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Tatsachen, die im Rechtsmittelverfahren gegen eine Zurückweisung vorgebracht werden, unterliegen dem Neuerungsverbot

PIAANDREAZHANG

Umstände, die das (positive) Vorliegen einer Prozessvoraussetzung – hier die Zulässigkeit des Rechtswegs – begründen und erst im Rechtsmittelverfahren vorgebracht werden, unterliegen dem Neuerungsverbot des § 482 ZPO.

SACHVERHALT

Der vor dem 1.1.1964 geborene Kl beantragte am 24.7.2017 bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension. Die PVA lehnte dies mit Bescheid vom 28.8.2017 ab, weil der Kl die Wartezeit nicht erfüllte. Mit seiner Klage gegen diesen Bescheid begehrte der Kl die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension sowie von Rehabilitationsgeld bzw Übergangsgeld.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, insb auch den Anspruch auf Übergangsgeld, ab. Es begründete dies damit, dass das Übergangsgeld nicht von der Antragsfiktion nach § 361 Abs 1 ASVG umschlossen ist. Da der Kl keinen eigenen Antrag auf Übergangsgeld eingebracht hat und der negative Bescheid der PVA über diesen Anspruch gar nicht abgesprochen hat, sei der Rechtsweg unzulässig.

Das Rekursgericht bestätigte die Ansicht des Erstgerichts, nach welcher der Rechtsweg unzulässig sei, da das Übergangsgeld nicht Gegenstand des negativen Bescheids war. Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit zulässig sei, weil sich aus153 einem vom Kl erstmals vorgelegten Beiblatt zum Antrag im Verfahren vor der PVA ergebe, dass dieser am 24.7.2018 doch auch einen Antrag auf Zuerkennung von Übergangsgeld gestellt habe.

Der Kl macht in seinem Rechtsmittel die vom Rekursgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage geltend, dass er am 24.7.2017 auch einen Antrag auf Übergangsgeld gestellt habe, für dessen Geltendmachung mit der vorliegenden Klage der Rechtsweg zulässig sei. Er legt ein Beiblatt zu seinem Antrag vom 24.7.2017 vor, wonach er einen „Antrag auf Gewährung der Rehabilitation gem §§ 270a, 253e ASVG auf sofortige Krankenversicherung sowie Rehabilitations- und Übergangsgeld im gesetzlichen Ausmaß“ gestellt habe.

Der Revisionsrekurs ist mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1.1 Auf Versicherte, die – wie der Kläger – vor dem 1.1.2014 das 50. Lebensjahr vollendet haben (ältere Versicherte), bleiben die §§ 253e, 306 ASVG idF des BBG 2011, BGBl I 2010/111, gemäß § 669 Abs 5 ASVG weiter anwendbar. Ihnen gebührt nach § 306 Abs 1 Satz 3 ASVG aF Übergangsgeld bei Gewährung beruflicher Rehabilitation nach § 253e oder § 270e ab dem Stichtag für die Leistungsfeststellung (10 ObS 117/17d mwH).

1.2 Zum Übergangsgeld hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 117/17d ausgesprochen, dass es nicht von der Antragsfiktion des § 361 Abs 1 letzter Satz ASVG erfasst ist. Übergangsgeld wird gemäß (dem insofern weder durch das SRÄG 2012 noch durch das SVÄG 2016, BGBl I 2017/29, oder das SVÄG 2017, BGBl I 2017/38veränderten) § 367 Abs 1 ASVG nur über einen darauf gerichteten Antrag gewährt. […]

2.1 Selbst wenn man im vorliegenden Fall zugunsten des Klägers davon ausginge, dass er tatsächlich am 24.7.2017 auch einen Antrag auf Übergangsgeld gestellt hätte, so hat er diesen die Zulässigkeit des Rechtswegs begründenden Umstand erstmals im Rechtsmittelverfahren geltend gemacht. Dem steht jedoch das Neuerungsverbot des § 482 ZPO entgegen, das auch im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen ausnahmslos gilt (RIS-Justiz RS0042049).

2.2 Richtig ist, dass dem Neuerungsverbot nicht Tatsachen und Beweismittel unterliegen, die jederzeit von Amts wegen zu beachtende Umstände betreffen. Dazu gehört auch die Zulässigkeit des Rechtswegs (§ 67 ASGG; 10 ObS 11/09d, SSV-NF 23/33; RIS-Justiz RS0119356; RS0108589). Gemäß § 42 Abs 1 JN (iVm § 2 ASGG) ist jedoch nur auf jene Tatsachen von Amts wegen Bedacht zu nehmen, aus denen das Fehlen der Prozessvoraussetzungen, hier daher die Unzulässigkeit des Rechtswegs, hervorgeht. Für das (positive) Vorliegen dieser Prozessvoraussetzungen fehlt hingegen eine entsprechende Vorschrift, weshalb Tatsachen, die im Rechtsmittelverfahren gegen eine Zurückweisung der Klage vorgebracht werden, dem Neuerungsverbot unterliegen (9 Ob 75/16v mwH; RIS-Justiz RS0053062).

2.3 Der Kläger hat erstmals in seiner Berufung (insofern richtig: Rekurs) gegen die (richtig:) Zurückweisung seiner Klage im Umfang des Übergangsgeldes geltend gemacht, dass er die Zuerkennung von Übergangsgeld auch bei der Beklagten beantragt habe. Ein Hinweis auf einen solchen Antrag ergab sich jedoch nicht aus dem Inhalt des erstinstanzlichen Aktes: Die Beklagte legte dem Erstgericht in der mündlichen Streitverhandlung vom 6.12.2017 (Protokoll ON 10, S 1) eine Kopie des Antrags ‚des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension sowie den Antrag auf Leistungen der Rehabilitation (inklusive Rehabilitationsgeld)‘ vor. Der Antrag trägt einen handschriftlichen Vermerk: ‚(siehe Beilage)‘. Eine solche Beilage wurde von der Beklagten jedoch nicht vorgelegt. Der (unvertretene) Kläger erhielt vom Erstgericht die Möglichkeit einer Urkundenerklärung zu dem von der Beklagten vorgelegten Antrag vom 24.7.2017 und gab dazu die Erklärung ab, dass er die Echtheit anerkennt und zur Richtigkeit auf das eigene Vorbringen verweist (ON 10, Prot S 6). Die Protokollierung dieser Passagen rügte der Kläger auch nicht in seinem Protokollberichtigungsantrag ON 13, dem das Erstgericht teilweise stattgab.

2.4 Ein Beiblatt zu seinem Antrag vom 24.7.2017 an die Beklagte, aus dem sich (auch) ein Antrag auf Zuerkennung von Übergangsgeld ergibt, legte der Kläger erstmals mit seinem Revisionsrekurs vor. […]

3.1 Die erstmals im Rechtsmittelverfahren gegen die Zurückweisung der Klage in diesem Umfang geltend gemachte Tatsache, dass ein Antrag auf Übergangsgeld auf einem Beiblatt zum Antrag auf Berufsunfähigkeitspension gestellt wurde, unterliegt nach den dargestellten Grundsätzen dem Neuerungsverbot des § 482 ZPO. Es fehlt, wie von den Vorinstanzen zutreffend angenommen, bereits aus diesem Grund im Umfang des Begehrens auf Zuerkennung von Übergangsgeld an der Zulässigkeit des Rechtswegs für den geltend gemachten Anspruch.

3.2 Daher bedarf es keiner weiteren Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass die Beklagte bisher keinen Bescheid über die (gänzliche oder teilweise) Ablehnung eines Anspruchs auf Übergangsgeld erlassen und der Kläger auch nicht behauptet hat, die Erlassung eines solchen Bescheids ausdrücklich beantragt zu haben (§ 367 Abs 1 Z 2 ASVG), was aber weitere Voraussetzung der Rechtswegzulässigkeit ist, weil das Übergangsgeld weder in § 222 Abs 1 noch Abs 2 ASVG genannt ist (§ 367 Abs 1 ASVG). […]“154

Der OGH hat bereits in 10 ObS 117/17d vom 10.10.2017 festgehalten, dass das Übergangsgeld nicht von der Antragsfiktion gem § 361 Abs 1 ASVG umfasst ist (vgl DRdA-infas 2018/26). Somit wäre für die Gewährung des Übergangsgeldes iSd § 367 Abs 1 ASVG ein eigener Antrag notwendig.

Der negative Bescheid der PVA behandelt bloß den Antrag des Kl auf Berufsunfähigkeitspension, nicht Gegenstand des Bescheids war hingegen der Anspruch des Kl auf Übergangsgeld. Aus diesem Grund wiesen die Instanzen die Rechtsmittel jeweils aufgrund der Unzulässigkeit des Rechtsweges zurück.

Erst mit dem Rekurs hat der Kl auch das Beiblatt zu seinem Antrag auf Berufsunfähigkeitspension vorgelegt, aus welchem hervorgeht, dass er auch einen Antrag auf Gewährung von Übergangsgeld gestellt hat.

Das Neuerungsverbot nach § 482 Abs 2 ZPO gilt ausnahmslos auch im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen. Nicht dem Neuerungsverbot im Rekursverfahren unterliegen hingegen Tatsachen, die jederzeit von Amts wegen wahrzunehmende Umstände, wie Prozessvoraussetzungen – wozu auch die Zulässigkeit des Rechtsweges zählt – betreffen. Gem § 42 Abs 1 JN ist aber nur auf jene Tatsachen von Amts wegen Bedacht zu nehmen, aus denen das Fehlen der dort genannten Prozessvoraussetzungen hervorgeht. Tatsachen, die gegen die Zurückweisung vorgebracht werden, unterliegen somit sehr wohl dem Neuerungsverbot.

Da es sich im vorliegenden Fall um eine Tatsache handelt, die gegen die Zurückweisung des Rekurses des Kl vorgebracht wurde – nämlich, dass ein Antrag auf Übergangsgeld gestellt wurde –, unterliegt sie dem Neuerungsverbot nach § 482 Abs 2 ZPO und kann nicht mehr geltend gemacht werden.

Kann der Kl allerdings nachweisen, dass er bereits am 24.7.2017 einen Antrag auf Gewährung von Übergangsgeld und auf Ausstellung eines Bescheids eingebracht hat und die PVA über diesen Antrag noch nicht entschieden hat, stünde ihm zur Erlangung einer inhaltlichen Entscheidung der Weg der Säumnisklage offen.155