SchillerLohnpolitik in Österreich – Zur Relevanz der produktivitätsorientierten und solidarischen Lohnpolitik

Verlag des ÖGB, Wien 2018, 306 Seiten, kartoniert, € 29,90

WALTERSCHERRER (SALZBURG)

Die prozentuelle Steigerung der Nominallöhne sollte der Summe aus Inflationsrate plus Produktivitätsanstieg entsprechen – „Benya-Formel“ nannte man diese Leitlinie der österreichischen Lohnpolitik in den 1970er-Jahren. Ziel dieser „produktivitätsorientierten“ Lohnpolitik war es, die Verteilung der Einkommen auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital im Zeitablauf stabil zu halten. Gleichzeitig stützte die an die Produktivitätsentwicklung angepasste Lohnentwicklung die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und war somit Bestandteil einer am Ziel der Vollbeschäftigung orientierten Wirtschaftspolitik. Der aus gewerkschaftlicher Sicht „solidarische“ Aspekt dieser Lohnpolitik bestand darin, dass sich die Lohnverhandlungen an der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung orientierten und nicht an der Branchenentwicklung. Die Sozialpartnerschaft, die in der Nachkriegszeit entstanden war, bot den Rahmen, um diese Lohnpolitik umzusetzen.

Warum diese einleitenden Sätze in einer Vergangenheitsform zu schreiben sind, wird durch die im Buch vorgenommene Analyse auf eindrucksvolle Art aufgezeigt. Die Relevanz der produktivitätsorientierten und solidarischen Lohnpolitik hat nicht zufällig abgenommen: Diese Tendenz ist vielmehr, wie Fritz Schiller in seiner zentralen Hypothese ausführt, auf den schrittweisen Machtverlust der österreichischen Gewerkschaften seit Mitte der 1970er-Jahre zurückzuführen. Wenig überraschend wirkte sich das aus Sicht der AN negativ auf die Ergebnisse der Kollektivvertragsverhandlungen aus

In der Arbeit wird zunächst der arbeitsmarkttheoretische Rahmen für die österreichische Lohnpolitik abgesteckt. Neoklassische Arbeitsmarktmodelle werden diskutiert und deren Bedeutung nicht zuletzt dadurch begründet, dass sich der aus ihnen entstandene arbeitsmarkttheoretische Mainstream von einem wissenschaftlichen Modellrahmen hin zu einem normativen Ansatz der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik entwickelt hat. Als für Österreich am besten passender Ansatz wird das „Right-to-manage“-Modell identifiziert: Gewerkschaften und Unternehmen vereinbaren einen Lohn, der tendenziell über dem Gleichgewichtslohn liegt, und die Unternehmen bestimmen die Höhe der Beschäftigung. Das Agieren von Gewerkschaften und Unternehmen im Lohnbildungsprozess wird dagegen durch ein an Klassenkonflikten orientiertes Modell am besten erfasst, das den „Klassenkompromiss“ als Strategie in den Vordergrund stellt. Das Konzept einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik wird schließlich sowohl aus einer keynesianischen Perspektive als auch aus einer neoklassischen Perspektive (hier wiederum unter Inkaufnahme zahlreicher einschränkender Annahmen) begründet.

Ein umfangreiches Kapitel von mehr als 100 Seiten ist den institutionellen Rahmenbedingungen und den Institutionen der Lohnpolitik in Österreich gewidmet. Lohnverhandlungen können aus Gewerkschaftssicht entweder verteilungsorientiert sein und auf die Angleichung des Lohnniveaus (zB über Branchen hinweg) abzielen. Oder sie sind moderierungsorientiert und nehmen vorrangig auf gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen Rücksicht, was in einer kleinen offenen Volkswirtschaft wie Österreich von besonderer Bedeutung ist. Der Zentralisierungs- und Koordinationsgrad von Lohnverhandlungen war in Österreich lange Zeit sehr hoch, seit den 1990er-Jahren dominiert aber ein System der Lohnführerschaft. Diese wurde immer deutlicher von der Metallindustrie wahrgenommen, die als Folge der verstärkten internationalen Integration der österreichischen Wirtschaft einem steigenden Wettbewerbsdruck ausgesetzt war. Mit der Übernahme der Lohnführerrolle wollte die Metallindustrie verhindern, dass „geschützte“ Branchen, die keinem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, mit hohen Lohnabschlüssen vorpreschen und damit auch die Lohnforderungen in der Metallindustrie befeuern, wodurch wiederum deren Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt würde.

In einem weiteren Kapitel wird die Lohnentwicklung in Österreich dargestellt. Bei den einzelnen Fragestellungen (Ist-Löhne versus Tariflöhne, Löhne nach Geschlecht, nach sozialer Stellung) werden unterschiedliche Jahre bzw Zeiträume beobachtet, was die Einordnung der Aussagen nicht immer leicht macht. Als wichtigste Einflussgröße auf das Lohnwachstum wird die Inflationsrate angeführt, während ein Zusammenhang zwischen Lohnwachstum und Produktivität nur in wenigen Arbeiten empirisch nachgewiesen wird. Eigene ökonometrische Analysen des Autors (die im Buch nicht detailliert ausgeführt sind) lassen jedenfalls keine eindeutigen empirischen Aussagen über den Einfluss anderer möglicher Faktoren als der Inflationsrate zu. Da dies auch bei der Produktivität der Fall ist, kann ein empirischer Nachweis für eine Produktivitätsorientierung der österreichischen Lohnpolitik nicht erbracht werden.

Auch im Kapitel über die „Verteilungsbilanz“ wird gezeigt, dass die Lohnpolitik in Österreich die Anforderungen einer produktivitätsorientierten Politik nicht erreicht hat. Die produktivitätsorientierte solidarische Lohnpolitik war zwar lange Jahre die allgemein akzeptierte Lohnleitlinie der österreichischen Gewerkschaften. Anfang der 1980er-Jahre setzte eine Wende in der Lohnpolitik ein, und es „erodierte die Orientierung an dieser Lohnleitlinie schrittweise. Die ehemals entscheidenden Institutionen der Sozialpartnerschaft sind in der Lohnpolitik (!) irrelevant geworden“ (S 193). Die Internationalisierung der österreichischen Wirtschaft und die daraus abgeleitete stärkere Wettbewerbsorientierung der Lohnpolitik stärkte die Unternehmerseite: die Drohung mit Arbeitsplatzverlagerung in das nahe und billigere Ausland erwies sich als „starkes Argument“. Entsprechend verschlechterte sich die Machtposition der Gewerkschaften, was sich in einem dramatischen Rückgang der Mitgliederzahlen und des gewerkschaftlichen Organisationsgrades niederschlug.

Das Buch liefert eine ausgezeichnete Analyse und kann jedem an der Thematik Interessierten zur Lektüre empfohlen werden. Der Text ist weitgehend frei von formalen Hürden und somit für einen breiten LeserInnenkreis geeignet, wirtschaftspolitische und gesellschaftliche 76 Zusammenhänge werden in den Vordergrund gestellt. Die produktivitätsorientierte solidarische Lohnpolitik wird, wie Schiller auf S 192 schreibt, „auf Gewerkschaftskongressen und von wenigen Intellektuellen vor allem aus der Arbeiterkammer hochgehalten. Führenden RepräsentantInnen einzelner Gewerkschaften dürfte sie jedoch nicht mehr als eine historische Reminiszenz bedeuten“. Nunmehr stünden Brancheninteressen im Vordergrund; eine gesamtwirtschaftliche Orientierung der österreichischen Gewerkschaften sei bei der Lohnpolitik nicht durchgehend feststellbar. Wenig optimistisch ist daher die Conclusio des Autors: Für die Gesellschaft kann es sich rächen, wenn das (Wieder-)Herstellen einer stabilen Verteilungssituation aus dem Fokus gerät, denn es können massive soziale Probleme entstehen, die zu einer Zweiteilung der Gesellschaft führen.