201Beurteilung des Pflegebedarfs in einem Verfahren wegen Herabsetzung
Beurteilung des Pflegebedarfs in einem Verfahren wegen Herabsetzung
Bei der funktionsbezogenen Einstufung und der diagnosebezogenen Mindesteinstufung handelt es sich lediglich um zwei unterschiedliche Einstufungsvarianten, nach denen der allein den Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens bildende Anspruch auf Pflegegeld entsprechend den Voraussetzungen des § 4 Bundespflegegeldgesetz (BPGG) zu beurteilen ist.
Auch wenn sich der funktionsbezogen ermittelte Pflegebedarf in rechtlich relevantem Ausmaß iSd § 9 Abs 4 BPGG verbessert hat, ist eine unabhängig davon vorliegende diagnosebezogene Mindesteinstufung iSd § 4a BPGG für die Beurteilung der Frage, ob eine wesentliche Veränderung iSd § 9 Abs 4 BPGG eintritt, zu beachten.
Der Kl bezog (aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs) seit 1.7.2013 Pflegegeld der Stufe 2. Nach einer Herabsetzung auf Stufe 1 durch die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) wurde – wieder nach einem gerichtlichen Vergleich – ab 1.1.2017 bei einem funktionsbezogenen Pflegebedarf von 99 Stunden die Stufe 2 gewährt. Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 22.3.2018 wurde das Pflegegeld (neuerlich) ab 1.5.2018 auf Stufe 1 herabgesetzt.
Der Kl erhob Klage gegen diesen Bescheid, die Bekl brachte dagegen vor, der Pflegebedarf habe sich auf 84 Stunden verringert. Das Erstgericht sprach aus, dass nur die Stufe 1 gebühre, weil sich345 der funktionsbezogene Pflegebedarf verringert habe. Der Kl leide laut Sachverständigengutachten an einem Zustand nach Oberschenkelamputation links und einem Ausfall des rechten Beins, weshalb der Zustand einer beidseitigen Vollamputation gleichkomme und bei einer analogen Anwendung von § 4a BPGG eine diagnosebezogene Einstufung in Stufe 3 in Frage kommt. Diese könne aber infolge der sukzessiven Kompetenz nicht zuerkannt werden, weil die Bekl nur funktionsbezogen eingestuft habe und Verfahrensgegenstand nur die Herabsetzung von Stufe 2 auf Stufe 1 sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge, weil gar nicht feststehe, ob der Pflegebedarf der Stufe 3 überhaupt mehr als sechs Monate andauern werde.
Auf Grund eines in der Zwischenzeit gestellten Verschlechterungsantrags war dem Kl (in einem weiteren gerichtlichen Vergleich) ab 1.8.2019 Pflegegeld der Stufe 3 zuerkannt worden, weshalb im vorliegenden Verfahren nur mehr über den Zeitraum von 1.5. bis 31.7.2018 zu entscheiden war.
Der OGH gab der außerordentlichen Revision des Kl Folge und sprach für diesen Zeitraum Pflegegeld der Stufe 2 zu.
„1.1 Es trifft zwar zu, dass nach § 4 Abs 1 BPGG beim Pflegebedürftigen ein ständiger Pflegebedarf für voraussichtlich mindestens sechs Monate gegeben sein muss. Dieses zeitliche Mindesterfordernis bezieht sich jedoch nur auf das Vorhandensein von Pflegebedarf in einem zumindest der Stufe 1 entsprechenden Ausmaß […]. Für höhere Einstufungen ist diese Mindestdauer nicht erforderlich. […]
1.2 Im vorliegenden Fall sind die Anspruchsvoraussetzungen der Stufe 1 beim Kläger unstrittig (weiterhin) mehr als sechs Monate gegeben. Darauf, dass eine höhere Einstufung begründende diagnosebezogene Mindesteinstufung ebenfalls voraussichtlich mindestens sechs Monate bestehen müsste, kommt es daher […] nicht an.
2.1 Der Versicherte darf in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG eine Klage nur erheben, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden hat. ‚Darüber‘ bedeutet, dass der Bescheid über den der betreffenden Leistungssache zugrundeliegenden Anspruch ergangen sein muss. Der mögliche Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist durch den Antrag, den Bescheid und das Klagebegehren dreifach eingegrenzt.
[…]
2.3 Gegenstand des Verfahrens vor der Beklagten und deren Entscheidung war die Herabsetzung des ursprünglich in Höhe der Stufe 2 gewährten Anspruchs auf Pflegegeld auf die Stufe 1 ab 1.5.2018. Für die auf Weitergewährung des Pflegegelds in Höhe der Stufe 2 über den Ablauf des 30.4.2018 hinaus gerichtete Klage ist daher die Zulässigkeit des Rechtswegs eröffnet.
2.4 Daran ändert der Umstand, dass die diagnosebezogene Einstufung gemäß § 4a BPGG im Verfahren vor der Beklagten nicht beurteilt worden sein mag, nichts. § 4a BPGG regelt – anders als § 4 BPGG – nicht Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld, sondern sieht – entsprechend den in dieser Bestimmung genannten Diagnosen und Mindestaltersgrenzen – lediglich bestimmte Mindesteinstufungen entsprechend den in § 4 BPGG geregelten Pflegegeldstufen vor. […]
2.5 Bei der funktionsbezogenen Einstufung und der diagnosebezogenen Mindesteinstufung handelt es sich daher lediglich um zwei unterschiedliche Einstufungsvarianten, nach denen der allein den Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens bildende Anspruch auf Pflegegeld entsprechend den Voraussetzungen des § 4 BPGG zu beurteilen ist. § 4a BPGG schafft keine (neue) Anspruchsgrundlage neben § 4 BPGG, sondern verweist zur nach dieser Bestimmung vorzunehmenden Mindesteinstufung auf die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 4 Abs 2 BPGG, nämlich die dort geregelten Pflegegeldstufen. […]
2.6 Zwischenergebnis: Ist der Rechtsweg für ein Klagebegehren auf Zuerkennung von Pflegegeld unter Beachtung des Antrags, des Bescheids des Versicherungsträgers und des Klagebegehrens zulässig, so hat innerhalb der dadurch gezogenen Grenzen der Rechtswegzulässigkeit die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen im gerichtlichen Verfahren auch dann unter allfälliger Berücksichtigung einer diagnosebezogenen Einstufung zu erfolgen, wenn eine solche nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger war.
3.1 Es ist im vorliegenden Fall […] nicht strittig, dass die beim Kläger vorliegende Diagnose ihrem Inhalt und ihren Auswirkungen nach mit einer beidseitigen Beinamputation im Sinn des § 4a Abs 1 BPGG gleichzusetzen ist, sodass diese Bestimmung analog anzuwenden ist […]. Ebenso wenig strittig ist […], dass die sich aus der analogen Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG ergebende Mindesteinstufung in Höhe der Stufe 3 im vorliegenden Fall nicht möglich ist, weil die beklagte Partei nur über eine Herabsetzung des Pflegegelds von der Stufe 2 auf die Stufe 1 ab dem 1.5.2018 entschieden hat, sodass für die Zuerkennung eines höheren Pflegegelds als jenem der Stufe 2 der Rechtsweg nach den vorher dargestellten Grundsätzen nicht zulässig ist. […]
3.2 […] Funktionsbezogen wäre der Kläger ab 1.5.2018 in der Stufe 1 einzustufen, weil ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 95 Stunden monatlich, wie er von § 4 Abs 2 Stufe 2 BPGG verlangt wird, nicht besteht. Dessen ungeachtet ist der Kläger diagnosebezogen infolge analoger Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG nach Stufe 3 einzustufen. Schon nach dem Wortlaut von § 4a Abs 1 BPGG ist daher eine Herabsetzung des Pflegegelds nicht gerechtfertigt: Denn bei Vorliegen der Voraussetzungen346 des § 4a Abs 1 BPGG (hier in analoger Anwendung) ist ‚mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen‘, daher ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden pro Monat (§ 4 Abs 2 Stufe 3 BPGG). Es fehlt daher an einer wesentlichen Änderung des Pflegebedarfs im Sinn dessen Herabsinkens unter die bisher gewährte Stufe.
3.3 Dieses Ergebnis ist auch zur Vermeidung von sonst unüberbrückbaren Wertungswidersprüchen erforderlich: Hätte etwa ein Pflegebedürftiger vor einer Herabsetzung Pflegegeld der Stufe 3 oder einer höheren Stufe gemäß § 4 Abs 2 BPGG bezogen und wäre er funktionsbezogen nach einer Besserung seines Zustands nur mehr in Stufe 1 (oder 2) einzustufen, so könnte er in einer vergleichbaren Situation wie jener des Klägers weiterhin in analoger Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG zumindest Pflegegeld der Stufe 3 beziehen, weil diesfalls der Rechtsweg zulässig wäre. […]
3.4 Dem steht auch nicht der Umstand entgegen, dass dem Kläger vor der Herabsetzung nur Pflegegeld der Stufe 2 gewährt wurde, während die Mindesteinstufung analog zu § 4a Abs 1 BPGG nach der – hier gar nicht im Verfahren zu behandelnden – Stufe 3 zu erfolgen hätte. Der Oberste Gerichtshof hat erst jüngst zu den Übergangsbestimmungen der §§ 48b und 48f BPGG entschieden, dass ein vor einer gesetzlichen Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen erworbener Pflegegeldanspruch auch als geschützter Teil eines allenfalls höheren Anspruchs erhalten bleibt. Denn die §§ 48b und 48f BPGG zielen nur auf eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs ab. Ihr Anwendungsbereich ist jedoch nicht am Bezug einzelner Pflegegeldstufen festzumachen, sodass sich ihre Schutzwirkung nicht nur auf die Pflegegeldstufen 1 und 2 bezieht (10 ObS 85/18z mwH). Diese Wertungen lassen sich auf den vorliegenden Fall übertragen. […]
3.5 Letztlich ergibt sich das hier erzielte Ergebnis vor allem aus dem in § 1 BPGG normierten Zweck des Pflegegelds, in Form eines Beitrags pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten […] und pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern […]. § 1 BPGG ist nicht nur als programmatische Erklärung zu verstehen, sondern bildet gegebenenfalls auch eine – vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgegebene – Leitlinie für die Anwendung des BPGG. Daraus folgt insbesondere, dass im Zweifelsfall, das heißt bei sonstiger „Gleichwertigkeit“, grundsätzlich jener Interpretation der Vorzug gegeben werden muss, die dem Zweck des Pflegegelds am ehesten gerecht wird […].
3.6 Ergebnis: In einem Verfahren über die Neubemessung von Pflegegeld durch Herabsetzung ist auch dann, wenn sich der funktionsbezogen ermittelte Pflegebedarf in rechtlich relevantem Ausmaß im Sinn des § 9 Abs 4 BPGG verbessert hat, eine unabhängig davon vorliegende diagnosebezogene Mindesteinstufung im Sinn des § 4a BPGG für die Beurteilung der Frage, ob eine wesentliche Veränderung im Sinn des § 9 Abs 4 BPGG eintritt, zu beachten. […]“
Im vorliegenden Fall benötigte die endgültige Pflegegeldeinstufung des Kl vier Sozialgerichtsverfahren. Gegenstand des Verfahrens war die Herabsetzung von Pflegegeldstufe 2 auf Stufe 1 wegen einer von der Bekl festgestellten Besserung des Pflegebedarfs. Eine Neubemessung des Pflegegeldes ist gem § 9 Abs 4 BPGG zulässig, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt. Nach stRsp muss neben einer Änderung des Gesundheitszustands auch eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs vorliegen.
In § 4 BPGG werden die Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld geregelt; der Pflegebedarf wird grundsätzlich funktionsbezogen ermittelt, dh es werden jene Betreuungs- und Hilfsverrichtungen ermittelt, für die Hilfe benötigt wird. Im vorliegenden Fall wurden anstelle 99 Stunden Pflegebedarf bei der Gewährung nur mehr 84 Stunden Pflegebedarf festgestellt. Neben der funktionsbezogenen Einstufung sieht das BPGG allerdings in § 4a auch sogenannte diagnosebezogene Mindesteinstufungen (zB für Rollstuhlfahrer auf Grund bestimmter Diagnosen wie Querschnittlähmung oder für blinde Personen) vor, bei denen bereits im Gesetz ein Mindestausmaß an Pflegebedarf angenommen wird. Nach der Rsp ist die Aufzählung der Diagnosen in § 4a Abs 1 BPGG analogiefähig.
Strittig vor dem OGH war nicht mehr, dass beim Kl aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen (Oberschenkelamputation des linken Beins und einer Funktionsunfähigkeit des rechten Beins aufgrund von Gefäßproblemen) § 4a BPGG analog anzuwenden ist, weshalb ein Pflegebedarf mindestens der Stufe 3 anzunehmen ist. Allerdings kann die Pflegegeldstufe 3 in diesem Verfahren nicht zugesprochen werden, weil Verfahrensgegenstand (nur) die Herabsetzung von Stufe 2 auf Stufe 1 war. Deshalb war auch der zwischenzeitig gestellte Verschlechterungsantrag erforderlich, um die Stufe 3 künftig gewähren zu können.
Im Verfahren betreffend die Herabsetzung wurde der (funktionsbezogen ermittelte) Pflegebedarf mit 84 Stunden festgestellt, was nach der geltenden Rechtslage nur mehr der Stufe 1 entsprechen würde.
Der OGH stellt nun klar: Die funktionsbezogene und die diagnosebezogene (Mindest-)Einstufungen sind nur zwei unterschiedliche Einstufungsvarianten, der Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens ist immer der Anspruch auf Pflegegeld. Wenn die Bekl im Verwaltungsverfahren – unrichtigerweise – nicht die diagnosebezogene Einstufung geprüft 347hat, ist deren Prüfung und Anwendung im Gerichtsverfahren trotzdem zulässig. Da bei der Mindesteinstufung in Stufe 3 ein Pflegebedarf „von mehr als 120 Stunden“ anzunehmen ist, liegt eine wesentliche Änderung des Pflegebedarfs nicht vor, weshalb die Herabsetzung unzulässig ist.
Bemerkenswert ist auch die Heranziehung des § 1 BPGG zur Interpretation durch den OGH. Der OGH versteht diesen nicht nur als programmatische Erklärung, sondern als Auslegungshilfe in Zweifelsfällen, um den pflegebedürftigen Personen so weit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern.