonderregelung Entsendung

Begründet wird dies damit, dass der Verbleib im System der sozialen Sicherheit des Entsendestaats eine Ausnahme von der Regel des Beschäftigungslandprinzips gem Art 11 Abs 3 lit a der GVO darstellt und sohin eng auszulegen ist (vgl EuGH Rs Alpenrind, Rz 94 unter Verweis auf ErwGr 17 und 18 zur VO 883/2004; damit soll auch die Gleichbehandlung der in einem Mitgliedstaat tätigen AN gewährleistet werden). Durch die besondere Situation einer Entsendung soll vor allem bürokratischer Aufwand und ein häufiger Wechsel zwischen den verschiedenen Systemen der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten vermieden werden, um den betroffenen AN eine möglichst lückenlose Versicherungskarriere zu gewährleisten. Es wäre aber nicht die Absicht des Unionsgesetzgebers gewesen, dass von dieser Sonderregel AN profitieren können, die nacheinander zur Ausführung derselben Arbeiten entsandt werden. Der wiederholte Rückgriff auf entsandte AN zur Besetzung desselben Arbeitsplatzes sei daher weder mit dem Wortlaut noch mit den Zielen und dem Kontext von Art 12 Abs 1 GVO vereinbar (EuGH Rs Alpenrind, Rz 99).

3.3.
Auswirkungen und Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit

Die Ausführungen des EuGH zum Ablöseverbot haben daher unmittelbare Auswirkungen auf die Praxis: Entscheidend ist nur, ob der entsandte AN einen anderen entsandten AN ablöst oder nicht – unabhängig davon, für welchen AG er arbeitet sowie davon, in welchem Mitgliedstaat sein AG gewöhnlich Geschäftstätigkeiten verrichtet (Arbeitsplatzbezogenheit). Der GA sieht diese weite Auslegung des Ablöseverbots als problematisch und ohne Grundlage (Schlussanträge des GA Saugmandsgaard Øe, Rz 80, 100; vgl auch Windisch-Graetz, Arbeitsrechtliche Gestaltungsgrenzen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, in Brodil [Hrsg], Gestaltungsräume und neue Grenzen im Arbeitsrecht [2017] 26, zum praktischen Leitfaden der Verwaltungskommission, die eine an den Interessen des Aufnahmestaats orientierte Auslegung für nicht dem Geist der Koordinierungsverordnungen entsprechend hält). GA Saugmandsgaard Øe legte Art 12 Abs 1 der VO 883/2004 vielmehr so aus, dass dieser insb den freien Dienstleistungsverkehr (Art 56 AEUV) zugunsten von Unternehmen fördern soll, wovon diese Gebrauch machen, indem sie AN in andere Mitgliedstaaten entsenden (Schluss anträge des GA Saugmandsgaard Øe, Rz 84). In der Praxis wird es wahrscheinlich in der Tat primär der nachfolgende AG sein, der in Erfüllung eines abgeschlossenen Vertrags AN in einen anderen Mitgliedstaat entsenden will und nunmehr vorab überprüfen muss, ob ein Arbeitsplatz bereits zuvor von einem anderen entsendeten AN ausgeführt wurde (vgl Zieglmeier, Schutz vor Beitragsnachforderungen bei internationalen Mitarbeitereinsätzen, NZS 2018, 871). Insofern ist jedenfalls auch die Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit zu bedenken.

Als Parallelbeispiel lässt sich jedoch die Handhabe bei einem Betriebsübergang heranziehen. Die Betriebsübergangs-RL (RL 2001/23/EG des Rates vom 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der AN beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl L 82/16) verpflichtet den Erwerber, die AN über die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs zu informieren (Art 7 Z 1 BetriebsübergangsRL). Wenn somit sogar bei Vertragsnachfolge im Betriebsübergang vom neuen Vertragspartner verlangt werden kann, sich direkt an den vorherigen Vertragspartner zu wenden und die notwendigen Informationen einzuholen (vgl nur iZm Subventionsvergaben durch die öffentliche Hand, EuGH 19.5.1992, C-29/91, Redmond Stichting, EU:C:1992:220, wobei auch dem Subventionsempfänger die Pflicht auferlegt wurde, sich mit seinem Vorgänger in Verbindung zu setzen; dazu ausführlich Binder/Mair in Binder/Burger/Mair [Hrsg], AVRAG3 § 6 Rz 47 ff; Schima, Betriebsübergang durch „Vertragsnachfolge“, RdW 1996, 319), kann dies wohl auch von einem Dienstleistungserbringer verlangt werden, der zur Vertragserfüllung beabsichtigt, AN zu entsenden. Sofern nicht Teile der Belegschaft übernommen werden bzw die wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität übergeht und es sich daher nicht um einen Betriebsübergang handelt, werden sich bestimmte Haftungsfragen wie zwischen Erwerber und Veräußerer nicht stellen. In vielen Fällen wird in unserer Fallkonstellation jedoch Auftragsnachfolge vorliegen. Aus praktischen Gründen ist es naheliegender, dass sich in Entsendefällen der künftige Dienstleistungserbringer beim Dienstleistungsempfänger (und nicht beim vorherigen Entsendeunternehmen) erkundigt, ob bereits zuvor AN auf dieselben Arbeitsplätze entsendet wurden (vgl Zieglmeier, Schutz vor Beitragsnachforderungen bei internationalen Mitarbeitereinsätzen, NZS 2018, 871). Fraglich ist, was in Fällen gilt, in denen der Dienstleistungsempfänger bereits stattgefundene Entsendungen verschweigt bzw sogar auf Nachfrage des zweiten Auftragnehmers vorherige Entsendungen schuldhaft verneint. Denkbar wäre ein Entschädigungsanspruch des Dienstleistungs-224erbringers gegen den Dienstleistungsempfänger in Höhe der gegebenenfalls nachträglich zu entrichtenden Beiträge oder Verwaltungsstrafen, sofern dies vertraglich vereinbart wurde. Eine ungebührliche Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit kann durch eine Informationspflicht der Vertragspartner aber nicht gesehen werden. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass der EuGH in seiner Rsp zu Alpenrind auf die Dienstleistungsfreiheit überhaupt nicht eingeht. Hingewiesen wird hingegen ausschließlich auf die Entsenderegelung als Privileg für AN (vgl EuGH Rs Alpenrind, Rz 96). Dies ist sicher dem Umstand geschuldet, dass die Koordinierungsverordnungen auf Art 48 AEUV gestützt werden und daher primär an der Freizügigkeit zu messen sind, die sie gewährleisten sollen. Wenngleich dem EuGH zuzustimmen ist, wenn er die Entsendung gem Art 12 Abs 1 der GVO als eine Ausnahme von der Regel (uzw des Beschäftigungslandprinzips) begreift und daher eine enge Auslegung geboten ist, wären in Anbetracht der detaillierten Ausführungen des GA in die gegenteilige Richtung (Schlussanträge des GA Saugmandsgaard Øe, Rz 80; 100), und der unterschiedlichen Auffassungen in der Literatur (Steinmeyer in Fuchs [Hrsg], Teil 2 VO [EG] 883/2004, Art 12 Rz 14; Schreiber in Schreiber/Wunder/Dern [Hrsg], VO (EG) 883/2004, Art 12 Rz 18; Pöltl in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, VO 883/2004, Art 12 Rz 5 ff) weitere klarstellende Ausführungen wünschenswert gewesen. Die E gibt allerdings nahezu ident den praktischen Leitfaden der Verwaltungskommission (Praktischer Leitfaden zum anwendbaren Recht [Dezember 2013], https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=2ahUKEwilvZbgpNfgAhVBQhUIHXn6CuAQFjAAegQIARAC&url=https%3A%2F%2Fec.europa.eu%2Fsocial%2FBlobServlet%3FdocId%3D11366%26langId%3Dde&usg=AOvVaw1kbuK484Eo_nEwBmTT7BO0 [abgefragt am 25.1.2019]) wieder, der immerhin die Rechtsansicht der Mehrheit der Mitgliedstaaten zusammenfasst. In diesem Aspekt konnte sich der EuGH also auf relativ gesichertem Terrain bewegen. Auf das Merkmal der Unmittelbarkeit der Ablöse (EuGH Rs Alpenrind, Rz 33) ist der EuGH ebenfalls nicht weiter eingegangen (da sich im gegenständlichen Fall die vermeintlichen Entsendungen nahtlos aneinander reihten, wurde danach im Vorlageantrag verständlicherweise nicht gefragt). Im praktischen Leitfaden und dem Beschluss A2 der Verwaltungskommission (Beschluss Nr A2 vom 12.6.2009 zur Auslegung des Art 12 der VO [EG] 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der auf entsandte AN sowie auf Selbständige, die vorübergehend eine Tätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat ausüben, anzuwendenden Rechtsvorschriften, ABl C 2009/106, 7) wird vertreten, dass keine verbotene Ablöse vorliegt, wenn zwischen zwei Entsendungen zwei Monate verstreichen (aA VwGH 12.9.2017, Ra 2017/09/0023). Insoweit der EuGH auch in diesem Zusammenhang die Auffassung der Verwaltungskommission teilte, würde die E ihre Brisanz zT verlieren. Die Folgen einer solchen Wartezeitregelung sowohl für den AN als auch für den AG wären dann allerdings wiederum an den Grundfreiheiten zu messen. Dabei ist fraglich, ob eine zweimonatige Wartezeit iSd Art 48 AEUV ausgelegt werden könnte.

3.4.
Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit

Parallel dazu ist anzumerken, dass die E zugleich aus einem zweiten Blickwinkel zu betrachten ist: Der EuGH hat in den Fällen rund um die Entsendung stets auch die Pflicht zur Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (insb Art 76 Abs 4, 5 und 6 GVO, Art 4 Abs 3 EUV) betont. Deswegen liegt die Vermutung nahe, dass der EuGH mit der Rsp in Alpenrind nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Mitgliedstaaten und deren Träger verstärkt in die Pflicht nehmen will (vgl Steinmeyer in Fuchs, Art 12 Rz 18). Auch wenn vorab keinerlei Informationen eingeholt würden und wie der GA befürchtet, die weite Auslegung des Ablöseverbots faktisch den AG zum Entsendezeitpunkt potenziell darüber im Unklaren lässt, ob der entsandte AN unter Art 12 Abs 1 der GVO fällt (Schlussanträge des GA Saugmandsgaard Øe, Rz 101), haben die Träger gem Art 3 Abs 3 und 4 sowie Art 15 der DVO unverzüglich die für die Anwendung der GVO und DVO notwendigen Informationen zu übermitteln bzw zugänglich zu machen. Beabsichtigt also ein AG B in Unkenntnis (ausgenommen sind somit Fälle, in denen der Träger bspw in betrügerischer Absicht über das Vorliegen eines Entsendetatbestands getäuscht wird, vgl EuGH Rs Altun ua) der bereits stattgefundenen Entsendung durch einen anderen AG A, AN zu entsenden und meldet dies beim (sE) zuständigen Träger (Art 15 DVO) bzw beantragt die Ausstellung einer A1-Bescheinigung, muss grundsätzlich auch der Träger im Rahmen der loyalen Zusammenarbeit (diese wird aus Art 4 Abs 3 EUV iVm Art 76 VO 883/2004 abgeleitet; dazu ausführlich Spiegel in Fuchs [Hrsg], Europäisches Sozialrecht7 [2018] Teil 2 VO [EG] 883/2004 Art 76 Rz 3 ff) diese Information unverzüglich prüfen (vgl EuGH 3.3.2016, C-12/14, Kommission/Malta, EU:C:2016:135, Rz 37) und gegebenenfalls seine Unzuständigkeit deklarieren (EuGH Rs A-Rosa Flussschiff, Rz 44 mwN). Die Bürde wird daher nicht nur den AG, sondern auch den Trägern der Mitgliedstaaten aufgetragen.

Unter Anwendung des Electronic Exchange of Social Security Information-Systems (EESSI – in Österreich beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger, der als Zugangsstelle die Vertretung Österreichs gegenüber der Union wahrnimmt [§ 5 SV-EG], durch das eigene Projekt EGDA, bzw der Datenbank Entsendung [DBENTS] verwirklicht; vgl Wieninger, Die Bekämpfung von sozialversicherungsrelevantem Betrug und Irrtum im internationalen Bereich, SozSi 2017, 388 [389]), dessen Einführung in Art 4 Abs 2 DVO verpflichtend vorgesehen ist und wodurch alle sogenannten Structured Electronic Documents (SEDs, Art 1 Abs 2 lit d DVO) in Zukunft ausschließlich auf elektronischem Wege zwischen den Trägern zu übertragen sind (vgl Spiegel in Fuchs [Hrsg], Teil 2 VO [EG]225 883/2004 Art 78 Rz 17), sollte eine Überprüfung auch tatsächlich sehr rasch möglich sein (Anm: Die Übertragung einer A1-Bescheinigung als SED dauerte im Testbetrieb etwa 20 Minuten [Gespräch vom 29.1.2019 mit Dr. Bernhard Spiegel, Leiter der Abteilung Internationale Angelegenheiten der Sozialversicherung im BM für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz sowie österreichischer Vertreter in der Verwaltungskommission]). Als Zeitpunkt der rechtlichen Zustellung wird der Tag der Meldung, die am Endpunkt des Datenübermittlungsprotokolls generiert wird und die Zustellung der Nachricht bestätigt, festgelegt. Die Mitgliedstaaten haben darüber hinaus dafür zu sorgen, dass die übermittelten Daten mindestens einmal alle 24 Stunden abgerufen werden (Beschluss Nr E6 vom 19.10.2017 zur Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem eine Nachricht im System für den elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten [EESSI] als rechtlich zugestellt gilt, ABl C 2018/355, 6). Da sich die lückenlose Einführung des EESSI-Systems aus verschiedenen Gründen immer wieder verzögert hat, ist man allerdings nunmehr dazu übergegangen, die Mitgliedstaaten einzeln entscheiden zu lassen, wann sie zur Nutzung des Systems in der Lage sind (vgl Spiegel in Fuchs [Hrsg], Teil 2 VO [EG] 883/2004 Art 78 Rz 24, Beschluss Nr E5 vom 16.3.2017 über die praktischen Modalitäten für die Übergangszeit zum elektronischen Datenaustausch nach Art 4 der VO (EG) 987/2009, ABl C 2017/233, 4). Unabhängig davon muss der ausstellende Träger den maßgebenden Sachverhalt genau prüfen, bevor eine Bescheinigung ausgestellt wird (allerdings ist in Art 76 Abs 4 bspw bloß von einer angemessenen Frist die Rede, in der die Träger den betroffenen Personen die erforderlichen Angaben für die Ausübung der in den Verordnungen eingeräumten Rechte übermitteln müssen). Sollte der Herkunftsstaat also dennoch (fälschlicherweise) eine A1-Bescheinigung ausstellen, kann der Aufnahmestaat bei Zweifeln an der Gültigkeit dieser Bescheinigung das Dialogverfahren nach Art 5 Abs 2 DVO einleiten. Eine vergleichbare Regelung wie in Art 6 der DVO, die nach Klärung der Angelegenheit den als zuständig ermittelten Träger ab dem Tag der vorläufigen Anwendung oder ab der ersten Gewährung von Leistungen rückwirkend zuständig ist (Art 6 Abs 4 DVO), fehlt in Angelegenheiten des Art 5 DVO. Stattdessen wird derzeit auf den Zeitpunkt abgestellt, an dem der ausstellende Träger zur neuerlichen Prüfung des Sachverhalts ersucht wird (Verwaltungskommission, Praktischer Leitfaden zum Anwendbaren Recht 14). Geht man davon aus, dass eine A1-Bescheinung die Vermutung der Anwendung der Normen der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaates aufstellt (vgl nur EuGH 30.3.2000, C-178/97, Banks ua, EU:C:2000:169, Rz 40; EuGH 11.7.2018, Kommission/Belgien, EU:C:2018:555), die wiederum im Verfahren nach Art 5 DVO widerlegt werden kann, so erscheint diese Herangehensweise im Lichte der Missbrauchsvermeidung bedenklich. Derzeit wird im praktischen Leitfaden und zT in der Literatur (vgl Pöltl in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, VO 883/2004, Art 12 Rz 5/5) eine Rückabwicklung bei Betrugsfällen (bspw EuGH Rs Altun) als zulässig erachtet. Ungeklärt bleibt, ob auch ein Träger, die der Pflicht zur Überprüfung des einer Bescheinigung zugrundeliegenden Sachverhalts nicht nachkommt, eine vollständige Rückabwicklung auslösen könnte. Der Wortlaut des Art 5 DVO spricht zwar, anders als Art 6 Abs 4 DVO, nicht von der rückwirkenden Zuständigkeit des Trägers als hätte die Meinungsverschiedenheit zwischen den Mitgliedstaaten nie bestanden. Sobald allerdings in oder nach einem Verfahren nach Art 5 von den Mitgliedstaaten oder dem EuGH festgestellt wird, dass die Voraussetzungen für eine Entsendung gar nie vorlagen, müsste auch in solchen Fällen eine Rückwirkung vorgesehen werden (mit Vorschlag einer an Art 16 Abs 4 DVO orientierten Lösung, Pöltl, Zur Bindungswirkung der Entsendebescheinigung A1, ZAS 2012, 12 [17]).226