OlbrichDie Tariffähigkeit von Arbeitnehmervereinigungen

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2018, 294 Seiten, € 89,90

REINHARDRESCH (LINZ)

Die vorliegende Dissertation wurde an der Universität Heidelberg von Thomas Lobinger betreut, das Zweitgutachten erstellte Markus Stoffels. Im Fokus der Arbeit steht die Frage der Tariffähigkeit einer Gewerkschaft und damit zusammenhängend auch die Durchsetzungsstärke, vor allem ihre Möglichkeit, einen Streik zu organisieren. Was unter einer Gewerkschaft zu verstehen ist, wird gesetzlich nicht definiert. Ausgangspunkt ist die Problematik, dass die Anforderungen an eine tariffähige AN-Vertretung 79 durchaus unklar und umstritten sind. Ein zentraler Punkt ist dabei, ob eine tariffähige AN-Vereinigung sozial mächtig sein muss, was bedeutet, dass sie eine gewisse Durchsetzungsstärke gegenüber der AG-Seite aufweisen muss. Letzteres wird vom BAG postuliert und läuft aber darauf hinaus, dass kleinere Verbände ganz erheblich benachteiligt werden. Hier schließt sich der Bogen zum Streikrecht, zumal zumindest nach dem herkömmlichen Verständnis in Deutschland jede tariffähige AN-Vereinigung zur Durchsetzung eines Tarifvertrags auch streiken darf.

Hanna Olbrich nimmt eben diesen Automatismus in den Fokus ihrer Arbeit und löst ihn im Ergebnis auf. Das von ihr verfasste Werk analysiert Systemfragen des Ursprungs der Tarifautonomie und der Rolle des Arbeitskampfes für den tarifvertraglichen Einigungsprozess und untersucht die gängigen Anforderungen an eine tariffähige AN-Vereinigung.

Die Autorin gliedert ihre Arbeit in drei große Kapitel bzw Teile: Der erste Teil behandelt quasi als dogmatische Basis Ursprung und Funktion der Tarifautonomie, der zweite die Frage, inwieweit ein Zusammenhang zwischen Tariffähigkeit und Arbeitskampfberechtigung besteht und der dritte Teil arbeitet die Ergebnisse heraus, nämlich die Anforderungen an die Tariffähigkeit und Arbeitskampfberechtigung und das damit zusammenhängende Thema der gerichtlichen Feststellung.

Ein Eckpfeiler der Autorin ist die Feststellung, dass das Tarifvertragssystem dem AN die Möglichkeit bieten soll, das strukturelle Verhandlungsungleichgewicht auf der Arbeitsvertragsebene durch den Abschluss einer kollektiven Vereinbarung auszugleichen (S 117 ff). Gegen die vom BAG postulierte Mächtigkeitslehre wird deren mangelnde Justiziabilität ins Treffen geführt, wobei die Autorin die Argumente gegen die Mächtigkeitslehre aufarbeitet, in der Folge aber als nicht überzeugend verwirft (S 123 ff). Die Autorin arbeitet die Problematik zweigeteilt auf: Einerseits stellt sie heraus, dass grundsätzlich jede AN-Vereinigung unabhängig von ihrer Durchsetzungsstärke im engeren Sinne tariffähig ist. Durchaus nachvollziehbar führt sie ins Treffen, dass bis zu einem gewissen Grad die Konkurrenz auf dem Koalitionsmarkt dafür sorgt, dass eine Koalition, der es gerade nicht gelingt, selbstbestimmte Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder zu erreichen, bereits keine Mitglieder haben wird oder doch zumindest sich nicht dauerhaft halten kann (S 138 f).

Interessant sind nun die Wechselwirkungen zwischen Tariffähigkeit und Arbeitskampfrecht: Die Autorin zeigt auf, dass der Arbeitskampf indirekt wirkt, indem er die mögliche Partei eines Tarifvertrags an den Verhandlungstisch bewegt, da diese einen Arbeitskampf vermeiden möchte und aus diesem Grund das Verhandlungsangebot nicht übergehen kann. Nach Ansicht der Autorin ist ein Arbeitskampf aber nur dann rechtmäßig, wenn er seine Funktion erfüllen kann, durch Herstellung eines Verhandlungsgleichgewichts das tatsächliche freie Verhandeln zu ermöglichen. Erfüllt der Arbeitskampf diese Funktion nicht oder läuft ihr gar zuwider, ist er systemwidrig und vor allem legitimationslos und damit auch rechtswidrig (S 152 ff). Daher besitzen Vereinigungen nur dann Arbeitskampfberechtigung, wenn ein möglicher Arbeitskampf eine ausreichende Drohwirkung entfaltet.

Im Ergebnis entkoppelt die Autorin das Thema der Tariffähigkeit etwas von jenem der Arbeitskampfberechtigung.

Im dritten Teil analysiert die Autorin ausführlich die verschiedenen Elemente der Tariffähigkeit, womit eine gewisse Parallele zu § 4 Abs 2 ArbVG und der dortigen Diskussion zum österreichischen Recht erkennbar wird. Man könnte hier auf eine Vielzahl an Thesen und Argumenten der Autorin eingehen. Interessant ist etwa der Hinweis, dass es nach Ansicht der Autorin auch keinen sachlichen Grund gibt, die Fähigkeit zum Abschluss zwingend wirkender Kollektivarbeitsverträge von der Bereitschaft einer Vereinigung abhängig zu machen, allenfalls zur Durchsetzung auch zu streiken. Vielmehr sieht sie die Sache so, dass den AN die Freiheit zur willkürlichen Entscheidung zu belassen ist, wenn sie einer Vereinigung beitreten wollen, die die Interessen der Mitglieder auf anderem Weg als durch Arbeitskampf durchsetzen will (S 225 ff), wobei vermutlich bei näherer Betrachtung auch diese Form einer Interessendurchsetzung im weiteren Sinn als Arbeitskampf zu qualifizieren sein könnte, ist doch der Phantasie für die Art und Weise von Arbeitskämpfen (fast) keine Grenze gesetzt.

Wenngleich die Autorin damit Mächtigkeit und Tariffähigkeit nicht deckungsgleich mit dem Streikrecht sieht, sieht sie doch eine große Nähe der Mächtigkeitslehre zu den Anforderungen für die Arbeitskampfberechtigung (S 229 ff). Für die Frage der Feststellung der sozialen Mächtigkeit als Voraussetzung für die Arbeitskampfberechtigung stellt die Autorin mit dem BAG maßgeblich auf die Zahl der Mitglieder und ihre Position im Arbeitsleben ab, weiters auf die organisatorische Leistungsfähigkeit der Vereinigung und auf deren bisherige Tarifpraxis. In einer Gesamtschau soll dann eine Prognoseentscheidung für die Zukunft zu stellen sein, hinsichtlich der Druckausübungsfähigkeit bezogen auf den satzungsmäßig festgelegten Bereich der Tarifzuständigkeit.

Daraus schließt die Autorin, dass eine Gewerkschaft in ihren Reihen über genügende Erfahrung und rechtliche Kompetenz verfügen muss, um eigene Forderungen ebenso wie die Position und tatsächlich zumutbare Konzessionen der Gegenseite realistisch einzuschätzen. Sie verlangt eine innere Organisation mit einer geordneten Willensbildung mit hinreichender Teilhabe der Mitglieder. Ich halte dieses Postulat einer wirksamen demokratischen Binnenstruktur für eine Koalition als ein ganz wesentliches Bauelement auch für das österreichische Recht: Eine Koalition darf sich gerade nicht auf eine homöopathische demokratische Binnenstruktur beschränken, sondern muss den Mitgliedern eine demokratische Teilhabe – typischerweise durch transparente und klar kommunizierte Mitwirkungsmöglichkeiten im Rahmen des Vereinsrechts – sicherstellen.

Man kann auf die Fülle der Überlegungen und Thesen der Autorin in diesem Rahmen nur exemplarisch eingehen. Das Resümee der Buchbesprechung könnte positiver und klarer nicht ausfallen: Der in der Wissenschaft exzellente Ruf der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Heidelberg und des Arbeitsrechts an dieser Fakultät wird durch diese Arbeit eindrucksvoll bestätigt. 80