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Unionsrechtskonforme (einschränkende) Auslegung von § 27 Abs 4 KBGG

URSULAJANESCH

Die Kl lebt mit ihrer am 22.12.2014 geborenen Tochter in Österreich. Sie war von 2004 bis Mitte 2015 durchgehend geringfügig in Österreich beschäftigt und verdiente monatlich € 70,-. Der Vater des Kindes lebt in Italien und ist dort Vollzeit beschäftigt. Am 2.2.2015 stellte die Kl einen Antrag auf pauschales Kinderbetreuungsgeld der Variante 30+6. Die Gebietskrankenkasse (GKK) war der Ansicht, dass aufgrund des geringen Verdienstes keine Beschäftigung iSd Art 68 Abs 1 lit b sublit i der VO (EG) 883/2004 in Österreich vorliegen würde und bestimmte vorerst, dass Italien vorrangig und Österreich nur nachrangig leistungszuständig sei. Sie leitete die vorläufige Entscheidung gemeinsam mit dem Antrag der Kl gem Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 mittels Schreiben vom 9.12.2015 weiter. Innerhalb der in Art 60 Abs 3 der VO (EG) 987/2009 festgesetzten zweimonatigen Frist erfolgte keine Stellungnahme seitens des italienischen Entscheidungsträgers. Über den Antrag wurde in Italien zu keinem Zeitpunkt entschieden. Die GKK sah ebenfalls von der Erlassung eines Bescheids über eine etwaige zustehende Ausgleichszahlung unter Hinweis auf die mangelnde Entscheidungsreife gem § 27 Abs 4 KBGG ab.

Am 29.3.2017 brachte die Kl eine Säumnisklage ein, welche vom Erstgericht zurückgewiesen wurde. Die Frage, ob eine Beschäftigung gem Art 68 Abs 1 lit b sublit i der VO (EG) 883/2004 vorliegt und Österreich daher vorrangig für die Auszahlung des Kinderbetreuungsgeldes zuständig ist, sei nicht mehr zu prüfen. Die GKK habe ein Verfahren gem Art 60 Abs 3 der VO (EG) 987/2009 eingeleitet. Da Italien innerhalb der zweimonatigen Frist keine Stellungnahme abgegeben habe, sei es kraft Koordinierungsrechts prioritär für die Auszahlung von Familienleistungen zuständig geworden. Welche Art und in welcher Höhe eine italienische Leistung zustehe, sei nach wie vor offen. Die GKK sei daher richtigerweise davon ausgegangen, dass keine Entscheidungsreife gem § 27 Abs 4 KBGG vorliege.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung nicht zu.

Der OGH erklärte den außerordentlichen Revisionsrekurs für zulässig und berechtigt. Er hob die Entscheidungen der Vorinstanzen auf und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens auf. Zunächst schloss er sich den Vorinstanzen an, dass kraft Koordinierungsrechts Italien vorrangig zuständig zur Auszahlung von Familienleistungen geworden sei, bejahte aber das Vorliegen eines Säumnisfalles seitens der GKK.

§ 27 Abs 4 KBGG ist am 1.3.2017 in Kraft getreten und mangels Übergangsvorschriften auf den vorliegenden Fall anwendbar. Abweichend von § 67 Abs 1 Z 2 ASGG soll eine Säumnisklage gegenüber dem Krankenversicherungsträger nur zulässig sein, wenn Mitwirkungspflichten erfüllt und wesentliche Vorfragen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts abgeklärt wurden. Nach den Gesetzesmaterialien war Zweck der Bestimmung, den Krankenversicherungsträgern hohe Gerichtskosten im Falle mangelnder Spruchreife zu ersparen. Nach der Rechtsansicht des OGH ist die nach § 27 Abs 4 KBGG geforderte Entscheidungsreife allerdings unionsrechtskonform iSd Vorgaben des Art 68 Abs 3 lit a der VO (EG) 883/2004 und Art 7 der DurchführungsVO 987/2009 (EG)356 auszulegen. Mit der Entscheidung über die Gewährung eines etwaig zustehenden Unterschiedsbetrags kann nicht bis zur rechtskräftigen Erledigung des prioritär zuständigen Trägers abgewartet werden, da unionsrechtlich eine Verpflichtung zur vorschussweisen Auszahlung des Unterschiedsbetrages besteht. Gegebenenfalls wäre auch in Kauf zu nehmen gewesen, dass es zu Überzahlungen kommen kann, die später nach dem Verfahren nach Art 71–74 der DurchführungsVO auszugleichen wären. Die GKK hätte daher nach dem fruchtlosen Verstreichen der zweimonatigen Frist zur Stellungnahme seitens des italienischen Entscheidungsträgers innerhalb von sechs Monaten entweder über die vorläufige (Nicht-)Berechtigung einer Ausgleichszahlung einen Bescheid erlassen oder das Kinderbetreuungsgeld faktisch laut Antrag erbringen müssen.