EDITORIAL

DIE SCHRIFTLEITUNG

Am 26.2.2020 jährt sich zum 100. Mal der Beschluss der konstituierenden Nationalversammlung, also des damaligen österreichischen Parlaments, über das Arbeiterkammergesetz 1920.

Die Vorgeschichte beginnt rund 100 Jahre davor mit ersten Überlegungen zur Errichtung von Handelskammern, also von Organisationen, in denen sich Unternehmen auf gesetzlicher Grundlage zusammenschließen sollten. Ziel war einerseits die Beschaffung von Expertise – statistischen und anderen Informationen – als erstrebenswerte rationale Grundlage staatlicher Wirtschaftspolitik, andererseits aber auch ein früher Mitbestimmungsansatz iS einer über eine solche Institution vermittelten Möglichkeit, Anliegen der Kaufleute und Industriellen gegenüber der Krone zu artikulieren. Als es dann Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich zur Errichtung von Handelskammern kam, stand dieser Demokratisierungsaspekt im Vordergrund: Statt einer unmittelbaren Beteiligung des Bürgertums an den Staatsgeschäften durch Wahlen bot die Monarchie diesem unter dem Eindruck des Revolutionsjahrs 1848 die indirekte Einbindung in Form einer selbstverwalteten Einrichtung, die sich gegenüber den staatlichen Institutionen in wirtschaftlichen Fragen zu Wort melden durfte. Dieser in der Kammeridee steckende Mitbestimmungsgedanke war es, der das Interesse der aufkeimenden Arbeiterbewegung auf die Möglichkeit einer Arbeiterkammer (AK) lenkte. Zunächst nahm jedoch die nach der Revolution von 1848 einsetzende staatliche Repression der folgenden zwei Jahrzehnte der Arbeiterschaft jegliche Chance, solche Ansätze zu verwirklichen. Auch als die auf der Grundlage des Staatsgrundgesetzes 1867 entstandenen ersten Gewerkschafts- und Arbeitervereine vehement eine der Handelskammer vergleichbare Institution auf AN-Seite forderten, verweigerte ihnen die monarchische Regierung jegliche politische Mitbestimmung. Der Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts von Teilen des liberalen Bürgertums eingebrachte Vorschlag einer AK mit sehr beschränkten Gestaltungsmöglichkeiten wurde von der Gewerkschaftsbewegung als Beruhigungspille in ihrem Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht betrachtet und dementsprechend abgelehnt.

Mit der Durchsetzung des allgemeinen Männerwahlrechts 1907 (dem mit dem Untergang der Monarchie das Frauenwahlrecht folgte) schien zunächst die Notwendigkeit weggefallen, die AN über den Umweg einer Kammer in die Gestaltung staatlicher Politik einzubinden. Gegen Ende des ersten Weltkriegs besann man sich jedoch der zusätzlichen Vorzüge solcher selbstverwalteter Interessenvertretungen: einerseits der Möglichkeit, die Interessen der Arbeitnehmerschaft – auf Basis eines internen Interessensausgleichs – gebündelt und mit Expertise ausgestattet gegenüber der staatlichen Verwaltung und Gesetzgebung zu artikulieren, andererseits aber auch – und hier kündigt sich schon der Gedanke der späteren Sozialpartnerschaft an – der Schaffung eines gleichwertigen Gegengewichts zur Kammer der Unternehmer und damit der Chance auf ein Zusammenwirken beider Seiten zum Nutzen von Staat und Gesellschaft.

Dass diese Vorstellungen und der hier kurz angerissene 100-jährige historische Prozess letztlich tatsächlich in der Errichtung von Arbeiterkammern kulminierten, ist – fast – eine österreichische Spezialität, denn ansonsten entstanden Arbeiterkammern lediglich im kleinen Luxemburg und in den beiden kleinsten deutschen Bundesländern (Bremen und Saarland). Gerade im internationalen Vergleich und gerade aus heutiger Sicht darf diese österreichische Sonderentwicklung aber als Glücksfall bezeichnet werden, denn beide soeben angesprochenen Vorstellungen haben sich in hohem Ausmaß realisiert: Die Idee, den Gewerkschaften und der Arbeitnehmerschaft eine kräftige einheitliche Stimme gegenüber der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung auf der Grundlage demokratischer Wahlen und einer selbst aufgebrachten Finanzierung zu geben, hat sich im starken arbeitsrechtlichen und sozialstaatlichen Schutz sowie in der Einflussnahme der Arbeitnehmerschaft auf viele weitere Gebiete, die aus AN-Sicht wichtig sind (Regulierung des Arbeitsmarktes, Konsumentenschutz, Wohnbau, öffentliche Infrastruktur usw), niedergeschlagen. Dass es auch der Gesamtwirtschaft und dem Gemeinwesen gut tut, wenn Unternehmen auf der einen Seite und AN auf der anderen Seite in demokratisch organisierten gesetzlichen Interessenvertretungen auf Augenhöhe mitgestalten, zeigt sich an der hohen Attraktivität Österreichs als Wirtschaftsstandort und eindrucksvoller Performance der österreichischen Volkswirtschaft. Nur ein beispielhafter Zahlenbeleg dafür: Nach dem Sonderfall Luxemburg (quasi ein Finanzzentrum mit Umland) hat Österreich den zweithöchsten materiellen Lebensstandard (kaufkraftbereinigtes Pro-Kopf-Einkommen im Medianhaushalt) der Europäischen Union. Dass sich die AK in ihrer 100-jährigen Geschichte nicht nur für Österreichs AN, sondern für das ganze Land als Erfolgsmodell – gerade auch auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und des Sozialrechts – erwiesen hat, ist an sich genug Grund dafür, dem Jubiläum „100 Jahre AK“ mit dieser Ausgabe ein Schwerpunktheft von „Das Recht der Arbeit“ zu widmen. Dazu kommt noch, dass es „DRdA“ ohne diese 100-jährige Geschichte gar nicht gäbe: Die Jubilarin ist bekanntlich – in ihrer bundesweiten Ausprägung als Bundesarbeitskammer – Herausgeberin unserer Zeitschrift.3