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Keine Bindung des AMS an Gutachten der PVA zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bzw an durch Klageerhebung außer Kraft getretenen Bescheid der PVA

FRANJOMARKOVIC

Der Beschwerdeführerin, die an einer mentalen Retardierung leidet, wurde mit ärztlichem Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) vom 11.8.2017 (erstellt von einem Facharzt für Unfallchirurgie) attestiert, dass bei ihr aus allgemeinmedizinischer Sicht Erwerbsunfähigkeit vorliege; im selben Gutachten wurde ausgeführt, aus nervenfachärztlicher Sicht sei sie in der Lage, körperlich mittelschwere, geistig einfache überschaubare Tätigkeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck mit den üblichen Arbeitspausen ganztags durchzuführen. Darauf aufbauend wurde mit chefärztlicher Stellungnahme gem § 8 AlVG vom 30.8.2017 festgehalten, dass das Gesamtleistungskalkül der Beschwerdeführerin für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorübergehend mehr als sechs Monate nicht ausreiche; Invalidität bestehe auf Dauer; die Invalidität sei bereits vor Eintritt in das Erwerbsleben eingetreten.

Auf Grundlage dieses Gutachtens lehnte die PVA mit Bescheid vom 26.9.2017 den von der Beschwerdeführerin gestellten Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension ab; das Vorliegen originärer Invalidität zum Zeitpunkt der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung wurde anerkannt; die Beschwerdeführerin habe allerdings bis zum Stichtag nicht die (gem § 255 Abs 7 ASVG) erforderliche Mindestanzahl von 120 Beitragsmonaten erworben.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Klage. Im Zuge dieses Verfahrens wurde seitens des ASG das Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie eingeholt. Dieser gelangte in seinem Gutachten vom 28.5.2018 zum Ergebnis, das Leistungskalkül der Beschwerdeführerin erlaube Arbeiten unter einfachem sowie336 durchschnittlichem Zeitdruck und es würden auch keine sonstigen relevanten körperlichen Einschränkungen bestehen; dieses Leistungskalkül habe bereits beim Eintritt in das Erwerbsleben bestanden, wobei aber durch kognitives Training eine Besserung des Leistungskalküls möglich sei. Daraufhin zog die Beschwerdeführerin ihre Klage gegen den Bescheid der PVA zurück.

In einer Anfragebeantwortung vom 21.9.2019 teilte die PVA dem Arbeitsmarktservice (AMS) mit, dass kein neuer Antrag gestellt und auch kein neuer Bescheid erlassen wurde. Damit sei die Frage der originären Invalidität weiterhin ungeklärt. Jedoch würde die PVA im Falle einer neuerlichen Antragstellung unabhängig des Sachverständigengutachtens weiterhin die Ansicht vertreten, dass originäre Invalidität besteht.

Mit Bescheid vom 19.11.2018 wurde die Notstandshilfe der Beschwerdeführerin mangels Arbeitsfähigkeit ab dem 16.11.2018 eingestellt. Begründend wurde ausgeführt, laut Bescheid der PVA bestehe originäre Invalidität.

Im Beschwerdeverfahren brachte die Beschwerdeführerin vor, das AMS stütze sich zur Begründung seiner Entscheidung auf jenen Bescheid der PVA vom 26.9.2007, der jedoch aufgrund der Erhebung der Klage beim ASG am 31.10.2017 gem § 71 Abs 1 ASGG außer Kraft getreten sei. Im gerichtlichen Verfahren sei durch ein Sachverständigengutachten festgestellt worden, dass keine Invalidität vorliege, weshalb das Verfahren mit Klagszurückziehung endete. Durch Zurückziehung der Klage trete der durch Klage außer Kraft getretene Bescheid nicht wieder in Kraft; dies normiere § 72 Z 1 ASGG ausdrücklich. Ein neuer Bescheid sei nicht erlassen worden und somit gebe es keine Grundlage für die Einstellung der Notstandshilfe. Habe das AMS dennoch Zweifel an der Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin, so müsse es eine Überprüfung gem § 8 Abs 2 AlVG durchführen.

Das AMS ließ keine weitere Untersuchung iSd § 8 Abs 2 AlVG durchführen. Es argumentierte in rechtlicher Hinsicht sinngemäß, es sei an das Gutachten der PVA vom 11.8.2017 (bzw die chefärztliche Stellungnahme vom 30.8.2017) gebunden und ging folglich auch nicht weiter auf das vom ASG eingeholte psychiatrisch-neurologische Gutachten ein. Mit Beschwerdevorentscheidung wurde die Beschwerde abgewiesen.

Diese Rechtsansicht ist nach Ansicht des BVwG unzutreffend: Dass die Gutachten der ÄrztInnen der PVA für das AMS „bindend“ seien, lässt sich dem Gesetzeswortlaut des § 8 AlVG nicht entnehmen und kann schon wegen der fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Gutachten auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht angenommen werden (vgl VwGH 31.7.2018, Ra 2017/08/0129, mit weiteren Judikaturhinweisen). § 8 Abs 3 AlVG, wonach das AMS Gutachten des Kompetenzzentrums Begutachtung der PVA zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit „anzuerkennen und seiner weiteren Tätigkeit zugrunde zu legen“ hat, enthebt die Behörde nicht von ihrer Verpflichtung, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Eine Bindung des AMS ohne jeglichen Spielraum besteht nur im Hinblick auf Bescheide der PVA, wobei im gegenständlichen Fall – nach Klagserhebung durch die Beschwerdeführerin – ein solcher nicht (mehr) vorliegt. Zwar ist bei Vorliegen eines Gutachtens der PVA der Entscheidungsspielraum des AMS deutlich eingeschränkt, letztlich bleibt aber das Prinzip der freien Beweiswürdigung unangetastet. Vor diesem Hintergrund durfte sich das AMS nicht bloß mit einem Verweis auf das Gutachten der PVA vom 11.8.2017 begnügen, sondern wäre verhalten gewesen, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, was konkret eine Auseinandersetzung mit dem psychiatrisch-neurologischen Gutachten vom 28.5.2018 erfordert hätte.

Nach Prüfung der beiden Gutachten kommt das BVwG zum Ergebnis, dass das gerichtliche Sachverständigengutachten ausführlich begründet, widerspruchsfrei sowie schlüssig und nachvollziehbar ist. Demgegenüber steht ein vergleichsweise knappes Gutachten der PVA, das zudem von einem fachfremden Facharzt erstellt wurde und im Hinblick auf die Bewertung der Arbeitsfähigkeit auch in sich widersprüchlich ist. Dem Schreiben der PVA vom 21.9.2019 kommt nach Ansicht des Gerichtes kein Beweiswert zu. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung kommt das Gericht somit zum Schluss, dass bei der Beschwerdeführerin Arbeitsfähigkeit iSd § 8 Abs 1 AlVG vorliegt. Der Beschwerde war daher stattzugeben.