37Nichtverbrauch von Urlaub – Verantwortlichkeit des Arbeitgebers
Nichtverbrauch von Urlaub – Verantwortlichkeit des Arbeitgebers
Art 7 RL 2003/88/EG und Art 31 Abs 2 GRC sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der ein AN, der im betreffenden Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm gemäß diesen Bestimmungen für den Bezugszeitraum zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub verliert, und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom AG zB durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen.
Kann eine nationale Regelung nicht im Einklang mit Art 7 RL 2003/88/EG und Art 31 Abs 2 GRC ausgelegt werden kann, ergibt sich aus Art 31 Abs 2 GRC, dass das mit einem Rechtsstreit zwischen einem AN und seinem früheren privaten AG befasste nationale Gericht diese nationale Regelung unangewendet zu lassen und dafür Sorge zu tragen hat, dass der AN, wenn der AG nicht nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um ihn tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, weder seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub noch entsprechend – im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses – die finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub, deren Zahlung in diesem Fall unmittelbar dem betreffenden AG obliegt, verlieren kann.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
10 Herr Shimizu war vom 1.8.2001 bis 31.12.2013 auf der Grundlage mehrerer befristeter Verträge bei der Max-Planck-Gesellschaft beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fanden das BUrlG und der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst Anwendung.
11 Mit Schreiben vom 23.10.2013 bat die Max-Planck-Gesellschaft Herrn Shimizu, seinen Urlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses zu nehmen, ohne ihn jedoch zu verpflichten, ihn zu einem von ihr festgelegten Termin zu nehmen. Herr Shimizu nahm am 15.11. und am 2.12.2013 jeweils einen Tag Urlaub.
12 Nachdem Herr Shimizu mit Schreiben vom 23.12.2013 die Max-Planck-Gesellschaft erfolglos zur Zahlung von 11.979 € als finanzielle Abgeltung von 51 nicht genommenen Urlaubstagen aus den Jahren 2012 und 2013 aufgefordert hatte, erhob er eine entsprechende Zahlungsklage.
13 Da dieser Klage sowohl in der ersten als auch in der Berufungsinstanz stattgegeben wurde, legte die Max-Planck-Gesellschaft beim vorlegenden Gericht, dem Bundesarbeitsgericht (Deutschland), Revision ein. [...]
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
18 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 7 RL 2003/88/EG und Art 31 Abs 2 GRC dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der ein AN, der im betreffenden Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm gemäß diesen Bestimmungen für den Bezugszeitraum zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf Zahlung einer finanziellen Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub verliert.
19 Zunächst ist zu beachten, dass das Recht jedes AN auf bezahlten Jahresurlaub nach stRsp des Gerichtshofs als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der RL 2003/88 selbst ausdrücklich gezogen werden (vgl idS EuGH 12.6.2014, C-118/13, Bollacke, ECLI:EU:C:2014:1755).
20 Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union hat zudem nicht nur besondere Bedeutung, sondern ist auch in Art 31 Abs 2 GRC, der nach Art 6 Abs 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zukommt, ausdrücklich verbürgt (EuGH 30.6.2016,C-178/15, Sobczyszyn, ECLI:EU:C:2016:502 Rn 20).
21 Was als Erstes Art 7 RL 2003/88/EG betrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Rechtssache des Ausgangsverfahrens die Weigerung betrifft, eine Vergütung für bezahlten Jahresurlaub zu zahlen, der zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens nicht genommen worden war.
22 Ist das Arbeitsverhältnis beendet, ist die tatsächliche Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs, der dem AN zusteht, nicht mehr möglich. Um zu verhindern, dass dem AN wegen dieser Unmöglichkeit jeder Genuss dieses Anspruchs, selbst in finanzieller Form, vorenthalten wird, sieht Art 7 RL 2003/88/EG vor, dass der AN Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage hat (vgl idS EuGH 12.6.2014,C-118/13, Bollacke, ECLI:EU:C:2014:1755 Rn 17 mwN).
23 Wie der Gerichtshof entschieden hat, stellt Art 7 RL 2003/88/EG keine andere Voraussetzung für das Entstehen des Anspruchs auf finanzielle Vergütung auf als die, dass das Arbeitsverhältnis beendet ist und der AN nicht den gesamten416Jahresurlaub genommen hat, auf den er zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte (EuGH 20.7.2016,C-341/15, Maschek, ECLI:EU:C:2016:576 Rn 27).
24 Insoweit geht aus der Rsp des Gerichtshofs hervor, dass Art 7 Abs 2 RL 2003/88/EG einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen dem AN am Ende des Arbeitsverhältnisses keine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub gezahlt wird, wenn es ihm nicht möglich war, den gesamten bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, der ihm vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses zustand, weil er sich zB während des gesamten Bezugs- und/oder Übertragungszeitraums oder eines Teils davon im Krankheitsurlaub befand (EuGH 20.1.2009,C-350/06 ua, Schultz-Hoff ua, ECLI:EU:C:2009:18 Rn 62 ; EuGH 20.7.2016,C-341/15, Maschek, ECLI:EU:C:2016:576 Rn 31, sowie EuGH 20.11.2017,C-214/16, King, ECLI:EU:C:2017:914 Rn 65).
25 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass Art 7 RL 2003/88/EG nicht dahin ausgelegt werden kann, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub und damit auch der Anspruch auf die in Art 7 Abs 2 RL 2003/88/EG vorgesehene finanzielle Vergütung durch den Tod des AN untergehen können. Dabei hat der Gerichtshof insb betont, dass, wenn die Pflicht zur Auszahlung einer solchen Vergütung wegen der durch den Tod des AN bedingten Beendigung des Arbeitsverhältnisses erlöschen würde, dieser Umstand zur Folge hätte, dass ein unwägbares Vorkommnis rückwirkend zum vollständigen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub selbst führen würde (vgl idS EuGH 12.6.2014,C-118/13, Bollacke, ECLI:EU:C:2014:1755 Rn 25, 26 und 30).
26 Das Erlöschen des von einem AN erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub oder des im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses korrelierenden Anspruchs auf Zahlung einer Vergütung für nicht genommenen Urlaub, ohne dass der AN tatsächlich die Möglichkeit gehabt hätte, den Anspruch auszuüben, würde nämlich das Recht auf bezahlten Jahresurlaub in seinem Wesensgehalt antasten (vgl idS 2EuGH 19.9.2013,C-579/12, Strack, ECLI:EU:C:2013:570 Rn 1).
27 In Bezug auf das Ausgangsverfahren ist festzustellen, dass nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts die Weigerung des früheren AG von Herrn Shimizu, ihm eine finanzielle Vergütung für den vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu zahlen, auf eine Bestimmung des nationalen Rechts gestützt ist, nach der dieser Urlaubsanspruch grundsätzlich nicht wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses als solcher untergeht, sondern aufgrund der Tatsache, dass der AN während des Arbeitsverhältnisses keinen Antrag auf Inanspruchnahme des Urlaubs im Bezugszeitraum gestellt hat.
28 Im vorliegenden Fall stellt sich somit im Wesentlichen die Frage, ob Herr Shimizu vor dem Hintergrund der in Rn 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rsp zum Zeitpunkt der Beendigung des im Ausgangsverfahren fraglichen Arbeitsverhältnisses noch Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hatte, der sich wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in eine finanzielle Vergütung umwandeln konnte. [...]
39 Im vorliegenden Fall ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass die in Rn 36 des vorliegenden Urteils angeführten nationalen Vorschriften dahin ausgelegt werden, dass, wenn ein AN im betreffenden Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines bezahlten Jahresurlaubs gestellt hat, dies grundsätzlich dazu führt, dass der AN seinen Urlaubsanspruch am Ende des Bezugszeitraums und entsprechend seinen Anspruch auf eine Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub verliert.
40 Wie der Generalanwalt beim EuGH in Nr 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, werden mit einem solchen automatischen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, der keine vorherige Prüfung voraussetzt, ob der AN tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen, die in Rn 35 des vorliegenden Urteils genannten Grenzen verkannt, die von den Mitgliedstaaten zwingend einzuhalten sind, wenn sie die Modalitäten für die Ausübung dieses Anspruchs im Einzelnen festlegen.
41 Der AN ist nämlich als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen, so dass verhindert werden muss, dass der AG ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann. Aufgrund dieser schwächeren Position kann der AN davon abgeschreckt werden, seine Rechte gegenüber seinem AG ausdrücklich geltend zu machen, da insb die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des AG aussetzen könnte, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können (vgl idS EuGH 25.11.2010,C-429/09,Fuß, ECLI:EU:C:2010:717 Rn 80 f).
42 Zudem ist die Schaffung eines Anreizes, auf den Erholungsurlaub zu verzichten oder die AN dazu anzuhalten, darauf zu verzichten, mit den in den Rn 32 und 33 des vorliegenden Urteils genannten Zielen unvereinbar, die mit dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verfolgt werden und ua darin bestehen, zu gewährleisten, dass der AN zum wirksamen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt (vgl idS Urteil vom 6.4.2006, C-124/05, Federatie Nederlandse Vakbeweging, EU:C:2006:244 Rn 32). Demnach verstößt auch jede Praxis oder Unterlassung eines AG, die den AN davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel (Urteil vom 29.11.2017, C-214/16, King, EU:C:2017:914 Rn 39 und die dort angeführte Rsp).
43 Unter diesen Umständen ist eine Situation zu vermeiden, in der die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, vollständig auf den AN verlagert würde, während der AG damit die Möglichkeit erhielte, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des AN seiner eigenen Pflichten zu entziehen.
44 Für die Antwort auf die erste Frage ist zwar darauf hinzuweisen, dass die Beachtung der Verpflichtung417des AG aus Art 7 RL 2003/88/EG nicht so weit gehen kann, von diesem zu verlangen, dass er seine AN zwingt, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen (vgl idS EuGH 7.9.2006, C-484/04, Kommission/Vereinigtes Königreich, ECLI:EU:C:2006:526 Rn 43). Er muss den AN jedoch in die Lage versetzen, einen solchen Anspruch wahrzunehmen (vgl idSEuGH 20.11.2017, C-214/16, King, ECLI:EU:C:2017:914, Rn 63).
45 Wie auch der Generalanwalt beim EuGH in den Nrn 41-43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der AG in Anbetracht des zwingenden Charakters des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub und angesichts des Erfordernisses, die praktische Wirksamkeit von Art 7 RL 2003/88/EG zu gewährleisten, ua verpflichtet, konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der AN tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm, damit sichergestellt ist, dass der Urlaub ihm noch die Erholung und Entspannung bieten kann, zu denen er beitragen soll, klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird.
46 Die Beweislast trägt insoweit der AG (vgl EuGH 16.3.2006, C-131/04, Robinson-Steele ua, ECLI:EU:C:2006:177 Rn 68). Kann er nicht nachweisen, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den AN tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, verstießen das Erlöschen des Urlaubsanspruchs am Ende des Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeitraums und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – das entsprechende Ausbleiben der Zahlung einer finanziellen Vergütung für den nicht genommenen Jahresurlaub gegen Art 7 Abs 1 und Art 7 Abs 2 RL 2003/88/EG.
47 Ist der AG hingegen in der Lage, den ihm insoweit obliegenden Beweis zu erbringen, und zeigt sich daher, dass der AN aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht Art 7 Abs 2 RL 2003/88/EG dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall der finanziellen Vergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub nicht entgegen. [...]
61 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art 7 RL 2003/88/EG und Art 31 Abs 2 GRC dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der ein AN, der im betreffenden Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm gemäß diesen Bestimmungen für den Bezugszeitraum zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub verliert, und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom AG zB durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen. Es ist insoweit Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der darin anerkannten Auslegungsmethoden zu prüfen, ob es in der Lage ist, zu einer Auslegung dieses Rechts zu gelangen, mit der die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet werden kann. [...]
Das nationale Urlaubsrecht wird immer stärker vom Unionsrecht beeinflusst (siehe nur Ahrends, Das europäisierte Urlaubsrecht [2019] 1 ff und Auer-Mayer, Unionsrechtliche Auswirkungen auf das Urlaubsrecht, ZAS 2018/3, 12 [20]). Die Fallnamen Schultz-Hoff (EuGH20.1.2009, C-350/06 ua, ECLI:EU:C:2009:18 = DRdA 2009, 261 = ZASJudikatur 2009/52, 78), Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser TirolsEuGH( 22.4.2010, C-486/08, ECLI:EU:C:2010:215 = DRdA 2010, 422= ZAS-Judikatur 2010/114, 221 = ZESAR 2010, 422 [Rief]) und Brandes (EuGH 13.6.2013, C-415/12, ECLI:EU:C:2013:398 = DRdA 2013, 533 = ZAS-Judikatur 2013/145, 278) stehen dabei für die vielzitierten „Paukenschläge aus Luxemburg“ (Thüsing/Pötters/Stiebert, Neues aus Luxemburg: Aktuelle Rechtsprechung des EuGH zu den Diskriminierungsverboten und zum Urlaubsrecht, RdA 2012, 281 [285]), die dem nationalen Urlaubsrecht eine zwar mehr und mehr sichtbare, aber nicht immer auch uneingeschränkt begrüßte (so etwa Münder, Zeitlich unbegrenzter Urlaubsanspruch für Scheinselbständige, ZfA 2019, 66 [80 f]; Arnold/Zeh, Der EuGH und das deutsche Urlaubsrecht – schon wieder Neues aus Luxemburg! NZA 2019, 1 [6]) Prägung verleihen. Denn Irritationen und Brüche im nationalen Rechtsbereich können nicht ausbleiben, wenn der EuGH sich zu urlaubsrechtlichen Fragen äußert. Dies schon deshalb nicht, weil der Gerichtshof bei seiner Interpretation des unionalen Urlaubsrechts von einem abweichenden Verständnis von Urlaub ausgeht, als dies in manchen EU-Mitgliedstaaten der Fall ist. Die vorstehend abgedruckte E fügt sich in eine Reihe von Urteilen ein, mit denen der EuGH das unionale Urlaubsrecht weiter konturiert und für den nationalen Rechtsbereich Anpassungserfordernisse formuliert.
Die E bietet zunächst eine Wiederholung bereits bekannter Grundsätze. Der Anspruch von AN auf einen bezahlten Jahresurlaub wird vom EuGH wie auch in der vom selben Tag stammenden E in der Rs Kreuziger (EuGH 6.11.2018, C-619/16, ECLI:EU:C:2018:872 = ÖJZ 2018/140, 1097) erneut als „bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union“ qualifiziert (stRsp seit EuGH 26.1.2001, C-173/99, BECTU, ECLI:EU:C:2001:356 = wbl2001/283, 482)418. Schon daran wird deutlich, dass der EuGH den Urlaubsanspruch als ein Recht von herausgehobener Bedeutung einstuft (Schlachter, Drittwirkung von Grundrechten der EU-Grundrechtecharta, ZESAR 2019, 53 [56]; krit aber Krebber in Schlachter/Heinig [Hrsg], Europäisches Arbeits- und Sozialrecht [2016] § 2 Rz 26, der die solcherart vom EuGH vorgenommene Hochzonung des Urlaubsanspruchs als „willkürlich“ bezeichnet). Auch das bereits in anderen Entscheidungen entfaltete Verständnis vom Zweck des Urlaubs wird von der vorstehend abgedruckten E bestätigt. Der Urlaub dient demnach zur Erholung des AN und zur Gewährleistung eines Zeitraums der Entspannung und Freizeit (Höpfner, Das deutsche Urlaubsrecht in Europa – Zwischen Vollharmonisierung und Koexistenz – Teil 2, RdA 2013, 65 [66]; Plüm, Wohin im Urlaub? NZA 2013, 11 [13]). Insgesamt sieht der EuGH im Urlaubsanspruch gleichermaßen ein Recht auf Freistellung von der Arbeitspflicht und ein Recht auf Zahlung des Urlaubsentgelts integriert (sogenannte „Einheitstheorie“ des EuGH: Hamacher, Von der Kunst, den Urlaubsanspruch zu erfüllen, NZA 2018, 487; Suckow/Klose, Das Bundesurlaubsgesetz unter Luxemburger Auspizien – Europarecht als Probierstein deutschen Urlaubsrechts, in Schmidt [Hrsg], Jahrbuch des Arbeitsrechts 49 [2012] 59 [61]; Neumann, Urlaubsrecht im Wechselbad, DB 2014, 484 [485]).
Damit zeigt sich ein wesentlicher Unterschied im Verständnis des Urlaubsanspruchs. Während in Deutschland die individualarbeitsrechtliche Verankerung des Urlaubs als Ausfluss der Fürsorgepflicht des AG in den Vordergrund gestellt und zwischen dem Freistellungsanspruch einerseits und dem Vergütungsanspruch andererseits unterschieden wird (Schlottfeldt, Europarechtliche „Baustellen“ des deutschen Urlaubsrechts, ZESAR 2013, 222; Suckow/Klose in Schmidt [Hrsg], Jahrbuch des Arbeitsrechts 60 mit Verweis auf BAG 8.3.1984, 6 AZR 600/82 BAGE 45, 184), betont der EuGH ausgehend von der von ihm vertretenen „Einheitstheorie“ sehr stark den arbeitsschutzrechtlichen Charakter des unionsrechtlichen Urlaubsanspruchs (König, Der Wandel der Voraussetzungen des Urlaubsanspruchs unter dem Einfluss europäischer Vorgaben, in Krömer/Mitschka/Niksova/Pfalz [Hrsg], Arbeitsrecht und Arbeitswelt im europäischen Wandel [2016] 97 [101 f]). Der im Unionsrecht wurzelnde Urlaub wird vom EuGH dabei im Speziellen als Materie des Gesundheitsschutzes begriffen (Wank, Der EuGH und das Urlaubsrecht, in Martinek/Rawert/Weitemeyer [Hrsg], FS Dieter Reuter [2010] 921 [922]).
Daran anknüpfend begründet der EuGH mit der vorliegenden E eine stärkere Verantwortlichkeit der AG für den Urlaubskonsum ihrer MitarbeiterInnen (ebenso EuGH Rs Kreuziger). Der EuGH sieht nämlich nicht allein die AN in der Pflicht, für die Realisierung ihrer Urlaubsansprüche Sorge zu tragen und begründet dies explizit mit der schwächeren Position von AN im Arbeitsverhältnis. Vielmehr liege es schwergewichtig an den AG, die AN in die Lage zu versetzen, ihre Urlaubsansprüche auch tatsächlich wahrzunehmen. Hierzu statuiert der EuGH für AG eine Art von „Aufforderungsobliegenheit“ (Powietzka, Verfall und Vererblichkeit von Urlaubsansprüchen – Neuregelung des Urlaubsanspruchs durch den EuGH, BB 2019, 52 [56] spricht sogar von einer „Hinweispflicht“ des AG; Wutte, Mitverantwortung des Arbeitgebers für die Urlaubnahme, EuZA 12 [2019] 222 [232] von einer „Urlaubssorgepflicht“) in dem Sinn, dass AG nötigenfalls AN auffordern, ihren Urlaub zu konsumieren und diese auf den eventuell eintretenden Verfall (Verjährung) ihres Urlaubsanspruchs aufmerksam machen. Diesbezüglich sieht der EuGH den AG auch als beweispflichtig an. Dh: Kann ein AG nicht nachweisen, dass er seiner „Aufforderungsobliegenheit“ entsprochen hat, kann es aus unionsrechtlicher Sicht zu keinem zeitbedingten Untergang des Urlaubsanspruchs kommen.
Aus methodischer Sicht bietet die vorhin abgedruckte E eine Weiterentwicklung der Wirkungsweise von Art 31 Abs 2 GRC. Vor dem Hintergrund, dass sich im Ausgangsrechtsstreit zwei Private gegenüberstanden, musste der EuGH einen Weg finden, um den privaten AG an die vom EuGH aus dem sekundären Unionsrecht abgeleitete „Aufforderungsobliegenheit“ unmittelbar binden zu können. Eine unmittelbare Bindung des privaten AG an Art 7 RL 2003/88/EG ist ja auch nach dem Verständnis des EuGH nicht möglich (aus der stRsp etwa EuGH 30.4.2014, C-26/13, Kásler, ECLI:EU:C:2014:282 Rz 65 = NJW 2014, 2335 = RdW 2014/361, 330; EuGH 15.4.2008, C-268/06, Impact, ECLI:EU:C:2008:223 Rz 100 = ZAS-Judikatur 2008/143, 179). Daher nutzte der EuGH die grundrechtliche Garantie von Art 31 Abs 2 GRC, um das von ihm sekundärrechtlich gewonnene Auslegungsergebnis gleichzeitig als Inhalt des Grundrechts zu postulieren. Als inhaltlicher Bestandteil des Unionsprimärrechts wird die Vorgabe des EuGH auch für private AG relevant, da sich diese nicht mehr auf das dem Grundrecht auf Urlaub inhaltlich widersprechende nationale Recht (und dabei vor allem auf Verfalls- oder Verjährungsregelungen) berufen können (siehe auch Erler, Der EuGH bewirkt massive Änderungen im österreichischen Urlaubsgesetz, ÖZPR 2019/3, 4).
Das vorliegende Urteil – ebenso wie jenes in der Rs Kreuziger – bedeutet eine Stärkung sozialer Grundrechte (ebenso Heuschmid, EuGH stärkt soziale Grundrechte beim Urlaubsrecht! NZA 2018 H 22 Editorial und Kopetzki, Das Grundrecht auf Jahresurlaub: Neues zur Charta und ihrer Drittwirkung, ecolex 2019, 97). Mit seiner inhaltlichen Positionierung stellt sich der EuGH zu Recht jenen Stimmen entgegen, die Art 31 Abs 2 GRC – entgegen dessen Wortlaut – die Qualität eines subjektiven Rechts absprechen wollen (etwa Krebberin Schlachter/Heinig [Hrsg], Europäisches Arbeits- und Sozialrecht § 2 Rz 16). Diese Markierung des EuGH ist, vor allem vor dem Hintergrund, dass dem EuGH oftmals mangelnde soziale Sensibilität vorgeworfen wird (zB von Bücker/Hauer/Walter, Workers‘ rights and economic freedoms: symphony or cacophony?419A critical analysis from a German perspective, in Bücker/Warneck [Hrsg], Reconciling Fundamental Social Rights and Economic Freedoms after Viking, Laval and Rüffert [2011] 45 [60]; Kocher, Das „Sozialthema“ zwischen EuGH und Nationalstaat, ArbuR 2009, 332 ff; dies, Stoppt den EuGH? Zum Ort der Politik in einer europäischen Arbeitsverfassung, in Fischer-Lescano/Rödl/Schmid [Hrsg], Europäische Gesellschaftsverfassung [2009] 161 ff; Rebhahn, Europäisches Sozialmodell, Europäische Sozialstaatlichkeit und der Vertrag von Lissabon, in Altmeppen/Fitz/Honsell [Hrsg], FS Günter H. Roth [2011] 593 [595 f]), ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Gerichtshof bereit ist, den Realitäten des Arbeitslebens (Rz 41 des vorstehend abgedruckten Urteils: „Der Arbeitnehmer ist nämlich als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen [...]“
) Rechnung zu tragen, um daraus in weiterer Folge dann konkrete rechtliche Schlussfolgerungen zur Verbesserung der Rechtsstellung von AN zu ziehen.
Denn dass eine automatische Berufung auf den zeitbedingten Untergang des Urlaubsanspruchs, ohne nach der Verantwortlichkeit des AG für den Nichtverbrauch zu fragen, nicht mehr möglich ist, ist aus AN-Sicht eine begrüßenswerte Weiterentwicklung, die dem unionsrechtlichen Charakter des Urlaubs als Materie des Gesundheitsschutzes absolut Rechnung trägt (siehe Art 5 Abs 1 und Art 6 Abs 1 RL 89/391/EWG, die die rechtliche Verantwortung für die Umsetzung von Maßnahmen des Gesundheitsschutzes klar dem AG zuweisen). Dies muss auch auf den nationalen Rechtsbereich ausstrahlen. Wenn es daher nach bisheriger Auffassung als entbehrlich erachtet wird, die Frage nach dem Verschulden am Nichtverbrauch des Urlaubs zu stellen (Mayr/Erler, UrlG3 [2019] § 4 UrlG Rz 34 und Reissner in Neumayr/Reissner [Hrsg], Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht I3 [2018] § 4 UrlG Rz 33), so erfordert das vom EuGH entwickelte Verständnis eine Neubewertung (so bereits von Auer-Mayer, ZAS 2018/3, 20 gefordert) der Verjährungsregel von § 4 Abs 5 UrlG in dem Sinn, dass es sehr wohl zu hinterfragen ist, warum der AN innerhalb des zur Verfügung stehenden Zeitraums den ihm zustehenden Urlaub nicht konsumiert hat. Stellt sich dabei heraus, dass der Nichtverbrauch auf Umstände zurückzuführen ist, die der AG zu verantworten hat (siehe dazu bereits EuGH 20.11.2017, C-214/16, King, ECLI:EU:C:2017:914 = JAS 2 [2018] 140 [Risak/Grossinger] = DRdA 2018/36, 353 [mit Besprechungsaufsatz von Auer-Mayer]), dann kann es zu keinem zeitbedingten Untergang des Urlaubsanspruchs mehr kommen (Tinhof, Anm zu EuGH 6.11.2018, C-684/16, Max Planck Gesellschaft, DRdA-infas 2019/20, 30 f). AG tun deshalb gut daran, den vom EuGH gemachten Hinweisen zu folgen, und AN einerseits rechtzeitig auf die Möglichkeit zum Urlaubsverbrauch hinzuweisen (etwa in Form einer schriftlichen Mitteilung zu Jahresbeginn über bestehende Urlaubsansprüche verbunden mit der Aufforderung, den Urlaub zu konsumieren: Arnold/Zeh, NZA 2019, 1 [6]) und andererseits auch die faktischen Möglichkeiten dafür zu schaffen, dass der Urlaub von den AN auch in natura konsumiert werden kann (Edthaler/Traxler, EuGH: Kein automatischer Verfall von Urlaubsansprüchen, ASoK 2019, 2 [7]). Eine Pflicht zur einseitigen Urlaubsfestlegung ist damit für den AG im Übrigen nicht verbunden (Münder, ZfA 2019, 70; Wutte, EuZA 12 [2019] 226), insofern nimmt der EuGH durchaus Rücksicht auf die „einzelstaatlichen Gepflogenheiten“ im Bereich des Urlaubsrechts, die in Österreich zB im bekannten urlaubsrechtlichen Vereinbarungsprinzip bestehen, was die Fixierung von Ausmaß und Zeitraum des Urlaubsverbrauchs betrifft (Mayr/Erler, UrlG3 § 4 UrlG Rz 1; für den deutschen Rechtsbereich kann damit die Befürchtung von Schmidt, Anm zu BAG 13.12.2016, 9 AZR 541/15 [A], ZESAR 2017, 125 [128] entkräftet werden, der für den Fall, dass der EuGH eine Pflicht des AG zur einseitigen Zuteilung von Urlaub statuiert hätte, eine grundlegende Veränderung des bisherigen Verständnisses der Urlaubsgewährung konstatieren würde).420