100 Jahre Arbeiterkammergesetz

JOSEFCERNY (WIEN/SALZBURG)
„Die Arbeiterkammern, die auf eine so erfolgreiche Bilanz zurückblicken können, sind zu stark und festgewurzelt, als dass sie es nötig hätten, sich ständig verteidigen und rechtfertigen zu müssen.“ Mit diesen anerkennenden und zugleich ermutigenden Worten überbrachte der frühere Generalsekretär der Internationalen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht Johannes Schregle, langjähriges Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats dieser Zeitschrift, bei einer Festveranstaltung am 26.2.1995 Glückwünsche seiner Organisation zum 75. Jahrestag des Beschlusses der Nationalversammlung vom 26.2.1920 über ein Bundesgesetz zur Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte (Arbeiterkammern). Schregle zeigte sich verwundert darüber „wie schnell die Österreicher bereit sind, das gesamte System der Sozialpartnerschaft sowie der sie tragenden gesetzlichen Interessenvertretungen in Existenzgefahr zu sehen, wann immer jemand eine institutionelle oder menschliche Schwachstelle aufdeckt und dann populistisch überdimensioniert“. Er nahm damit Bezug auf die damals die Medien, aber auch die österreichische Innenpolitik stark beschäftigende kritische Diskussion über das Kammersystem im Allgemeinen und über die Arbeiterkammern im Besonderen. Anlass für diese Diskussion, bei der von manchen sogar die Existenzberechtigung der Arbeiterkammern in Frage gestellt und von der Bundesregierung umfassende Reformen der Kammern eingefordert wurden, waren unvertretbare Bezugsregelungen in Verträgen einzelner Funktionäre, vor allem aber der Rückgang der Wahlbeteiligung bei den Arbeiterkammer-(AK-)wahlen im Herbst 1994. Die von den Kammern selbst initiierten und organisierten Mitgliederbefragungen haben Schregles positive Sicht des Kammersystems eindrucksvoll bestätigt. Vor allem das hervorragende Ergebnis der Mitgliederbefragung in den Arbeiterkammern mit einer bundesweiten Zustimmung von mehr als 90 % hat gezeigt, dass die AN die Arbeiterkammern als ihre eigene, von ihnen getragene und gewollte Interessenvertretung ansehen.In den folgenden Jahren ist es den Arbeiterkammern gelungen, die Akzeptanz und das Vertrauen ihrer Mitglieder durch zusätzliche Leistungen, vor allem im Servicebereich (Rechtsschutz!), zu festigen und weiter auszubauen. Unabhängig von den Veränderungen im politischen System mit wechselnden Mehrheiten und Regierungen sind die Arbeiterkammern ein maßgeblicher Faktor des Interessenausgleichs, der politischen Stabilität und – zusammen mit dem ÖGB und den Gewerkschaften – eine tragende Säule der österreichischen Sozialordnung geblieben. Ein Vierteljahrhundert nach der kritischen Diskussion über das Kammersystem ist die Notwendigkeit der gesetzlichen Interessenvertretungen weithin unbestritten. Zwar gibt es immer noch politische Gruppierungen, die aus vordergründigen Motiven die Abschaffung der „Pflichtmitgliedschaft“ – und damit der Kammern überhaupt – fordern, für die weitaus überwiegende Mehrheit der AN kann man aber wohl feststellen: Der 100. Jahrestag des Beschlusses des ersten Arbeiterkammergesetzes (AKG) ist ein Jubiläum einer Institution, die für die Interessenvertretung der AN und für das Funktionieren des österreichischen Sozialsystems unentbehrlich ist.Im folgenden Beitrag werden zunächst die Rechtsgrundlagen der Arbeiterkammern in ihrer historischen Entwicklung dargestellt, dann einige Strukturelemente des Rechts und der Organisation der Arbeiterkammern näher beleuchtet und schließlich Thesen zur Zukunft der Arbeiterkammern aus der Sicht eines Insiders aufgestellt.
  1. Rechtsgrundlagen der Arbeiterkammern

    1. Verfassung

      1. B-VG 1920

      2. Verfassungsbestimmungen im AKG

      3. B-VG-Novelle 2008

    2. Gesetze

      1. AKG 1920

      2. Gleichstellungsgesetz 1921

      3. Notverordnungen im Ständestaat – Zwangsverstaatlichung

      4. Liquidation der AK 1938

      5. AKG 1945

      6. AKG 1954

      7. AKG 1992

      8. Entwicklung der Rechtsvorschriften seit dem AKG 1992

    3. Judikatur

  2. Strukturelemente der Arbeiterkammern

    1. Selbstverwaltung – Autonomie

    2. Lebendige Demokratie

    3. Zugehörigkeit („Pflichtmitgliedschaft“)4

    4. Aufgaben – Leistungen

    5. Arbeiterkammern und Gewerkschaften

    6. Föderalismus

    7. Arbeiterkammern und Sozialpartnerschaft

  3. Thesen zur Zukunft

Nach dem 100. Jahrestag der Republikgründung und der Einführung des Frauenwahlrechts am 12.11.1918 geht die Reihe der hundertjährigen Jubiläen auch im Jahr 2020 weiter. In einem Zeitraum von knapp zwei Jahren sind unter der Führung des Staatssekretärs für soziale Verwaltung Ferdinand Hanusch die gesetzlichen Grundlagen der österreichischen Sozialordnung entstanden: Nach dem ersten Betriebsrätegesetz vom 15.5.1919* hat die Nationalversammlung am 18.12.1919 das Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge* und am 26.2.1920 das Gesetz über die Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte (Arbeiterkammern)* beschlossen.

Mit der AK feiert eine Institution ihr hundertjähriges Bestandsjubiläum, die zusammen mit dem ÖGB und den Gewerkschaften und den Betriebsräten (Personalvertretungen) jenes Drei-Säulen-Modell der Interessenvertretung der AN bildet, das auch heute noch als Spezifikum die österreichische Sozialordnung prägt.*

Der Initiator des ersten AKG, Ferdinand Hanusch, war nach seinem Ausscheiden aus der Regierung im Jahr 1921 auch der erste Direktor der AK.

1.
Rechtsgrundlagen der Arbeiterkammern
1.1.
Verfassung
1.1.1.
B-VG 1920

Nach der Gründung der demokratischen Republik Deutschösterreich wurde am 16.2.1919 die Konstituierende Nationalversammlung gewählt, die zugleich auch als verfassunggebendes Parlament bestimmt war.

Aufgrund von Vorarbeiten und Entwürfen von Hans Kelsen beschloss die Konstituierende Nationalversammlung am 1.10.1920, also mehr als ein halbes Jahr nach dem ersten AKG, das „Gesetz, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz)“.*

Das B-VG enthielt in seiner ursprünglichen Fassung weder Bestimmungen über die berufliche oder soziale Selbstverwaltung noch solche über die Arbeiterkammern. Lediglich in den Kompetenzartikeln, wo die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern geregelt wird, finden sich einige Tatbestände, die berufliche Vertretungen zum Gegenstand haben. So bestimmt Art 10 Abs 1 Z 11 B-VG, dass Bundessache die Gesetzgebung und Vollziehung in Angelegenheiten der „Kammern für Arbeiter und Angestellte, mit Ausnahme solcher auf land- und forstwirtschaftlichem Gebiet“ ist.

Das B-VG verwendet also den Begriff „Kammern für Arbeiter und Angestellte“, ohne ihn zu definieren oder inhaltlich näher auszugestalten.

Die Verwendung des Begriffes als Tatbestand der Kompetenzverteilung begründet keine verfassungsrechtliche Garantie der Einrichtung der Arbeiterkammern. Sie bildet aber einen wichtigen Ansatzpunkt für die Begründung der Zulässigkeit der beruflichen und sozialen Selbstverwaltung durch die Lehre und Rsp. Aus dem Umstand, dass das B-VG 1920 erst nach dem AKG 1920 beschlossen wurde, ergibt sich nämlich, dass dem Verfassungsgesetzgeber des B-VG die Existenz der Arbeiterkammern (und anderer Einrichtungen der sozialen Selbstverwaltung) bekannt war, ihre Existenz als rechtliche Institution also verfassungsrechtlich vorausgesetzt wurde.* Diese Argumentation wird noch durch den Hinweis bestärkt, dass die Nationalversammlung am selben Tag, an dem sie das B-VG beschlossen hat, auch die erste Änderung des AKG 1920 vorgenommen hat.

1.1.2.
Verfassungsbestimmungen im AKG

Neben den Kompetenzartikeln des B-VG enthält auch das AKG selbst einige Verfassungsbestimmungen, die im Laufe der Entwicklung in das Gesetz eingefügt wurden. Sie betreffen die Kammerzugehörigkeit von öffentlich Bediensteten* bzw Ausnahmen davon,* die Verpflichtung zur Bereitstellung von Daten für die Mitgliederevidenz der Arbeiterkammern,* die Verpflichtung zur Mitwirkung an der Erfassung der Wahlberechtigten bei der AK-Wahl* und das Verhältnis zu Behörden und Körperschaften.*

Auch diese Verfassungsbestimmungen im AKG bewirken keine verfassungsrechtliche Einrichtungs- und Bestandsgarantie der Institution AK, sie erhöhen aber die Stabilität des Kammerrechts, weil sie nur mit qualifizierter Mehrheit vom Parlament geändert oder aufgehoben werden könnten.

1.1.3.
B-VG-Novelle 2008

Eine wesentliche Änderung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der beruflichen und sozialen Selbstverwaltung – und damit auch der Arbeiterkammern 5 – brachte die am 5.11.2007 vom Nationalrat beschlossene, mit 1.1.2008 in Kraft getretene Novelle zum B-VG.* Aufgrund eines Abänderungsantrags zur Regierungsvorlage* wurde in das B-VG ein Fünftes Hauptstück mit dem Titel „Sonstige Selbstverwaltung“ eingefügt.

Art 120a Abs 1 definiert den Begriff und stellt die Zulässigkeit der „Sonstigen“ (nicht territorialen) Selbstverwaltung klar. Abs 2 enthält ein Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft, zur Autonomie der Sozialpartner und zur Förderung des sozialen Dialogs.

Art 120b normiert das Recht der Selbstverwaltungskörper, ihre Aufgaben autonom zu besorgen, und umschreibt den Umfang und die Grenzen der Staatsaufsicht. Abs 2 sieht die Möglichkeit der Übertragung von staatlichen Aufgaben auf die Selbstverwaltungskörper (übertragener Wirkungsbereich) und der Mitwirkung an der staatlichen Vollziehung vor.

Art 120c regelt die Befugnis (und Verpflichtung) zur demokratischen Organbestellung, Abs 2 verpflichtet die Selbstverwaltungskörper zur Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit bei der Erfüllung ihrer Aufgaben, und Abs 3 verankert den Grundsatz der wirtschaftlichen Autonomie und der Vermögensrechte.

Obwohl in der Lehre die Meinungen über die Sinnhaftigkeit und über die konkrete Bedeutung dieser Verfassungsbestimmungen auseinandergehen und manche darin lediglich eine Festschreibung oder Klarstellung des Status quo iSd Judikatur des VfGH sehen,* kann an der klaren Absicht des Verfassungsgesetzgebers, wie sie im Ausschussbericht* zum Ausdruck kommt, doch kein Zweifel bestehen.

  • Durch die explizite Regelung in der B-VGNovelle 2008 ist eindeutig klargestellt, dass der einfache Gesetzgeber zur Schaffung von Einrichtungen der beruflichen oder sozialen Selbstverwaltung, wie es die Arbeiterkammern sind, verfassungsrechtlich legitimiert ist;

  • Spätestens seit der Verfassungsnovelle 2008 muss endgültig klar sein, dass die gesetzliche Zugehörigkeit („Pflichtmitgliedschaft“) ein Wesensmerkmal des Kammerbegriffs ist, es also Kammern ohne „Pflichtmitgliedschaft“ nicht geben kann (Näheres unter 2.3.);

  • Mit der „Anerkennung“ der Sozialpartnerschaft ist auch die Verpflichtung des Staates verbunden, dafür zu sorgen, dass das Gleichgewicht der Sozialpartner erhalten bleibt. Maßnahmen, die zur Schwächung eines der Sozialpartner führen würden, widersprechen dem verfassungsrechtlichen Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft. Das bedeutet zugleich auch für die derzeit an der Sozialpartnerschaft beteiligten Kammern ein Beseitigungsverbot und damit eine Bestandsgarantie in dieser Eigenschaft in Richtung einer „Symmetrie des gesamten Systems.“*

1.2.
Gesetze
1.2.1.
AKG 1920

Die Vorgeschichte des ersten AKG* reicht bis zum Revolutionsjahr 1848 zurück. Nachdem es dem Bürgertum gelungen war, gesetzliche Institutionen zur Vertretung der Interessen der Unternehmer gegenüber dem Staat in Form von „Handelskammern“ durchzusetzen, wurde im Zuge der Revolution von 1848 erstmals auch die Forderung nach Arbeiterkammern erhoben. Nach der blutigen Niederschlagung der Revolution durch die Truppen des Kaisers konnten die Bürgerlichen trotz ihrer Niederlage die gesetzliche Errichtung von Handelskammern im Jahr 1850 durchsetzen, die Forderung nach Arbeiterkammern blieb dagegen zunächst erfolglos.

Erst nachdem durch die Aufhebung des Koalitionsverbots im Jahr 1870 der Weg zur Bildung von Arbeitervereinen frei gemacht worden war, kam wieder Bewegung in den Kampf um eine gesetzliche Interessenvertretung der AN. Der „Verein Volksstimme“ forderte in einem Memorandum an den Reichsrat die Errichtung von Arbeiterkammern, die auch die Mandatare in eine neue Arbeiterkurie entsenden sollten. Ein Antrag des liberalen Abgeordneten August von Plener im Jahr 1886, der auf den Versuch hinauslief, den Arbeitern Arbeiterkammern als Ersatz für das demokratische Wahlrecht anzubieten, wurde von der erstarkenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung vehement abgelehnt. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Freien Gewerkschaften mobilisierten alle Kräfte für den Kampf um das Wahlrecht, der im Jahr 1907 mit den ersten demokratischen Wahlen (für Männer) erfolgreich abgeschlossen werden konnte.

Damit trat die Forderung nach Arbeiterkammern wieder in den Vordergrund, aber die dramatischen Ereignisse, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und seinen furchtbaren Auswirkungen führten, verhinderten vorerst die Realisierung. Noch vor dem Ende des Krieges und der Gründung der Republik legten der Gewerkschafter Franz Domes und der künftige Präsident der Republik Karl Renner den ersten Entwurf eines AKG vor. Das Gesetz konnte aber vom Reichsrat nicht mehr beschlossen werden, weil die Monarchie Ende Oktober 1918 zerfiel. 6 Erst dem Gewerkschafter Ferdinand Hanusch ist es gelungen, als Sozialminister der jungen Republik im Rahmen seines großen sozialpolitischen Reformwerks auch die Forderung nach der Errichtung von Arbeiterkammern zu verwirklichen: Am 26.2.1920 hat die Konstituierende Nationalversammlung das erste AKG einstimmig beschlossen. Damit hatte die Arbeiterbewegung ihr großes Ziel erreicht, dass die AN als vollwertige BürgerInnen und ihre Interessen als gleichberechtigt mit jenen der UnternehmerInnen anerkannt werden. Nach den Erläuternden Bemerkungen zum AKG 1920 sollten die Arbeiterkammern „als autonome Einrichtung der Arbeitnehmer“ das Fundament für eine weitgehende Mitwirkung der AN am gesamten Wirtschaftsleben bilden.*

Die Errichtung der Arbeiterkammern durch das AKG 1920 ist auch im Zusammenhang mit der bereits im Jahr 1919 erfolgten Beschlussfassung über das erste Betriebsrätegesetz* zu sehen. Dazu Ferdinand Hanusch*: „Die Arbeiterkammer soll eine Ergänzung zur Einrichtung der Betriebsräte sein. Wir brauchen Leute, die den Gang der gesamten Volkswirtschaft kennen; die Arbeiterkammer soll für den Arbeitnehmer das sein, was die Handels- und Gewerbekammer für den Kapitalisten ist. Arbeiterkammern dürfen kein Ersatz für die Gewerkschaften sein, sondern sie müssen vor allem die Aufgabe haben, der Arbeiterklasse das Rüstzeug zu geben für den Klassenkampf ...“

Durch das erste AKG wurden sieben Arbeiterkammern in den Bundesländern errichtet, für Wien und Niederösterreich eine gemeinsame AK, die ab dem Jahr 1925 auch den „Arbeiterkammerausschuss“ im neuen Bundesland Burgenland betreute. Zur Beratung und Durchführung gemeinsamer Angelegenheiten bildeten die Vorstände aller Kammern den Arbeiterkammertag.* Jede Kammer gliederte sich zunächst in zwei Sektionen, und zwar in die Sektion der Arbeiter und in die der Angestellten*, bei der Wahl der Mitglieder wurde für jede Sektion ein besonderer Wahlkörper gebildet.* Die Konzepts-, Kanzlei- und Kassageschäfte wurden vom Kammerbüro besorgt, dessen Leitung einem „fachlich geschulten, insbesondere in Angelegenheiten der Sozialpolitik erfahrenen besoldeten Sekretär“ oblag.*

Bemerkenswert sind die Bestimmungen des AKG 1920 über die Deckung der Kosten: Die Kosten der ersten Errichtung der Arbeiterkammern wurden vom Staat vorgestreckt. Wenn eine Kammer nicht über eigene Räumlichkeiten verfügte, war die Gemeinde des Standorts verpflichtet, „auf ihre Kosten das Fehlende beizustellen“.* Die Einhebung einer Umlage war nur subsidiär für den Fall vorgesehen, dass die sonstigen Einnahmen der Kammer nicht ausreichten, um den Bedarf zu decken. Die Umlagenbeträge waren „vorschußweise vom Unternehmer für seine Arbeiter zu leisten“.*

Das AKG 1920 wurde schon wenige Monate nach der Beschlussfassung erstmals geändert: Mit einer Gesetzesnovelle vom 1.10.1920 wurden weitere Sektionen für die Arbeiter und Angestellten der Verkehrsbetriebe eingerichtet.

1.2.2.
Gleichstellungsgesetz 1921

Einen weiteren Schritt zur vollen Gleichberechtigung der Arbeiterkammern mit den Handelskammern der Unternehmer brachte das Gleichstellungsgesetz vom 14.7.1921.* Es bestimmte, dass auch den Arbeiterkammern das gleiche Recht der Mitwirkung an der Gesetzgebung und Wirtschaftsverwaltung sowie zur Hebung des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs der Arbeiterschaft zustehen sollte, wie das durch geltende Gesetze und Verordnungen bereits den Handelskammern gewährt worden war. Damit war das politische Ziel des Aufbaus eines Gegengewichts der Arbeiterkammern zu den Handelskammern erreicht und auch gesetzlich festgeschrieben.

In den folgenden Jahren konnten die Arbeiterkammern die ihnen vom Gesetzgeber übertragenen Aufgaben und die in sie gesetzten Erwartungen weitgehend erfüllen: Die ExpertInnen der Arbeiterkammern erwarben durch Sachkunde, soziales Verständnis und Verhandlungsgeschick hohes Ansehen. Ihre Tätigkeit stärkte die Position der Gewerkschaften, insb bei Kollektivvertragsverhandlungen, und erhöhte das politische Gewicht der Arbeiterkammern als Gegenmacht zu den Unternehmervertretungen. Bereits im Jahr 1921 konnte die Einrichtung eines Arbeitslosenversicherungsbeirats durchgesetzt werden, 1924 wurde in der Arbeiterkammer Wien ein Jugendbeirat als „Jugendparlament“ gegründet, 1925 ein Referat für Frauenarbeit eingerichtet, das unter der Leitung von Käthe Leichter Grundlagenarbeit zur Verbesserung der sozialen Situation der AN geleistet und damit erstmals in Österreich die Frauenarbeit zu einem eigenständigen Forschungsgebiet gemacht hat.*

1.2.3.
Notverordnungen im Ständestaat – Zwangsverstaatlichung

In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre verschärften sich die sozialen Spannungen und das politische Klima in Österreich zusehends. Radikale Sparprogramme der bürgerlichen Koalitionsregierungen, deren Folgen vor allem die AN zu tragen hatten, führten zu sozialen Konflikten und Angriffen auf die parlamentarische Demokratie und deren Einrichtungen. Die schwere Wirtschaftskrise am Ende der 1920er-Jahre mit einer extrem hohen Arbeitslosigkeit schwächte die Position der Freien Gewerkschaften und der von ihnen politisch dominierten Arbeiterkammern und machte sie zum Ziel der 7 Zerstörung demokratischer Strukturen durch den autoritären Ständestaat.*

Danach ging es Schlag auf Schlag: Im Verordnungsweg wurden zunächst die Funktionsperioden der im Jahr 1926 gewählten Mandatare der Arbeiterkammern mehrmals, zuletzt bis 31.12.1933, verlängert und auf diese Weise demokratische Wahlen verhindert.* Nach der von Bundeskanzler Dollfuss verkündeten „Selbstausschaltung des Parlaments“ am 4.3.1933 bediente sich die Regierung des Instruments von „Notverordnungen“, um die parlamentarische Gesetzgebung, aber auch ihre politischen Gegner auszuschalten: Im Lauf des Jahres 1933 wurde die Zensur für die Gewerkschaftspresse eingeführt, KPÖ, NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) und der Republikanische Schutzbund wurden verboten. Am 31.12.1933 gab eine „amtliche Mitteilung“ das Erlöschen aller Mandate in den Vollversammlungen der Arbeiterkammern bekannt und Anfang Jänner wurden die sozialdemokratischen Präsidenten der Arbeiterkammern ihrer Funktion enthoben. An die Stelle der demokratisch gewählten Vollversammlungen traten „Verwaltungskommissionen“,* staatliche „Aufsichtskommissäre“ konnten jede Entscheidung aufheben. Heftige Proteste in mehr als 1000 Betrieben in allen Bundesländern konnten an diesen Tatsachen nichts mehr ändern. Die „Neue Arbeiterkammer“ war zum Instrument des autoritären Ständestaats geworden.

Am 12.2.1934, dem ersten Tag des Bürgerkriegs, beschloss der Ministerrat eine Verordnung über das Verbot der Sozialdemokratischen Partei und aller ihrer Organisationen, auch die Freien Gewerkschaften wurden verboten, führende Repräsentanten der Arbeiterkammern entlassen. Am 16.2.1934 erließ die Regierung eine weitere Verordnung,* die den Eintritt der AK (anstelle der verbotenen Gewerkschaften) in bestehende Kollektivverträge anordnete, eine Woche später wurden alle sozialdemokratischen Betriebsräte aus ihren Funktionen entfernt. Am 23.2. folgte ein Beschluss des Ministerrats,* der weitgehende Eingriffe in das Dienst- und Pensionsrecht der Arbeiterkammern ermöglichte. Weitere Verordnungen sahen Disziplinierungen im öffentlichen Bereich vor.

Die Arbeiterkammern blieben als Institution bestehen, allerdings versuchte die Regierung, ihre Strukturen für die Realisierung der eigenen politischen Ziele zu nutzen.

Mit Verordnung vom 2.3.1934* wurde der „Gewerkschaftsbund der österreichischen Arbeiter und Angestellten“ gegründet, eine Einheitsgewerkschaft, die direkt der Aufsicht des Sozialministeriums unterstellt war. Gleichzeitig wurden in der Verordnung die Arbeiterkammern zu Geschäftsstellen des Gewerkschaftsbundes umfunktioniert. Mit der Beseitigung der Betriebsräte durch das Gesetz über die Errichtung von Werksgemeinschaften* waren die Grundlagen der demokratischen Arbeitsverfassung in Österreich zerstört und der Weg in die Schreckensherrschaft der Nazis bereitet.

1.2.4.
Liquidation der AK 1938

Nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen am 12.3.1938 wurden bis zum Juni 1938 bei den „Einheitsgewerkschaften“ und damit auch bei den Arbeiterkammern kommissarische Leiter bestellt und nationalsozialistische Verwaltungen zur Vorbereitung der Liquidation und zur Überführung des Vermögens an die Deutsche Arbeitsfront eingesetzt. Mit Gesetz vom 17.5.1938 wurde dieser letzte Schritt zur Zerstörung der Demokratie und ihrer Institutionen vollzogen.*

1.2.5.
AKG 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Wiedererrichtung der Republik am 27.4.1945 mussten die demokratischen Einrichtungen wieder aufgebaut werden. Zu den ersten gehörten die Arbeiterkammern.* Schon im Mai 1945 fanden innerhalb des neu gegründeten ÖGB Beratungen über die Wiedererrichtung der Arbeiterkammern statt, als deren Ergebnis ein von allen Fraktionen akzeptierter Entwurf für ein neues AKG vorgelegt wurde. Am 20.7.1945, also kaum zwei Monate nach der Unabhängigkeitserklärung der Republik, beschloss die Provisorische Staatsregierung unter Karl Renner das Gesetz zur Wiederrichtung der Arbeiterkammern.* Da die kurzfristige Durchführung von Wahlen nicht möglich war, sah das Gesetz die Bestellung der Kammerfunktionäre durch den Staatssekretär für soziale Verwaltung Johann Böhm vor.

Am 25.8.1945 fand im Wiener Konzerthaus die konstituierende Vollversammlung der AK Wien statt. In seiner Festrede beschrieb Staatskanzler Karl Renner die soziale Funktion der Arbeiterkammer*: „Die Arbeiterkammer ist dazu da, nicht nur für die Arbeitenden selbst eine Beratungsstelle zu bilden, sondern auch einen Stab wissender und wissenschaftlich strebender Vorkämpfer der Arbeiterklasse zu erziehen, welche neben den oft ausgezeichnet geschulten Vertretern der übrigen Kammern den Staat beraten und die eigenen Auftraggeber über alle die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge aufklären, gegen welche ihre Forderungen bestimmt sind ...“

Bis zum Juli 1946 hatten sich die Arbeiterkammern in allen Bundesländern konstituiert, wobei zunächst (wieder) eine gemeinsame Kammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland errichtet wurde. 1949 fanden in allen Bundesländern die ersten AK-Wahlen in der Zweiten Republik statt, 8nachdem 1948 auch für die Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland je eine eigene AK errichtet worden war. Zum Präsidenten der AK Wien wurde Karl Mantler gewählt.

Das AKG 1945 knüpfte im Wesentlichen an jenes von 1920 an. Neu in den Geltungsbereich einbezogen wurden Hausbesorger und Hausgehilfen, Heimarbeiter und Privatkraftwagenlenker.

1.2.6.
AKG 1954

Einen Meilenstein in der Entwicklung des Arbeiterkammerrechts bildete das AKG 1954.* Aufbauend auf den Grundsätzen der Gesetze von 1920 und 1945 wurden die Kammerzugehörigkeit und die Aufgabenstellung neu geregelt, das Wahlrecht näher ausgeformt, die innere Organisation der Selbstverwaltung durch Abschaffung der Sektionen und ihre Ersetzung durch „Wahlkörper“ geändert, Fachausschüsse als zusätzliches Organ im Zusammenwirken mit den Gewerkschaften eingerichtet, und der Österreichische Arbeiterkammertag als Dachorganisation ebenfalls mit dem Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts und mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestattet. Im Gesetz wurde bestimmt, dass der Präsident der AK Wien zugleich Präsident des Arbeiterkammertages ist* und dass die Bürogeschäfte des Arbeiterkammertages durch das Kammeramt der AK Wien besorgt werden.*

Zur Deckung der Auslagen hebt jede AK eine Umlage ein, deren Höhe für die einzelnen Kammern von der Hauptversammlung des Arbeiterkammertages beschlossen wird. Sie darf höchstens ein halbes Prozent der für die gesetzliche KV geltenden Beitragsgrundlage betragen.*

Das AKG 1954 blieb lange Zeit die rechtliche Grundlage der Tätigkeit der Arbeiterkammern. Größere Änderungen gab es nur in zwei Punkten: Mit der Novelle BGBl 1979/551 wurden, einem Erk des VfGH* Rechnung tragend, die Bestimmungen über den Arbeiterkammertag geändert. Insb wurde bestimmt, dass der Präsident von der Hauptversammlung aus dem Kreis der Mitglieder des Vorstands gewählt wird, also nicht, wie im AKG 1954 vorgesehen, ex lege zugleich Präsident der AK Wien sein muss. An der Realität hat sich aber durch die Novelle 1979 nichts geändert: Auch seither sind alle PräsidentenInnen des Arbeiterkammertages bzw der Bundesarbeitskammer (BAK) zugleich PräsidentenInnen der Arbeiterkammer Wien gewesen.

Die Novelle vom 10.3.1982* brachte eine Wahlrechtsreform mit detaillierten Regelungen des Wahlverfahrens. Erst 38 Jahre später wurde das AKG 1954 durch ein neues AKG abgelöst, das eine tiefgehende Reform des gesamten Kammersystems brachte.

1.2.7.

In den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik hatten die Arbeiterkammern als Bestandteil der Sozialpartnerschaft eher unauffällig und auch im Bewusstsein ihrer Mitglieder wenig präsent im Hintergrund des politischen Geschehens gewirkt. Das änderte sich Ende der 1980er- und in den 1990er-Jahren dramatisch. Plötzlich standen die Arbeiterkammern im Mittelpunkt einer immer heftiger werdenden kritischen politischen Diskussion. Unmittelbarer Anlass dafür war die AK-Wahl 1989, bei der die Wahlbeteiligung bundesweit erstmals unter die 50 %-Marke auf 48 %, in Wien sogar auf knapp 40 % gesunken war. Der starke Rückgang der Wahlbeteiligung führte zunächst – wieder einmal, wie schon mehrmals vorher – zu einer Diskussion über eine Reform des Wahlrechts, durch die das Wahlverfahren vereinfacht und die Stimmabgabe erleichtert werden sollten. Bald stellte sich aber heraus, dass es um mehr ging als um wahltechnische Verbesserungen zur Erreichung einer höheren Wahlbeteiligung. Die von der Sozialwissenschaft konstatierten gesellschaftlichen Veränderungen mit einem Wertewandel, der Tendenz zur Auflösung von Loyalitäten und der Infragestellung bestehender Institutionen betrafen nicht nur, aber auch die Arbeiterkammern. Erstmals standen bei einer AK-Wahl nicht nur die politische Richtung und die Machtverteilung, sondern auch die Institution AK als solche zur Debatte. Innerhalb der Selbstverwaltung der Arbeiterkammern begann deshalb unmittelbar nach der AK-Wahl 1989 eine intensive Diskussion, die zu einer grundlegenden Reform und Weiterentwicklung der Kammern führen sollte.

Die zunächst nur kammerintern geführte Diskussion gewann an Dynamik und öffentlicher Wirkung, nachdem im Wahlkampf vor der Nationalratswahl 1990 der Obmann der FPÖ Jörg Haider medien- und publikumswirksam überhöhte, unvertretbare Bezüge des steirischen AK-Präsidenten Rechberger „aufgedeckt“ und mit Pauschalbeschuldigungen und Skandalisierungsversuchen einen Frontalangriff auf die „Zwangsmitgliedschaft“, auf die Arbeiterkammern als solche und auf das gesamte System der Sozialpartnerschaft gestartet hatte. Das veranlasste dann auch die damaligen Regierungsparteien SPÖ und ÖVP, eine Reform der gesetzlichen Interessenvertretungen in ihr Regierungsprogramm aufzunehmen.

Der politische Druck von außen beschleunigte also den internen Diskussionsprozess, der schließlich zum Konsens über den Inhalt eines neuen AKG führte.

Am 2.10.1991 brachten Abgeordnete der SPÖ und der ÖVP, darunter auch der ehemalige ÖGB-Präsident 9Fritz Verzetnitsch und die spätere AK-Präsidentin Lore Hostasch einen Initiativantrag* für ein neues AKG ein, der am 11.10.1991 mit Stimmenmehrheit nahezu unverändert vom Sozialausschuss angenommen und am 13.11.1991 vom Nationalrat mehrheitlich beschlossen wurde.* Der Inhalt des neuen Gesetzes ist also von den Arbeiterkammern selbst erarbeitet worden.

Der Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales* bezieht sich auf das Regierungsabkommen und hebt folgende Reformschwerpunkte hervor:*

  • Verbesserungen der Transparenz über die Verwendung der Beiträge der Kammerangehörigen

  • Kontrolle der Gebarung durch den Rechnungshof unter Wahrung der Autonomie der Selbstverwaltung;

  • Determinierung der externen Kontrolle durch die staatliche Aufsichtsbehörde;

  • Einrichtung einer internen Kontrolle durch einen Kontrollausschuss unter Vorsitz einer Minderheitsfraktion;

  • Vereinfachung des Wahlrechts;

  • Rechtsschutz für kammerzugehörige AN in arbeits- und sozialrechtlichen Angelegenheiten;

  • Zusammenarbeit mit freiwilligen Berufsvereinigungen der AN (Gewerkschaften);

  • Auskunfts- und Informations-, Antrags- und Petitionsrecht für Kammerzugehörige;

  • Änderung der Vorschriften über die Organbestellung;

  • Regelung der Aufwandsentschädigungen und Funktionsbezüge sowie allfällige Pensionen für Funktionsträger.

Unmittelbar nach dem Inkrafttreten des AKG 1992 setzten die Arbeiterkammern die Arbeit an der vollständigen Erneuerung ihrer Rechtsgrundlagen durch die Schaffung von Durchführungsvorschriften im autonomen Bereich fort. Im Lauf des Jahres 1992 wurden sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene eine Reihe von neuen Rechtsvorschriften beschlossen.* Mit der Erlassung einer neuen, ebenfalls intern vorbereiteten Wahlordnung* durch das Sozialministerium war die vollständige Erneuerung der Rechtsgrundlagen der Arbeiterkammern abgeschlossen. Das Rechtsgebäude der Arbeiterkammern hatte ein neues, zeitgemäßes Fundament bekommen.

1.2.8.
Entwicklung der Rechtsvorschriften seit dem AKG 1992*

Nach der großen Reform hatten sich die Arbeiterkammern organisatorisch und politisch wieder konsolidiert und ein hohes Maß an Akzeptanz und Anerkennung bei den AN gewonnen, so dass für die AK-Wahl 1994 mit einer höheren Wahlbeteiligung gerechnet werden konnte. Umso größer war dann die Bestürzung, als eine neuerliche „Taferlaktion“ von Jörg Haider im Fernsehen einen Sturm der Entrüstung über die „Privilegien der Arbeiterkammerfunktionäre“ in der Öffentlichkeit auslöste. Die Folgen waren für die Arbeiterkammern fatal: Die Wahlbeteiligung sank gegenüber der letzten Wahl nochmals dramatisch auf bundesweit nur noch 31 %, was eine Debatte über die demokratische Legitimation der Arbeiterkammern zur Folge hatte. Dabei war das Sinken der Wahlbeteiligung in erster Linie das mathematische Ergebnis der vorangegangenen Wahlrechtsreform: Die Zahl der in die Wählerlisten aufgenommenen Wahlberechtigten ist bundesweit um mehr als 600.000 gestiegen, wobei aber offenbar auch Randgruppen erfasst worden sind, die zu ihrer gesetzlichen Interessenvertretung kaum Beziehung und demnach auch kein Interesse an der Wahl hatten. Politisch brachte die AK-Wahl 1994 zwar Verschiebungen beim Stimmenanteil der wahlwerbenden Gruppen, aber keine grundsätzliche Änderung der Machtverhältnisse in den Arbeiterkammern.*

Das Ergebnis der AK-Wahl 1994, vor allem aber jenes der unmittelbar darauf durchgeführten Nationalratswahl bewirkte, dass der politische Druck auf die Arbeiterkammern immer stärker wurde. Die Regierungsparteien forderten ultimativ „umfassende Reformen“ und stellten den Kammern die Rute einer Mitgliederbefragung ins Fenster.

Obwohl klar sein musste, dass eine solche Befragung („Urabstimmung“) im Hinblick auf den verfassungsrechtlich vorgegebenen Inhalt des Kammerbegriffs* rechtlich irrelevant ist, haben die Arbeiterkammern den „Auftrag“ der Regierung als Chance für eine eigene offensive Aktion genützt und die Durchführung einer „Mitgliederbefragung – Ja zur AK!“ vorbereitet. Zu diesem Zweck mussten auch die gesetzlichen Grundlagen entsprechend ergänzt werden.*

Die Mitgliederbefragung wurde im Jahr 1996 in allen Arbeiterkammern durchgeführt und brachte einen überwältigenden Erfolg: Bei einer Beteiligung von mehr als zwei Dritteln aller Stimmberechtigten stimmten mehr als 90 % mit „Ja zur AK“. Damit konnte nicht nur der Erfolg des Reformprozesses bestätigt, sondern auch für die Zukunft eine höhere Bestandssicherung der Arbeiterkammern erreicht werden.

In den folgenden Jahren konzentrierten sich die politischen Aktivitäten auf die Schaffung klarer Rechtsgrundlagen für die Politikerbezüge, innerhalb der Arbeiterkammern auf weitere Verbesserungen des Wahlrechts.

Mit dem Bezügebegrenzungsgesetz 1997* wurde eine Einkommenspyramide für PolitikerInnen in Bund, Ländern, Gemeinden und Selbstverwaltungskörpern geschaffen, die sich am jeweiligen 10 Verantwortungs- und Aufgabenbereich orientieren sollte. In das allgemeine System der Politikerbezüge wurden auch die Präsidenten der Arbeiterkammern einbezogen,* die bis dahin geltenden Bestimmungen des AKG und die entsprechenden Richtlinien der BAK an das Bezügebegrenzungsgesetz angepasst.*

Die Novelle zum AKG vom 1.8.1998* brachte neben Änderungen bei der Zugehörigkeit der AN der Österreichischen Postsparkasse und der gesetzlichen Grundlage für eine Mitgliederevidenz* eine neuerliche Reform des Wahlrechts mit dem Ziel der Vereinfachung und Straffung des Wahlverfahrens. Neben zahlreichen weiteren Änderungen, die auf den bei der Mitgliederbefragung gewonnenen Erfahrungen aufbauten, sind vor allem die Herabsetzung des aktiven und des passiven Wahlalters, die Durchführung der Wahl in Betriebssprengeln und die Beseitigung der Wahlkörper besonders hervorzuheben.

Eine weitere Novelle* ermöglichte die Begleitung von behinderten Personen bei der Stimmabgabe. Eine wichtige Änderung des Wahlrechts mit weitreichenden Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Organe der Selbstverwaltung brachte die Novelle BGBl I 2006/4BGBl I 2006/4. Nachdem der EuGH in einer grundsätzlichen E vom 8.5.2003* festgestellt hatte, dass der Ausschluss türkischer AN vom passiven Wahlrecht zur AK gemeinschaftswidrig war, wurden die §§ 20 und 21 AKG dahingehend geändert, dass das aktive und passive Wahlrecht bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen allen kammerzugehörigen AN ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit zusteht.

Von fundamentaler Bedeutung für die verfassungsrechtlichen Grundlagen der beruflichen und sozialen Selbstverwaltung – und damit auch für die Arbeiterkammern – war die B-VG-Novelle 2008 (Näheres dazu oben 1.1.3).

Systemwidrig und auch verfassungsrechtlich bedenklich erscheint dagegen die Anwendung des Sonderpensionsbegrenzungsgesetzes* und die mit diesem Gesetz angeordnete Einhebung eines Pensionssicherungsbeitrags auf die Arbeiterkammern.

1.3.
Judikatur

Angelegenheiten des Arbeiterkammerrechts haben die Rsp erstaunlich wenig beschäftigt. Abgesehen von der auch für die Arbeiterkammern relevanten umfangreichen Judikatur des VfGH zum Themenkreis Selbstverwaltung,* den Entscheidungen über das passive Wahlrecht von ausländischen AN (siehe oben 1.2.8.) und einer Reihe von Entscheidungen zur Arbeiterkammerzugehörigkeit* ist vor allem eine E des VfGH* zu den §§ 10 Abs 1 und 10 Abs 2 Z 2 AKG interessant, weil sie grundsätzliche Klarstellungen zum Verhältnis der Regelungen des AKG 1992 zur Verfassungsrechtslage nach der B-VG-Novelle 2008 trifft. Demnach stehen die Bestimmungen des AKG über die Kammerzugehörigkeit und über die Ausnahme leitender Angestellter auch nach der B-VG-Novelle 2008 in keinem Widerspruch zur Verfassung. In dem Erk bekräftigt der VfGH auch die in der Lehre und Rsp schon vorher vertretene Auffassung, dass gegen die vom Beschwerdeführer (einem Prokuristen einer Sparkasse) bekämpfte Pflichtmitgliedschaft keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Die Pflichtmitgliedschaft komme als Merkmal eines Selbstverwaltungskörpers nunmehr auch im Wortlaut des Art 120a Abs 1 B-VG („zusammengefasst werden“) zum Ausdruck.

2.
Strukturelemente der Arbeiterkammern
2.1.
Selbstverwaltung – Autonomie

Die Arbeiterkammern und die BAK sind Körperschaften des öffentlichen Rechts*, die von demokratisch gewählten Organen in Selbstverwaltung geführt werden. Der Begriff „Selbstverwaltung“* wird zwar im AKG nicht verwendet, klar ist aber, dass schon mit dem ersten AKG 1920 die Forderung nach einer vom Staat und von den Unternehmern unabhängigen, von den AN selbst verwalteten Einrichtung erfüllt worden ist. Nach den Erläuterungen zum AKG 1920* sollten die Arbeiterkammern „als autonome Einrichtung der Arbeitnehmer“ das Fundament für eine weitgehende Mitwirkung der AN am gesamten Wirtschaftsleben bilden.

Der Grundsatz der Selbstverwaltung und Autonomie liegt auch den Arbeiterkammergesetzen der Zweiten Republik zugrunde. Er blieb auch in der Reformdiskussion der 1990er-Jahre ein unantastbares Prinzip. Zu den Wesensmerkmalen des Selbstverwaltungsbegriffs* gehören die Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit gegenüber den staatlichen Behörden und die Autonomie bei der Entscheidung über die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben. Die staatliche Aufsicht über die Arbeiterkammern ist auf die Gesetzmäßigkeit und auf die Einhaltung der nach dem AKG ergangenen Vorschriften beschränkt.* Sie bezieht sich nicht auf die Zweckmäßigkeit von Beschlüssen und Handlungen der Arbeiterkammern, weil die Beurteilung der Zweckmäßigkeit eine interessenpolitische Wertung ist, die in die Autonomie der Arbeiterkammern fällt.11

Autonom sind die Arbeiterkammern auch in finanziellen Belangen*. Zwar ist die Höhe der Kammerumlage durch das Gesetz geregelt, innerhalb des gesetzlichen Rahmens bestimmen aber die Arbeiterkammern selbst, wofür sie die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel verwenden. Die staatliche Aufsichtsbehörde muss die Jahresvoranschläge und die Rechnungsabschlüsse genehmigen, kann aber nicht in die Geschäftsführung oder Gebarung der Arbeiterkammern eingreifen.

Diese Grundsätze gelten auch für die mit 1.1.1997 (rückwirkend bis Ende 1994) nach einer intensiven politischen und juristischen Kontroverse* eingeführte Rechnungshofkontrolle über die Arbeiterkammern und die BAK. Die Prüfung des Rechnungshofs bezieht sich nur auf die formale Richtigkeit und Rechtmäßigkeit sowie auf die Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit, nicht aber auf die Zweckmäßigkeit der Gebarung. Beschlüsse der zuständigen Organe der Selbstverwaltung „in Wahrnehmung der Aufgaben als Interessenvertretung“ sind von der Überprüfung durch den Rechnungshof ausdrücklich ausgenommen.*

Seit der B-VG-Novelle ist auch klargestellt, dass die finanzielle Autonomie Wesensmerkmal der verfassungsrechtlich garantierten Selbstverwaltung ist (siehe oben 1.1.3.).

2.2.
Lebendige Demokratie

Basisorgane der demokratischen Selbstverwaltung sind die Vollversammlungen der Arbeiterkammern und die Hauptversammlung der BAK. Sie werden auch als „Parlament der Arbeitnehmer“ bezeichnet. Mit der großen Reform durch das AKG 1992 wurden die Rechte der Vollversammlung und ihrer Mitglieder, der KammerrätInnen, wesentlich erweitert und darüber hinaus auch Instrumente der direkten Demokratie (Auskunfts-, Antrags- und Petitionsrecht) gesetzlich vorgesehen.* Die Einführung des passiven Wahlrechts für AN ohne österreichische Staatsangehörigkeit (siehe oben 1.2.8.) hat auch diesen AN die Möglichkeit gegeben, sich als wahlwerbende Gruppen an der AK-Wahl zu beteiligen und bei entsprechender Stimmenanzahl zum Kammerrat/Kammerrätin gewählt zu werden.

Von diesem demokratischen Recht wurde seit dem Jahr 2006 intensiv Gebrauch gemacht.* Die Vollversammlungen bieten ein buntes Bild der Vielfalt und lebendiger Demokratie. In engagierten Diskussionen werden bei jeder Vollversammlung zahlreiche Anträge zu allen Lebensbereichen der AN beraten und (überwiegend einstimmig) beschlossen, die dann in den fachlich zuständigen Ausschüssen im Detail weiter behandelt werden.

2.3.
Zugehörigkeit („Pflichtmitgliedschaft“)

Das AKG 1920 enthielt noch keine ausdrückliche Regelung darüber, wer den Arbeiterkammern angehört. Es definiert im § 1 Abs 1 nur allgemein den Zweck der Errichtung von Arbeiterkammern: „Zur Vertretung der wirtschaftlichen Interessen der im Handel, Verkehr und im Bergbau tätigen Arbeiter und Angestellten und zur Förderung der auf die Hebung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeiter und Angestellten abzielenden Bestrebungen werden Kammern für Arbeiter und Angestellte (Arbeiterkammern) errichtet.“

An anderen Stellen spricht das Gesetz von „Mitgliedern“, meint aber damit nicht die von der AK vertretenen AN, sondern die von den AN gewählten Mandatare, also die Mitglieder der Selbstverwaltung.

Das geltende AKG 1992 regelt zunächst im § 1 die Aufgabenstellung der Arbeiterkammern und enthält dann in einem eigenen Abschnitt 3 ausführliche Bestimmungen über die „Zugehörigkeit“ zur AK.* Nach § 10 Abs 1 AKG gehören der Arbeiterkammer alle AN an. In der Folge werden einige Personengruppen aufgezählt, die „auch“ AN iSd Gesetzes sind, darunter unter bestimmten Voraus setzungen Arbeitslose (§ 10 Abs Z 1) und freie DN iSd § 4 Abs 4 ASVG (§ 10 Abs 1 Z 7). Im Abs 2 des § 10 sind jene AN-Gruppen, die der AK nicht angehören, taxativ aufgezählt, darunter vor allem die AN von Gebietskörperschaften, die bei einer Dienststelle beschäftigt sind, die in Vollziehung der Gesetze tätig ist (sogenannte Hoheitsverwaltung – § 10 Abs 2 Z 1).

Die Regelungen über die Kammerzugehörigkeit öffentlich Bediensteter (§ 10 Abs 1 Z 2 und Abs 2 Z 1) sind Verfassungsbestimmungen. Im Gegensatz zum AKG 1920 enthält das AKG 1992 idgF also sehr genaue und detaillierte Regelungen über die Zugehörigkeit zur AK.

Im allgemeinen Sprachgebrauch und in der medialen Berichterstattung wird oftmals unreflektiert, in der politischen Debatte aber von KritikerInnen des Kammersystems bewusst diskreditierend, der Begriff „Pflichtmitgliedschaft“ oder gar „Zwangsmitgliedschaft“ verwendet. Beide Begriffe sind manipulative Fehldeutungen. Dem AKG sind diese Begriffe fremd – es spricht nur von „Zugehörigkeit“ und von „Kammerzugehörigen“ und trägt damit der bestehenden Verfassungslage Rechnung. Spätestens seit der B-VG-Novelle 2008* ist nämlich eindeutig klargestellt, dass – wie von der Lehre* bereits vorher überzeugend begründet*12 die gesetzliche Zugehörigkeit ein konstitutives Element des verfassungsrechtlichen Kammerbegriffs darstellt.

Kammern ohne gesetzliche Zugehörigkeit kann es nach der Verfassung nicht geben!

Wenn in politischen Programmen* die „Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft“ gefordert wird, so liegt dieser Forderung entweder mangelnde Sachkenntnis oder Ignoranz zugrunde, oder es verbirgt sich dahinter in Wahrheit die Absicht, die Kammern als Institution überhaupt zu beseitigen. Das steht aber im Widerspruch zur Verfassung und zu dem bei der Mitgliederbefragung 1996 eindeutig zum Ausdruck gebrachten klaren Willen der weitaus überwiegenden Mehrheit der AN.

2.4.
Aufgaben – Leistungen

Obwohl der Gesetzeswortlaut sich seit dem ersten AKG geändert hat, ist die Aufgabenstellung der Arbeiterkammern seit jeher eine umfassende gewesen*. Das AKG 1992 knüpft an die Systematik und an die Definition der Aufgabenstellung des AKG 1954 an,* erweitert aber den gesetzlichen Aufgabenbereich in personeller Hinsicht durch die Einbeziehung von Arbeitslosen und PensionistInnen* und in sachlicher Hinsicht vor allem durch eine Bestimmung über die Zusammenarbeit der Arbeiterkammern mit den Gewerkschaften und den Organen der betrieblichen Interessenvertretungen (Betriebsräten und Personalvertretungen)* und durch Einführung einer Verpflichtung zum Rechtsschutz*.

Die Definition der allgemeinen Aufgabenstellung im § 1 AKG 1992 soll nach den Erläuterungen im Ausschussbericht*„zum Ausdruck bringen, dass der autonome Selbstverwaltungskörper Arbeiterkammer seine Interessenvertretungsaufgabe in einem vom Gesetzgeber relativ weit gesteckten Rahmen wahrnehmen kann. Die Vertretung und Förderung der Interessen der Gruppe der Arbeitnehmer rechtfertigt allgemeine Maßnahmen und Initiativen für diese Gruppe, auch wenn die Wirkung dieser Maßnahmen und Initiativen im Einzelfall über den Bereich der kammerzugehörigen Arbeitnehmer hinausgehen mag“.

Damit wird die allgemeine, über die unmittelbare Interessenvertretung hinausgehende gesellschaftliche Bedeutung der Arbeiterkammern angesprochen, die im Gesetzestext dadurch zum Ausdruck kommt, dass in der demonstrativen Aufzählung des § 4 Abs 2 AKG auch Angelegenheiten ausdrücklich genannt werden, die weit über die spezifischen AN-Interessen hinausgehen, wie zB Umweltschutz, Konsumentenschutz, Freizeitgestaltung, Gesundheitspolitik oder Wohnungspolitik.* Vereinfacht ausgedrückt bedeutet die allgemeine Interessenvertretungsfunktion der Arbeiterkammern, dass „grundsätzlich alles getan werden darf, was zur Interessenvertretung der Arbeitnehmer erforderlich und zweckmäßig ist“.*

Wie die Arbeiterkammern ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllen, welche Prioritäten dabei gesetzt werden, und wie die Finanzierung erfolgt, entscheiden die nach dem Gesetz zuständigen Organe der Selbstverwaltung autonom. In Erfüllung des gesetzlichen Auftrags bieten die Arbeiterkammern ein vielfältiges, breites Spektrum an Leistungen an, das von der Beratung in arbeits- und sozialrechtlichen Angelegenheiten über Konsumentenschutz, Gesundheitsförderung, berufliche Aus- und Weiterbildung bis hin zur Förderung von Kunst und Kultur reicht.

Einen besonderen Schwerpunkt im Leistungsangebot der Arbeiterkammern bildet der mit dem AKG 1992 eingeführte Rechtsschutz. Die dabei erreichten Erfolge sind nicht nur für die einzelnen AN, die diese Leistung in Anspruch nehmen, eine wertvolle Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Rechte, sondern auch ein wichtiger Faktor für das positive Image der Arbeiterkammern insgesamt. Bundesweit stehen den kammerzugehörigen AN fast 2.800 ExpertInnen für Beratungen, Interventionen und gerichtliche Vertretung zur Verfügung. Der Betrag, der dadurch für die AN hereingebracht werden kann, übersteigt die Gesamtsumme der Einnahmen der Arbeiterkammern aus der Kammerumlage.*

Insgesamt hatte die Reform der Arbeiterkammern in den 1990er-Jahren eine stärkere Serviceorientierung der Arbeiterkammern zur Folge.* Das fördert und stärkt zwar die Beziehungen zwischen den Kammern und ihren Mitgliedern, bindet aber erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen. § 4 AKG zählt unter den Aufgaben der Arbeiterkammern auch die Mitwirkung an der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung* und an wissenschaftlichen Erhebungen und Untersuchungen zur Lage der AN* auf. Neben dem Service gehören also auch wissenschaftliche Grundlagenarbeit und Politikgestaltung zu den Aufgaben der Arbeiterkammern. Hier das für eine wirksame Interessenvertretung optimale Verhältnis zwischen den einzelnen Aufgabenbereichen zu finden, gehört zu den Herausforderungen der Zukunft.13

Zentrale Bedeutung kommt dem Recht auf Gesetzesbegutachtung zu. Schon das erste AKG 1920 verpflichtete die staatlichen Behörden, Gesetzentwürfe, die die Interessen der AN berühren, vor der Einbringung in den gesetzgebenden Körperschaften den Arbeiterkammern zur Begutachtung zu übermitteln.* Das AKG 1954 enthielt eine gleichartige Bestimmung und die entsprechende Regelung des AKG 1992 wurde später auch auf Rechtssetzungsakte der EU ausgedehnt.

Wie wichtig die Gesetzesbegutachtung als Instrument der Interessenvertretung ist, hat die letzte, vorzeitig beendete Regierungsperiode gezeigt, in der die Regierung unter Missachtung der gesetzlichen Vorschriften immer wieder Gesetzesvorhaben ohne vorherige Begutachtung im Parlament eingebracht hat. Trotz dieser versuchten Umgehung des gesetzlichen Begutachtungsrechts haben die Arbeiterkammern und die BAK im Jahr 2018 insgesamt 910 Begutachtungen vorgenommen.*

2.5.
Arbeiterkammern und Gewerkschaften

Das Nebeneinander von gesetzlichen Interessenvertretungen und freiwilligen Berufsvereinigungen ist ein Spezifikum des österreichischen Systems der Arbeitsbeziehungen. Innerhalb dieses Systems nehmen Arbeiterkammern und Gewerkschaften gemeinsam in enger Zusammenarbeit die Interessen der AN wahr.

Im Zuge der Reform der Arbeiterkammern in den 1990er-Jahren ist die historisch gewachsene und erfolgreich praktizierte Zusammenarbeit zwischen Arbeiterkammern und Gewerkschaften erstmals auch gesetzlich festgeschrieben worden: Nach § 6 des AKG 1992 sind die Arbeiterkammern berufen, die kollektivvertragsfähigen freiwilligen Berufsvereinigungen (das sind die Gewerkschaften) und die Organe der betrieblichen Interessenvertretung (Betriebsräte und Personalvertretungen)* zu beraten sowie zur Förderung der sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Interessen der AN zu unterstützen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Im parlamentarischen Ausschussbericht zum AKG 1992* wird diese Regelung mit Zweckmäßigkeitsüberlegungen begründet und zugleich hervorgehoben, dass durch die gesetzlich vorgesehene Zusammenarbeit die Selbständigkeit der einzelnen Organisationen in keiner Weise in Frage gestellt wird. Als mögliche Bereiche für die Zusammenarbeit werden beispielhaft Schulungs- und Bildungsveranstaltungen, der Rechtsschutz, die Öffentlichkeitsarbeit und gemeinsame internationale Aktivitäten von Gewerkschaften und Arbeiterkammern genannt. Die Unterstützung und Zusammenarbeit können auch darin bestehen, dass gewerkschaftliche Veranstaltungen und Aktivitäten von den Arbeiterkammern finanziell gefördert werden.

2.6.
Föderalismus

Die Arbeiterkammern sind seit ihrer Errichtung föderalistisch organisiert: In jedem Bundesland gibt es eine rechtlich selbständige AK, und jede dieser Kammern nimmt ihre gesetzlichen Aufgaben autonom in Selbstverwaltung wahr. Das gilt auch für die BAK, deren Wirkungsbereich sich auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt.

Die allgemeine, umfassende Aufgabenstellung des § 1 AKG gilt in gleicher Weise für die Arbeiterkammern wie für die BAK. Abschnitt 10 des AKG 1992 enthält Bestimmungen über die Organe der BAK*, deren Zusammensetzung und Bestellung sowie über die jeweils taxativ aufgezählten Aufgaben der einzelnen Organe.*

Das Organisationsmodell der Arbeiterkammern mit rechtlich selbständigen Arbeiterkammern in allen Bundesländern und einer koordinierenden, den rechtlichen Rahmen in wichtigen gemeinsamen Angelegenheiten bestimmenden BAK entspricht dem Prinzip des Föderalismus. Es unterscheidet sich aber von anderen, ähnlichen Einrichtungen, wie zB den Wirtschaftskammern, durch eine spezifische Struktur, die eine effiziente Führung mit schlanker und sparsamer Verwaltung ermöglicht. Die BAK verfügt nämlich über keinen eigenen Verwaltungsapparat, weil die Bürogeschäfte der BAK durch das Büro der Wiener AK geführt werden, der Direktor der AK Wien zugleich das Büro der BAK leitet, der Sitz der BAK in Wien ist und der/die PräsidentIn der AK Wien zwar nicht mehr wie früher ex lege, aber de facto zugleich PräsidentIn der BAK ist. Aufgrund dieser Struktur können die Kosten für die Geschäftsführung der BAK extrem niedrig gehalten werden. Die anderen Arbeiterkammern zahlen der AK Wien lediglich einen Kostenbeitrag von 3 % der jährlichen Einnahmen aus Kammerumlagen.*

2.7.
Arbeiterkammern und Sozialpartnerschaft

Neben der Zusammenarbeit zwischen den Arbeiterkammern und Gewerkschaften ist auch die Kooperation der Interessenvertretungen im Rahmen der Sozialpartnerschaft* ein österreichisches Spezifikum. Entstanden aus der besonderen wirtschaftlichen und politischen Situation der Nachkriegszeit 14 entwickelte sich die Sozialpartnerschaft, bestehend aus dem ÖGB und den Arbeiterkammern einerseits und den Handelskammern (jetzt: Wirtschaftskammern) und den Landwirtschaftskammern andererseits, zu einem maßgeblichen Faktor des politischen Systems der Zweiten Republik. In den 1960er- und 1970er-Jahren erreichten Macht und Einfluss der Sozialpartner ihren Höhepunkt. Sie waren an allen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen maßgeblich beteiligt. Gesetzesvorhaben, die wesentliche Interessen der AN betrafen, wurden intensiv und oft bis ins kleinste Detail zwischen den Sozialpartnern im vorparlamentarischen Raum verhandelt. So wurde zB das Arbeitsverfassungsgesetz Anfang der 1970er-Jahre „auf Punkt und Beistrich“ zwischen den Sozialpartnern ausgehandelt und dann (mit minimalen Änderungen) vom Nationalrat beschlossen.*

Mit dem Wechsel des politischen Systems zu Beginn der 2000er-Jahre änderte sich auch die Position der Sozialpartnerschaft:* Die Regierung versuchte, den Einfluss der Sozialpartner zurückzudrängen und insb die AN-Interessenvertretungen zu schwächen. Mehrfach standen Drohungen mit einer (einfachgesetzlich möglichen) Herabsetzung der Kammerumlage und damit die Gefährdung der finanziellen Basis der Arbeiterkammern im Raum*. Durch den entschlossenen Widerstand der AN-Organisationen konnte eine solche Maßnahme verhindert und die Funktionsfähigkeit der Sozialpartnerschaft vorerst gesichert werden.

Noch deutlicher als zu Beginn der 2000er-Jahre war die Änderung der Einstellung der Regierung gegenüber der Sozialpartnerschaft nach dem Regierungswechsel im Jahr 2018. Die Sozialpartner wurden weitgehend ausgeschaltet, Gesetzesvorhaben ohne vorherige Beratung oder Begutachtung im Parlament eingebracht und dort im Schnellverfahren „durchgezogen“. Das Ergebnis ist bekannt: Nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag endete die Funktionsperiode der Regierung vorzeitig.

Die Sozialpartnerschaft war nie eine gesetzlich geregelte Institution, und die grundsätzliche Aufgabe der Arbeiterkammern hat sich durch ihre Beteiligung an der Sozialpartnerschaft nicht geändert. ÖGB und AK bilden auch im Rahmen der Sozialpartnerschaft ein Gegengewicht zu den Interessenvertretungen der AG, allerdings mit dem Ziel eines Interessenausgleichs mit Blick auf das Gemeinsame.* Der Begriff „Sozialpartnerschaft“ bezeichnet also eine bestimmte Haltung, einen Politikstil, der in einer gemeinsamen Erklärung der Sozialpartner* vom 23.11.1992 „Kultur der Konfliktaustragung“ genannt wird: „Sozialpartnerschaft ist gekennzeichnet durch eine besondere Art der Gesprächs- und Verhandlungskultur und durch die Bereitschaft der beteiligten Verbände, Kompromisse nach außen und innen durchzustehen und unterschiedliche Interessen unter Bedachtnahme auf mittelfristige gemeinsame Ziele und gesamtgesellschaftliche Interessen zu vertreten. Dies bedingt eine permanente Gesprächsbasis und laufenden Informationsaustausch.“

3.
Thesen zur Zukunft

Die Hauptversammlung der Bundesarbeitskammer hat am 21.6.2018 ein Zukunftsprogramm beschlossen, das Grundlage für die Tätigkeit der Arbeiterkammern in den nächsten Jahren ist.* Die folgenden Thesen ergänzen den Blick in die Zukunft aus der persönlichen Sicht langjähriger praktischer Erfahrung.

1. Die Arbeiterkammern und die BAK bleiben auch in Zukunft für eine wirksame Vertretung der AN-Interessen und für den sozialen Ausgleich im Rahmen der Sozialpartnerschaft unverzichtbare Einrichtungen.

Gestützt auf das hohe Vertrauen und auf die Zustimmung der von ihnen vertretenen AN können sie eine aktive und offensive Interessenpolitik betreiben und auf diese Weise jenes Gegengewicht zu den Interessenvertretungen und Lobbyisten der AG bilden, das ihnen schon bei der Gründung als Ziel vorgegeben worden war.

2. Die verfassungsrechtlich verankerte Selbstverwaltung und Autonomie sind weiterhin die tragenden Grundsätze der Kammerorganisation.

Die im Zuge der Diskussion über die „Sozialversicherungs-Reform“ gemachten Erfahrungen lassen es allerdings notwendig erscheinen, den AN den Zweck und die Vorteile der demokratischen Selbstverwaltung gegenüber einem System des undurchschaubaren und unkontrollierten Lobbyismus klarer zu machen. Das beste Mittel dazu sind intensive Kontakte und permanente Kommunikation zwischen den gewählten KammerrätInnen und den von ihnen vertretenen AN.

3. Die Arbeiterkammern sind aus der Gewerkschaftsbewegung entstanden. Sie erfüllen ihre gesetzlichen Aufgaben in enger Zusammenarbeit und sinnvoller Aufgabenteilung mit den Gewerkschaften. Dieser Grundsatz muss auch in Zukunft gelten.

Der ÖGB und die Gewerkschaften bilden das Fundament der Selbstverwaltung in den Arbeiterkammern. Der weitaus größte Teil der gewählten Mandatare kommt aus den Gewerkschaften, an der Spitze der Arbeiterkammern stehen durchwegs führende GewerkschafterInnen.

4. Die seit dem AKG 1992 auch rechtlich abgesicherte Zusammenarbeit zwischen den Arbeiterkammern15den Gewerkschaften, den Betriebsräten und Personalvertretungen bei gleichzeitiger Aufgabenteilung muss erhalten und weiter ausgebaut werden.

Der Bestand einer gesetzlichen Interessenvertretung für alle AN (mit wenigen Ausnahmen) und der Vorrang der Gewerkschaften beim Abschluss von Kollektivverträgen mit Normwirkung und Außenseiterwirkung* ermöglichen und gewährleisten zusammen mit den Betriebs- und Personalvertretungen ein umfassendes, in dieser Form international einzigartiges und zukunftstaugliches System der Interessenvertretung (Drei-Säulen-Modell).*

5. Der umfassende Wirkungsbereich und die gesetzliche Zugehörigkeit aller abhängig Beschäftigten eröffnen den Arbeiterkammern ein weites, über die Arbeitswelt hinausgehendes Tätigkeitsfeld für eine zukunftsorientierte Interessenvertretung. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind dabei wertvolle Verbündete. Die Arbeiterkammern sollten deshalb in Zukunft die Kontakte zu solchen Organisationen verstärken und mit ihnen gemeinsam neue Netzwerke der Solidarität aufbauen.

Auch die Kooperation mit Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen sollte weiter vertieft werden.

6. Über die Art und Weise, wie sie ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllen, wie die Prioritäten und die Schwerpunkte gesetzt werden, entscheiden die Arbeiterkammern autonom.

Jede Form der staatlichen Einflussnahme, sei es auch „nur“ die Ausübung von politischem Druck durch die „Drohung“ mit einer Senkung der Kammerumlage und der dadurch bewirkten Verringerung des Handlungsspielraums der Arbeiterkammern, widerspricht der Verfassung.*

7. Durch die erfolgreiche Mitgliederbefragung und die organisatorisch darauf aufbauende Änderung des Wahlverfahrens ist der Kontakt zwischen den Arbeiterkammern und den von ihnen vertretenen AN wesentlich verstärkt worden. Dieser Weg der intensiven und direkten Kommunikation sollte in Zukunft weitergegangen werden, wobei das Hauptaugenmerk auf jene AN-Gruppen zu richten ist, die bisher kaum Kontakt mit ihrer gesetzlichen Interessenvertretung hatten, wie zB die meisten jungen Menschen, die nach ihrer Schulzeit erstmals ein Arbeitsverhältnis beginnen. Das von einigen Arbeiterkammern erfolgreich initiierte Programm „AKyoung“ zeigt das große Interesse der Jugendlichen an der gesetzlichen Interessenvertretung.

8. Entscheidend für die Zukunft sind die Aktivitäten der Arbeiterkammern auf dem Gebiet der Schulung und Bildung. Die Aus- und Weiterbildung von AN-VertreterInnen, die hohe Qualifikation der MitarbeiterInnen der Arbeiterkammern und die Bereitstellung von zukunftsorientierten Bildungsangeboten für die kammerzugehörigen AN sind der Schlüssel zu einer erfolgreichen Interessenvertretung. Die im Jahr 2018 eingeleitete Digitalisierungsoffensive weist den Weg in die Zukunft.

9. Die Arbeiterkammer der Zukunft ist eine offene, für neue Entwicklungen aufgeschlossene, dynamische und vom Vertrauen ihrer Mitglieder getragene, starke Interessenvertretung der AN.16