Kiess/Seeliger (Hrsg)Zwischen Institutionalisierung und Abwehrkampf. Internationale Gewerkschaftspolitik im Prozess der europäischen Integration
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2018, 278 Seiten, kartoniert, € 34,95
Kiess/Seeliger (Hrsg)Zwischen Institutionalisierung und Abwehrkampf. Internationale Gewerkschaftspolitik im Prozess der europäischen Integration
Im Vergleich zur Binnenmarktdynamik, die nach wie vor die soziale und ökonomische Entwicklung in der EU dominiert, sind die sozialen Impulse im Unions-Regulationssystem bekanntlich äußerst bescheiden geblieben. Es besteht eine eklatante arbeits- und sozialpolitische „Politiklücke“. Auch deswegen haben Auswirkungen auf Entgelte, Arbeitsqualität und sozialen Status letztlich unerträgliche und politisch gefährliche (Rechtspopulismus, Gefährdung der notwendigen Vertiefung des Integrationsprojekts) Ausmaße angenommen. Die Irreversibilität des Integrationsprozesses zwingt Gewerkschaften und (ehemalige) AN-Parteien dazu, den Integrationsprozess mehr als bisher zu beeinflussen. Das ist das große Thema des vorliegenden Sammelbandes.
Die AutorInnen gehen davon aus, dass die europäische Integration die Gewerkschaften vor große Herausforderungen stellt. Kernthese ist, dass die Schaffung eines gemeinsamen Marktes übereinstimmende politische Positionen immer notwendiger werden lässt, andererseits aber deren Etablierung durch die zunehmende politökonomische Heterogenität der Europäischen Union erschwert wird.
Der Sammelband beleuchtet diese Problematik in Fallstudien aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Perspektiven und will die erfolgreichen und weniger erfolgreichen Strategien gewerkschaftlicher AkteurInnen aufzeigen. Es wird die Frage aufgeworfen, ob Gewerkschaften dazu in der Lage sind, als Agentinnen einer sozialen Integration auf der europäischen Ebene aufzutreten und ob dies in ihrem Interesse ist oder sein sollte. Als Ausgangsthese wird formuliert, dass sich die handlungspraktische Herausforderung der europäischen Integration für die Gewerkschaften aus der Heterogenität der Mitgliedstaaten und aus der Leitdifferenz zwischen national und europäisch ergibt. Dieser Grundannahme folgend werden in den empirischen Beiträgen die erfolgreichen bzw die weniger erfolgreichen Strategien gewerkschaftlicher AkteurInnen in einschlägigen Themenfeldern untersucht.
So analysiert Martin Seeliger die Einbindung zentral- und osteuropäischer GewerkschafterInnen in die europäische Entscheidungsebene. Inhaltlich stehen dabei die Dienstleistungsfreiheit und die Diskussion um einen europäischen Mindestlohn im Vordergrund. Er stellt die Frage, ob zentral- und osteuropäische VertreterInnen „auf Augenhöhe“ an der Entwicklung gemeinsamer Positionen beteiligt wurden. Dazu werden drei Aspekte thematisiert: Der Begriff eines sozialen Europas, die Erforderlichkeit einer zwischen Europa-OptimistInnen und Europa-PessimistInnen vermittelnden Position und die Bedeutung von social skills für die praktische Auseinandersetzung von AkteurInnen in der europäischen Gewerkschaftspolitik.
Der Beitrag von Johannes Kiess stellt die Bedeutung von „Framing“ in den Mittelpunkt. Anhand von 78 ExpertInneninterviews und Pressemitteilungen wird gefragt, inwieweit sich das „Krisenframing“ des DGB (Deutschen Gewerkschaftsbundes), der IG Bau und der IG Metall unterscheiden. Die deutschen Gewerkschaften werden als eindeutig proeuropäisch gekennzeichnet, was aber durchaus auch als eigennützige Hilfe verstanden werden kann.
Die Europaarbeit der Gewerkschaft „ver.di“ wird von Nele Dittmar untersucht. Sie hält fest, dass die Unterscheidung zwischen national und europäisch in unterschiedlichen Bereichen sehr unterschiedlich gesehen wird. In einigen Bereichen würden die Ebenen Betrieb, Nation und Europa ineinander übergehen.
Stefanie Hürgen meint, für eine Perspektive emanzipatorischer Transformation würden Strategien der Institutionalisierung und Re-Regulierung nicht ausreichen. Benötigt würden auch die Ressourcen einer progressiven Europäischen Gewerkschaftspolitik. Es ginge weniger um die Frage, ob europäische Betriebsräte national oder europäisch denken und handeln, sondern ob sich politischer Gestaltungsspielraum hin zu einer „Industrial and Social Citizenship“ entwickeln lässt.
Im Beitrag von Anne Engelhard geht es um ein Fallbeispiel der selten genug zu beobachtenden europäischen Arbeitskämpfe, konkret um die Kämpfe von HafenarbeiterInnen gegen die europäischen „Port Packages“ und gegen Versuche, nach der gescheiterten Umsetzung dieses Projekts diese auf Umwegen (zB in Portugal) durchzusetzen. „Port Package“ ist eine Bezeichnung für ein in wesentlichen Teilen nicht umgesetztes Gesetzgebungspaket, bestehend ua aus einer EU-Richtlinie. Es ging dabei um eine Regelung über den Marktzugang zu Hafendiensten. Ziel war es, mehr Wettbewerb in und zwischen den europäischen Seehäfen zu ermöglichen. Die geplante Richtlinie wurde durch HafenarbeiterInnen und Gewerkschaften in ganz Europa heftig bekämpft. Der Beitrag liefert gut verwertbares Material für die Beantwortung der Frage nach Möglichkeiten und Grenzen internationaler Solidarität.
Thilo Fehmel und Norbert Fröhler widmen ihren Text der Erarbeitung von konflikttheoretischen Grundlagen bei der Untersuchung gewerkschaftlicher Politik, und zwar nicht nur bei Konflikten erster Ordnung (zB Tarifpolitik), sondern auch bei Auseinandersetzungen hinsichtlich der Ausgestaltung der Aushandlungsbedingungen industrieller Konflikte. In weiterer Folge wird gezeigt, dass die Konfliktlinien in Österreich und in Deutschland deutlich anders verlaufen. Die europäische Ebene habe kaum Einfluss auf die Konflikte, was die Heterogenitätsthese, die dem Sammelband als Leitmotiv zugrunde liegt, unterstreicht.
Die Bedeutung des Europäischen Sozialmodells (ESM) für die europäischen Gewerkschaften ist das Thema des Beitrags von Thomas Fetzer. Der Autor unterscheidet einen marktbeschränkenden bzw marktkorrigierenden Ansatz des ESM von einem sozialinvestiven, produktivitätsorientierten Ansatz. Die europäischen Gewerkschaften bekennen sich vor allem zur marktbeschränkenden Funktion des ESM. Die supranationale Ebene werde von den Gewerkschaften als „dienend“ definiert, auch weil eine solche Sichtweise als kleinster gemeinsamer Nenner leichter zu koordinieren sei als etwa supranationale sozialpolitische Aktionen. Das Dilemma ist für den Verfasser bei alledem, dass sich wegen der hohen wirtschaftlichen Interdependenzen des Weltmarkts die Verteidigung der nationalen Tarifautonomie nicht als ausreichend erweist, um das Europäische Sozialmodell zu verteidigen oder auszubauen.
Die europäische Zusammenarbeit der Gewerkschaften in der Metallindustrie wird von Yves Clairmont und Klaus Henning untersucht. Georg Vobruba plädiert im abschließenden Beitrag dafür, die Entwicklung der Institutionen (eine Domäne der Politikwissenschaft) und die Fokussierung auf Einstellungen und Handlungsdispositionen (als Hauptgegenstand soziologischer VertreterInnen der Europaforschung) nicht arbeitsteilig getrennt zu verfolgen.
Der vorliegende Band stellt sich einem zentralen Thema für die Arbeits- und Sozialpolitik in der EU. Die Lektüre ist sehr anspruchsvoll, die Themen sind weit gestreut und äußerst heterogen. Zu vermissen ist ein zusammenführendes, die Erkenntnisse der Einzelbeiträge auswertendes Resümee. Vor allem erstaunt, dass auf eine Kritik am sozialpolitischen Stillstand der europäischen Arbeitspolitik, der sich auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts, auf der Ebene der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und vor allem auch auf der Ebene der dringend erforderlichen „Zentralisierung“ der kollektiven Rechtsgestaltung bzw der Zusammenarbeit der Belegschaftsvertretungen verzichtet wird. Die im Titel genannten „Abwehrkämpfe“ sind nur durch ein Fallbeispiel vertreten. Die Heterogenitätsthese ist nicht unplausibel; es wird aber nicht die grundlegende Frage aufgeworfen, ob die Gewerkschaften im Zweifel eher dem nationalistischen Lager zuzurechnen sind und sich ihr europapolitisches Engagement letztlich in Phrasen erschöpft.
Für den Rezensenten war das Buch vor allem deswegen enttäuschend, weil sich die Selbstgespräche zwischen PolitologInnen und SoziologInnen nicht auf jenen sozio-ökonomischen Rahmen beziehen, der das ganze reale Geschehen letztlich reguliert. Etwas mehr „politische Ökonomie“ und Regulationstheorie hätte dem abgeholfen. Trotz dieses Mangels werden dem Leser viele Informationen und Anregungen zu den schwierigen Ausgangsbedingungen für ein soziales Europa geboten, das von den Gewerkschaften stärker mitgestaltet wird.