159Vorspringer bei Skiflug-Weltmeisterschaft; Dienstnehmer iSd AS
Vorspringer bei Skiflug-Weltmeisterschaft; Dienstnehmer iSd AS
Zwischen der sanktionslosen Ablehnung der Erbringung einzelner Leistungen, etwa bei deren Abruf im Zuge einer Rahmenvereinbarung bei verpflichtender Tätigkeit im Fall der Zusage, und einem generellen sanktionslosen Ablehnungsrecht, das die persönliche Abhängigkeit ausschließt, ist ein deutlicher Unterschied zu machen.
DN iSd ASVG sind auch Personen, bei deren Beschäftigung die Merkmale persönlicher Abhängigkeit gegenüber den Merkmalen selbständiger Ausübung der Erwerbstätigkeit überwiegen. Entscheidend ist, ob bei einer Gesamtbetrachtung nach der Methodik des beweglichen Systems die Merkmale der persönlichen Abhängigkeit ihrem Gewicht und ihrer Bedeutung nach überwiegen.
Der Revisionswerber, ein ausgebildeter Skiflieger, war auch nach seinem Ausscheiden aus dem Kader des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV) „Mit-Trainierer“ des Stützpunktkaders des ÖSV. Er hat sein Interesse bekundet, an der Skiflug-Weltmeisterschaft 2016 als Vorspringer teilzunehmen. Er wurde für diese Veranstaltung nominiert und eingestellt. Die Vorspringer hatten die Aufgabe, auf die Beschaffenheit der Schanze zu achten und nach absolviertem Sprung die notwendigen Informationen über die Bedingungen per Funk weiterzugeben. Gemäß der internationalen Skiwettkampfordnung (IWO) muss der Veranstalter eines Skiflugwettkampfes dafür sorgen, dass mindestens zwölf qualifizierte Vorspringer, die nicht am Wettkampf teilnehmen, täglich zur Verfügung stehen. Für die Skiflug-Weltmeisterschaften 2016 waren etwa 15 bis 20 Vorspringer engagiert. Diese waren durch ihren Nationalen Verband gemeldet. Alle mussten die Fähigkeit besitzen, von dem von der Jury für den Wettkampf festgelegten Startplatz zu starten. Das Einfliegen der Schanze hatte unter Aufsicht der Jury zu geschehen. Es galten die gleichen Regeln wie für den Wettkampf. Dem für die Veranstaltung zuständigen Rennleiter oblag das Einfliegen der Schanze und die endgültige Entscheidung über die Personen der Vorspringer, ebenso die Entscheidung, wann der Vorspringerchef mit dem Vorspringen beginnen solle. Als Mitglied der Jury war der Rennleiter ua für die Entscheidung zuständig, ob die Schanze freigegeben wurde, wann die Sprünge absolviert wurden, wie viele Vorspringer springen mussten und ob ein Vorspringer nach einer Unterbrechung oder auf Verlangen eines Wettkampfspringers springen müsse. Der Revisionswerber war auch mehrmals als Vorspringer beim Skifliegen tätig gewesen. Am 13.1.2016 kam er im Zuge des Einfliegens der Flugschanze zu Sturz und erlitt eine nicht revidierbare Querschnittlähmung.
Mit Bescheid stellte die belangte Behörde fest, dass der Revisionswerber auf Grund seiner Beschäftigung als Vorspringer der Vollversicherungspflicht gem § 4 Abs 1 Z 1 iVm Abs 2 ASVG und der Arbeitslosenversicherungspflicht gem § 1 Abs 1 lit a AlVG unterlegen sei. Er sei hinsichtlich der Arbeitszeit und des Arbeitsortes den Weisungen der erstmitbeteiligten Partei (Veranstalter der WM) unterlegen. Er sei an die Ordnungsvorschriften über das Skifliegen gebunden gewesen. Er sei in den Betrieb des ÖSV organisatorisch eingebunden gewesen. In einer Gesamtschau würden die Merkmale persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegenüber den Merkmalen selbständiger Ausübung der Tätigkeit überwiegen.
Die erstmitbeteiligte Partei erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde an das BVwG.280
Das BVwG gab der Beschwerde statt und stellte fest, dass der Revisionswerber im genannten Zeitraum weder der Pflichtversicherung gem § 4 Abs 1 Z 1 iVm Abs 2 ASVG noch der AlV gem § 1 Abs 1 lit a AlVG unterlegen sei. Auch ein freier Dienstvertrag nach § 4 Abs 4 ASVG sei nicht vorgelegen. Der Revisionswerber habe sich – sofern er seinen Einsatz als Vorspringer tatsächlich habe absolvieren wollen – zu den im Zeitplan festgelegten Zeiten an den dafür vorgesehenen Orten, teilweise sprungbereit, aufhalten müssen. Er sei an das FIS-Reglement sowie an die Vorgaben der Rennleitung und der Jury gebunden gewesen. Ihm seien in Bezug auf sein persönliches Verhalten, sein Training oder seine körperliche Fitness und in Bezug auf den Sprung selbst bzw dessen Vorbereitung keine Vorgaben gemacht worden. Er sei in der Lage, sich selbständig und eigenverantwortlich körperlich auf seinen Einsatz vorzubereiten. Vorspringer seien nicht dazu verpflichtet, tatsächlich einen Sprung zu absolvieren. Dem Revisionswerber sei es – wie jedem anderen Vorspringer oder Wettkampfspringer auch – immer möglich gewesen, einen einzelnen Sprung oder mehrere Sprünge, aus welchen Gründen immer, sanktionslos abzulehnen. Es sei möglich oder komme durchaus vor, dass ein Vorspringer an einem Tag einen Sprung auslasse oder einen ganzen Tag lang keine, an den nächsten Tagen oder vor dem nächsten Wettkampfdurchgang aber doch wieder Sprünge absolviere. Sage ein und derselbe Vorspringer an mehreren Veranstaltungen hintereinander ohne Grund kurzfristig ein Vorspringen ab, so werde in naher Zukunft auf Grund mangelnder Verlässlichkeit womöglich eher einem anderen Kandidaten der Vorzug gegeben. Könne infolge mehrerer Ablehnungen mit den vorhandenen, sprungbereiten Vorspringern nicht das Auslangen gefunden werden, so sei die Jury verpflichtet, Ersatz zu besorgen. Die Gruppe der Vorspringer sei üblicherweise so groß, dass es nicht zu solchen Problemen komme. Der Revisionswerber habe keinen beliebigen Vertreter bestellen können. Der Vorspringerchef habe aber auf allfällige Vertretungswünsche aus „dem vorhandenen Pool der Vorspringer“ Rücksicht genommen, sofern der Betreffende über die gerade nötigen Fähigkeiten verfügt und nicht bereits drei Sprünge absolviert habe. Komme ein Vorspringer (gegen seinen Willen) nicht zum Zug, könne er beim Vorspringerchef oder beim Rennleiter nachfragen, weshalb der Sprung nicht genehmigt worden sei. Mache ein Vorspringer an einem Tag den Eindruck, nicht über die nötige körperliche oder geistige Fitness zu verfügen, sei es möglich, dass der Vorspringerchef oder der Rennleiter dem betreffenden Vorspringer für diesen Tag oder für diesen konkreten Sprung aus Sicherheitsgründen die Freigabe verweigere und stattdessen ein anderer Vorspringer zum Zug gelange. Es sei konsequenzlos möglich, dass ein Vorspringer (allenfalls nach Absolvierung eines Sprunges) nicht mehr an den Anlauf zurückkehre, sondern sich in ein Gastronomiezelt begebe oder die Veranstaltung ganz verlasse. Es sei jedoch vorrangiges Ziel eines jeden Sportlers, der sich zum Vorspringen melde, dieses – sei es zu Übungszwecken, zur Wahrnehmung seltener Gelegenheiten (wie etwa beim Skifliegen), wegen der Zugehörigkeit zu einem elitären Kreis, zur Verbesserung der eigenen sportlichen Leistung oder wegen des Zugewinns von Erfahrung – auch tatsächlich zu absolvieren
Der VwGH gab der Revision Folge und hob das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts auf.
„[…] 58 Gemäß § 4 Abs 2 ASVG ist Dienstnehmer, wer in einem Verhältnis persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegen Entgelt beschäftigt wird. Dienstnehmer im genannten Sinn sind auch Personen, bei deren Beschäftigung die Merkmale persönlicher Abhängigkeit gegenüber den Merkmalen selbständiger Ausübung der Erwerbstätigkeit überwiegen. […] Entscheidend ist, ob bei einer Gesamtbetrachtung nach der Methodik des beweglichen Systems die Merkmale der persönlichen Abhängigkeit ihrem Gewicht und ihrer Bedeutung nach überwiegen. […]
59 Grundvoraussetzung für die Annahme persönlicher Abhängigkeit im Sinn des § 4 Abs 2 ASVG und damit eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ist stets die persönliche Arbeitspflicht. Fehlt sie, dann liegt ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht vor. Persönliche Arbeitspflicht ist […] dann nicht gegeben, wenn demjenigen, dessen Leistungserbringung zu beurteilen ist, eine generelle Vertretungsbefugnis bei Erbringung dieser Leistung eingeräumt ist oder wenn ein Beschäftigter die Leistung bereits übernommener Dienste jederzeit nach Gutdünken ganz oder teilweise sanktionslos ablehnen kann. […] Die bloße Befugnis eines Erwerbstätigen, ihm angebotene Beschäftigungsmöglichkeiten auszuschlagen, berührt die persönliche Arbeitspflicht in keiner Weise. […] Zwischen der sanktionslosen Ablehnung der Erbringung einzelner Leistungen, etwa bei deren Abruf im Zuge einer Rahmenvereinbarung bei verpflichtender Tätigkeit im Fall der Zusage, und einem generellen sanktionslosen Ablehnungsrecht, das die persönliche Abhängigkeit ausschließt, ist ein deutlicher Unterschied zu machen. […] Selbst eine ausdrücklich vereinbarte Befugnis des Beschäftigten, bereits zugesagte Arbeitseinsätze jederzeit nach Gutdünken sanktionslos ablehnen zu können, stünde im Verdacht, ein ‚Scheingeschäft‘ zu sein, wenn eine solche Vereinbarung mit den objektiven Anforderungen der Unternehmensorganisation nicht in Einklang zu bringen wäre. […] Anders wäre ein Sachverhalt aber zB dann zu beurteilen, wenn der Dienstgeber einfache Aushilfsarbeiten281derart organisiert, dass für deren Durchführung jederzeit mehrere abrufbare Arbeitskräfte zur Verfügung stehen (‚präsenter Arbeitskräftepool‘), und es ihm – nicht zuletzt wegen der Einfachheit der Arbeiten – gleichgültig ist, von welcher – gleichwertigen – Arbeitskraft aus dem potenziell zur Verfügung stehenden Kreis er die Arbeiten verrichten lässt. […]
60 Das Verwaltungsgericht erblickte in der Befugnis der Vorspringer, die Durchführung eines Skisprungs (auch noch im letzten Moment) abzulehnen, sodass die erstmitbeteiligte Partei nicht auf diesen habe bauen können, ein die persönliche Arbeitspflicht ausschließendes sanktionsloses Ablehnungsrecht. Dabei ließ es außer Acht, dass der Revisionswerber nicht die Ausübung seiner Tätigkeit als Vorspringer insgesamt […], sondern nur die Durchführung des gefahrenträchtigen Sprungs selbst ablehnen konnte, was aus dem erforderlichen Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Vorspringer folgt. Der Vorspringerchef bzw der Rennleiter hatten auch von sich aus dem betreffenden Vorspringer für einen Tag oder für einen Sprung die Freigabe zu verweigern, wenn er den Eindruck machte, nicht über die nötige körperliche oder geistige Fitness zu verfügen.
61 Das FIS-Reglement bzw die erstmitbeteiligte Partei trugen der Möglichkeit, dass ein Vorspringer für einen bestimmten Sprung nicht zur Verfügung stehen könnte, dadurch Rechnung, dass eine genügend große Anzahl an Personen für die Tätigkeit als Vorspringer aufgenommen wurde. Eine Befugnis der Vorspringer, den gesamten bereits zugesagten Arbeitseinsatz bei einem Wettkampf jederzeit nach Gutdünken sanktionslos ablehnen zu können, stünde mit den objektiven Anforderungen der vorliegenden Unternehmensorganisation aber nicht im Einklang. Die von vornherein zur gegenseitigen Vertretung bzw zur sachgerechten Einteilung bestimmten Vorspringer sind auch kein Pool von […] Arbeitskräften in Warteposition im oben beschriebenen Sinn. Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dem Revisionswerber sei ein generelles, sanktionsloses, seine persönliche Arbeitspflicht ausschließendes Ablehnungsrecht zugekommen, sodass mangels persönlicher Arbeitspflicht auch keine persönliche Abhängigkeit vorgelegen […] sei, wird vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilt.
[…]
65 Das zu erzielende Arbeitsergebnis bestand im vorliegenden Fall darin, für die […] Skiflug-Weltmeisterschaft […] alle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die an der Weltmeisterschaft teilnehmenden Wettkämpfer in einen die FIS-Regeln beachtenden Wettkampf treten können. Zur Erreichung dieses Ziels hat die erstmitbeteiligte Partei eine aus Infrastruktur (die einsatzbereite Flugschanze mit allen Zusatzeinrichtungen) und den beteiligten Personen gebildete betriebliche Organisation geschaffen, von der insbesondere in Anbetracht der einzuhaltenden Wettkampfregeln und der Anweisungen des Rennleiters und des Vorspringerchefs ein extremer personenbezogener Anpassungsdruck (Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, persönliches Erscheinungsbild, Sorgfalt, Teamfähigkeit, Einfügungsbereitschaft in vorgegebene Strukturen des Arbeitsablaufs) für den darin eingebundenen, zum Erreichen des Arbeitszieles (durch Einfliegen, Informationsbeschaffung, Bereitschaft während des Wettkampfes) beitragenden Revisionswerber ausging.
66 Die für die Tätigkeit eines Skifliegers erforderliche Qualifikation ist zwar hoch, jedoch ist nicht erkennbar, dass diese dem Revisionswerber in seiner umfassend determinierten Situation einen Spielraum für eine unternehmerische Gestaltung seiner Tätigkeiten eröffnet hätte, der für das Vorliegen eines freien Dienstverhältnisses sprechen würde.
67 In der gebotenen Gesamtabwägung (§ 4 Abs 2 ASVG) spricht die beschriebene Einbindung des Revisionswerbers in den Betrieb der erstmitbeteiligten Partei auch unter Berücksichtigung der für die Tätigkeit als Vorspringer erforderlichen Qualifikation für das Vorliegen einer Beschäftigung in persönlicher Abhängigkeit. Daran können die weiteren Umstände der Ausübung der Beschäftigung – das zeitbezogene Pauschalentgelt als eher dafür (VwG H 25.6.2013, 2013/08/0093) und der punktuelle, einmalige Arbeitseinsatz in einer spezifischen Situation als eher dagegen sprechendes Nebenkriterium (VwGH 24.4.2014, 2012/08/0081) – nichts ändern. Der Umstand, dass die Vorspringer ihre Tätigkeit mit Begeisterung ausgeübt haben und sie als Auszeichnung bzw als seltene Gelegenheit empfanden, ihr sportliches Leistungsvermögen unter Beweis zu stellen, ist kein gegen das Vorliegen persönlicher Abhängigkeit sprechendes Kriterium. Zusammenfassend überwiegen iSd § 4 Abs 2 ASVG die Merkmale persönlicher Abhängigkeit gegenüber den Merkmalen selbständiger Ausübung der Erwerbstätigkeit. […]“
Die vorliegende E wiederholt und konkretisiert bereits bekannte Kriterien zur Abwägung der Kriterien der persönlichen Unabhängigkeit – insb zum „präsenten Arbeitskräftepool“ – an Hand eines spektakulären, auch aus den Medien bekannten Falls. Der VwGH beleuchtet aber auch den für Dienstverhältnisse ungewöhnlichen Aspekt, dass die Vorspringer ihre Tätigkeit möglicherweise auch ohne Entgelt, nur aus Begeisterung und aus der Motivation, zu einem „elitären Kreis“ zu gehören, ausgeübt hätten. Ausdrücklich wird festgehalten, dass diese Motivation kein Kriterium für die Beurteilung darstellt.
Anders als das BVwG sieht der VwGH in der Befugnis der Vorspringer, einen einzelnen Sprung abzulehnen, kein sanktionsloses Ablehnungsrecht. Diese Möglichkeit diene nur der körperlichen Sicherheit;282sie konnten jedoch nicht den gesamten bereits zugesagten Arbeitseinsatz nach Gutdünken sanktionslos ablehnen.
Weiters wird festgestellt, dass der Revisionswerber vom Veranstalter (der erstmitbeteilgten Partei im Verfahren vor dem VwGH) kostenlos Unterkunft, Verpflegung, einen Shuttle-Dienst, einen vom Herkunftsland abhängigen Reisekostenersatz sowie ein tägliches Taschengeld in Höhe von € 100,- zur Abdeckung der sonstigen Aufwendungen (daher vom 12. bis 17.1.2016 insgesamt € 600,-) erhalten habe. Es handelt sich beim Taschengeld nicht um eine pauschale Reiseaufwandsentschädigung iSd § 49 Abs 3 Z 28 ASVG, sondern um Entgelt iSd § 49 Abs 1 ASVG.
Zur Einbindung in einen Betrieb führt der VwGH aus, dass nach § 34 Abs 1 ArbVG diejenige Arbeitsstätte als Betrieb gilt, die eine organisatorische Einheit bildet, innerhalb derer eine Person die Erzielung bestimmter Arbeitsergebnisse fortgesetzt verfolgt, ohne Rücksicht darauf, ob Erwerbsabsicht erfolgt oder nicht. Der Veranstalter (Erstmitbeteiligte) hat eine aus Infrastruktur und den beteiligten Personen gebildete betriebliche Organisation geschaffen.