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Waisenpension: Sämtliche mit der Ausbildungstätigkeit selbst im Zusammenhang stehende Einkünfte sind zu berücksichtigen

MONIKAWEISSENSTEINER

Bei der Beurteilung der Kindeseigenschaft iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG sind sämtliche mit der Ausbildungstätigkeit selbst im Zusammenhang stehende Einkünfte der Waise zu berücksichtigen. Dabei kommt es ausschließlich darauf an, ob die Waise Einkünfte – entweder vom Ausbildungsbetrieb selbst (hier Stipendium aus dem Praktikumsvertrag) oder aus öffentlichen Mitteln (hier Leistungen des Arbeitsmarktservice [AMS] während der Ausbildung) – deshalb erzielt, weil sie eine bestimmte Ausbildung absolviert hat.

SACHVERHALT

Die 1997 geborene Kl absolvierte seit 12.9.2017 im Rahmen einer Stiftung eine knapp zweijährige Ausbildung zur Fachsozialbetreuerin/Behindertenarbeit im Ausmaß von 3.000 Stunden. Dabei handelte es sich um ein Praktikum zur Unterstützung der theoretischen/schulischen Ausbildung im Rahmen einer 38-Stunden-Woche. Während der Ausbildung bezog die Kl gemäß der Praktikumsvereinbarung ein Stipendium von € 200,- monatlich, zwölfmal im Jahr. Außerdem bezog sie vom AMS Arbeitslosengeld in der Höhe von € 13,94 täglich, sowie eine Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes in der Höhe von € 10,45 täglich. Insgesamt erhielt sie während der der Ausbildung monatlich € 731,70 vom AMS.

Mit Bescheid vom 21.3.2018 lehnte die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) den Antrag der Kl vom 13.9.2017 auf Weitergewährung der Waisenpension ab.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht wies die auf Zuspruch der Waisenpension gerichtete Klage ab. Die Selbsterhaltungsfähigkeit der Kl sei gegeben, da ein den Ausgleichszulagenrichtsatz (2018: € 909,42) übersteigendes monatliches Nettoeinkommen von € 931,40 bezogen werde.

Das Berufungsgericht gab der von der Kl erhobenen Berufung nicht Folge. Das monatlich ausbezahlte Stipendium sei als ein im Rahmen der Ausbildung erzieltes Nettoeinkommen zu berücksichtigen. Es mache keinen Unterschied, ob die wegen der überwiegenden Inanspruchnahme durch eine Berufsausbildung notwendige Bedürfnisdeckung durch öffentliche Mittel (AMS) oder durch eigene Mittel des Ausbildungsbetriebes (Stipendium) erfolge. Nicht nur Entgelt im sozialversicherungsrechtlichen Sinne sei ein die Selbsterhaltungsfähigkeit sicherndes Einkommen. Die Revision sei zulässig.

Der OGH hielt die Revision der Kl für zulässig, aber nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1.1 Gemäß § 252 Abs 2 Z 1 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange sich das Kind in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres.

[…] 1.4 Wenn sich das Kind in einer ‚hauptberuflichen‘ Ausbildung befindet, wird seine Arbeitskraft dadurch so in Anspruch genommen, dass ihm daneben eine die Selbsterhaltungsfähigkeit garantierende Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden kann. Übt das Kind dennoch eine solche aus, steht ihm die Waisenpension zu (RIS-Justiz RS0085139). Neben der Ausbildung erzielte, zur Selbsterhaltungsfähigkeit führende Einkünfte schaden dem Anspruch auf Waisenpension somit nicht.

2.1 Einkommen, die aus der Ausbildungstätigkeit selbst stammen, lassen die Kindeseigenschaft (§ 252 Abs 2 Z 1 ASVG) nur dann weiter bestehen, wenn im Rahmen der Ausbildung kein oder nur ein geringes, die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht sicherndes Entgelt bezogen wird (RIS-Justiz RS0085125; 10 ObS 67/18p).

[…] 2.3 Die Klägerin lehnt die Einbeziehung des Stipendiums ab, weil […] kein eine Pflichtversicherung begründendes Entgelt aus einem Dienstverhältnis285darstelle, weil nicht 14-mal ausgezahlt werde und weil der Charakter eines Ausbildungszuschusses und nicht eines Einkommensersatzes im Vordergrund stehe. Ihre Argumentation überzeugt nicht:

2.4 Die Waisenpension soll den Lebensunterhalt einer Waise nach dem Tod des bisher Unterhalt Leistenden an dessen Stelle sichern und eine entsprechende Schul- oder Berufsausbildung gewährleisten. […] Die Waisenpension soll erst dann zur Sicherung des Lebensunterhalts herangezogen werden, wenn und solange während einer Ausbildung die Bedürfnisse nicht schon anderwärtig, wie beispielsweise durch ein aus den Mitteln des AMS finanziertes Stipendium oder einen Ausbildungsbeitrag angemessen gedeckt werden (10 ObS 67/18w mwN). Es kommt also ausschließlich darauf an, ob die Waise Einkünfte – entweder vom Ausbildungsbetrieb selbst (zB Lehrlingsentschädigung) oder aus öffentlichen Mitteln (Arbeitslosengeld, Arbeitskräftestipendium) – deshalb erzielt, weil sie eine bestimmte Ausbildung absolviert.

2.5 […] Es macht keinen Unterschied, ob ein Stipendium vom Vertragspartner der im Rahmen eines Praktikums auszubildenden Waise oder aus öffentlichen Mitteln vom AMS gezahlt wird. […] Im Vordergrund steht die Möglichkeit, den Lebensunterhalt mit aus der Ausbildung selbst erzielten Einkünften zu bestreiten. Deshalb ist auch irrelevant, ob die Einkünfte aus einem Dienstverhältnis stammen und eine Pflichtversicherung begründen.

3. Ergebnis: Bei der Beurteilung der Kindeseigenschaft im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG sind sämtliche mit der Ausbildungstätigkeit selbst im Zusammenhang stehende Einkünfte der Waise zu berücksichtigen (hier: aufgrund eines Praktikumsvertrags mit einer Stiftung von dieser gewährtes Stipendium zuzüglich der Leistungen des AMS während der Ausbildung). […]“

ERLÄUTERUNG

Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch auf Waisenpension und vorgelagert die Frage, ob die Kindeseigenschaft der Kl iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG über das 18. Lebensjahr hinaus fortbesteht. Gem § 252 Abs 2 Z 1 ASVG besteht die Kindeseigenschaft nach Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange sich das Kind in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres (OGH 13.9.2018, 10 ObS 67/18b mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 88).

Neben einer „hauptberuflichen“ Ausbildung erzielte Einkünfte schaden dem Anspruch auf Waisenpension nicht (RIS-Justiz RS0085139). Entscheidend ist nach der Judikatur, ob die Arbeitskraft der Waise überwiegend durch die Ausbildung beansprucht wird. Als Faustregel wurde in der Praxis angenommen, dass eine einschließlich der Fahrt zum und vom Schul- und Ausbildungsort unter Aufarbeitung des Lehrstoffes mindestens 20 Wochenstunden umfassende Schulausbildung ausreicht, um das Tatbestandsmerkmal der überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft zu erfüllen.

Einkommen, die aus der Ausbildungstätigkeit selbst stammen, lassen die Kindeseigenschaft (§ 252 Abs 2 Z 1 ASVG) und damit den Anspruch auf Waisenpension dagegen nur dann weiter bestehen, wenn daraus kein oder nur ein geringes Entgelt bezogen wird. Ein aus der Ausbildungstätigkeit erzieltes Erwerbseinkommen, das die Selbsterhaltungsfähigkeit sichert, beseitigt jedoch die Kindeseigenschaft. Dabei sieht die Judikatur die Selbsterhaltungsfähigkeit bei einem Einkommen über dem Ausgleichszulagenrichtsatz als gewährleistet an.

Die Kl bezieht ein Stipendium von € 200,- monatlich, das zwölfmal im Jahr ausgezahlt wird. Zusätzlich bezieht sie während der Ausbildung aus Mitteln des AMS Arbeitslosengeld von € 13,94 täglich sowie eine Beihilfe zur Deckung ihres Lebensunterhalts von € 10,45 täglich. Insgesamt erhält sie vom AMS monatlich € 731,70.

Die Kl lehnt die Einbeziehung des Stipendiums als „Einkünfte, die im Zusammenhang mit der Ausbildung“ stehen, mit der Argumentation ab, dass dieses kein eine Pflichtversicherung begründendes Entgelt aus einem Dienstverhältnis darstelle, weil es nur zwölfmal ausbezahlt werde und der Charakter eines Ausbildungszuschusses gegenüber dem eines Einkommensersatzes überwiege.

Der OGH folgte dieser Ansicht nicht. Es ist irrelevant, ob die Einkünfte aus einem Dienstverhältnis stammen und eine Pflichtversicherung begründen. Außerdem macht es keinen Unterschied, ob ein Stipendium oder Ausbildungsbeitrag im Rahmen eines Praktikums vom Vertragspartner oder aus öffentlichen Mitteln vom AMS gezahlt wird. Die Zielrichtung, dass während der Ausbildungstätigkeit ausreichende Einkünfte zur Verfügung stehen, um sich „hauptberuflich“ auf die Ausbildung konzentrieren zu können und nicht zusätzlich nebenbei einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen, kann auch durch eine Kombination beider Mittel erreicht werden. Dies hindert das Zustandekommen einer Selbsterhaltungsfähigkeit nicht.

Für die Frage des Bestehens der Kindeseigenschaft (§ 252 Abs 2 Z 1 ASVG) und damit des Anspruches auf Waisenpension sind daher sämtliche mit der Ausbildungstätigkeit selbst im Zusammenhang stehende Einkünfte der Waise zu berücksichtigen.286