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Kein Versicherungsschutz für Lebensrettungsunfall in Portugal

SOPHIAMARCIAN

Gem Art 2 Abs 1 und 2 der VO 883/2004 gilt die VO für Personen, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten. Der als Grundvoraussetzung für die Anwendung des EU-Rechts zu fordernde Unionsbezug setzt daher voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Liegt der einzige auf einen anderen Mitgliedstaat Bezug habende Umstand im Ort des Unfalls, so liegt darin aber bloß eine faktische Beziehung zu diesem anderen Mitgliedstaat; einen für die Anwendung der VO 883/2004 ausreichenden grenzüberschreitenden Bezug vermag dieser Umstand nicht herzustellen.

Eine Verpflichtung Österreichs, Unfallversicherungsschutz für Unfälle bei der Lebensrettung auch für Unfälle im EU-Ausland vorzusehen, ist dem Unionsrecht nicht zu entnehmen. Die (ungeschriebene) Einschränkung des Versicherungsfalls gem § 176 Abs 1 Z 2 ASVG auf Unfälle im Inland begründet daher noch keine Verletzung des Freizügigkeitsrechts. Da aus dem Unionsrecht keine Verpflichtung abzuleiten ist, auch solche Lebensrettungsunfälle in den Versicherungsschutz einzubeziehen, die sich auf dem Gebiet anderer Mitgliedstaaten ereigneten, kann auch daraus, dass ein derartiger Versicherungsschutz für Unfälle auf dem Gebiet der Nachbarstaaten vorgesehen ist (§ 176 Abs 4 ASVG), keine Einschränkung des Freizügigkeitsrechts abgeleitet werden.

SACHVERHALT

Beim Versuch, eine Reiseteilnehmerin aus einer lebensbedrohlichen Situation zu retten, verstarb der Ehegatte und Vater der Erstund Zweitkl. Sie begehrten Hinterbliebenenleistungen sowie den Teilersatz der Bestattungskosten aus der gesetzlichen UV in Österreich. Der Verstorbene war österreichischer Staatsbürger, wo er auch seinen Wohnsitz hatte. Die Familie war im Rahmen eines Urlaubes nach Portugal gereist.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Alle Instanzen wiesen das Begehren der Kl ab, das Berufungsgericht ließ jedoch die Revision mit der Begründung zu, dass die OGH-E vom 22.5.2006, 10 ObS 9/06f, zur Lebensrettung in einem Mitliedstaat (der nicht Nachbarstaat war) vor Inkrafttreten der VO 883/2004 ergangen sei.

Der OGH hielt die Revision für zulässig, jedoch als nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE

„1.1 Gemäß § 176 Abs 1 Z 2 ASVG sind solche Unfälle den Arbeitsunfällen gleichgestellt, die sich bei der Rettung eines Menschen aus tatsächlicher oder vermuteter Lebensgefahr oder dem Versuch einer solchen Rettung ereignen, wenn nicht – was im vorliegenden Fall nicht behauptet wird – nach anderen unfallversicherungs- oder unfallfürsorgerechtlichen Bestimmungen ein Leistungsanspruch besteht.

1.2 Gemäß § 176 Abs 4 ASVG gilt ein derartiger Unfall aber auch dann als Arbeitsunfall, wenn er sich auf dem Gebiet eines Nachbarstaats der Republik Österreich ereignet hat und die tätig werdende Person österreichischer Staatsbürger ist und ihren Wohnsitz im Inland hat. […]

2. Die Revisionswerberinnen machen geltend, das Berufungsgericht habe den Anwendungsbereich der VO 883/2004 sowie die Auswirkungen des in Art 21 AEUV verankerten Freizügigkeitsrechts unrichtig beurteilt.

3. Zur VO 883/2004

3.1. Die Anwendung der VO 883/2004 erfordert die Erfüllung des in Art 2 und 3 der VO 883/2004 geregelten persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs. Darüber hinaus ist das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts erforderlich. Dies kommt in der Formulierung des Art 2 Abs 1 und 2 der VO 883/2004 zum Ausdruck, wonach die Verordnung für Personen gilt, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten […].

3.2. Der Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist demnach nicht eröffnet, wenn ein Sachverhalt mit keinem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist (EuGH 22.9.1992, Petit, C-153/91, Rz 10).

3.3 Der als Grundvoraussetzung für die Anwendung des EU-Rechts zu fordernde Unionsbezug setzt daher voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen; diese Umstände sind in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen zu sehen (Spiegel in Fuchs, Art 2 VO 883/2004, Rz 15).

4.1 Derartige, ein grenzüberschreitendes Element begründende Umstände liegen im vorliegenden Fall nicht vor.

[…]

4.3 Der einzige auf einen anderen Mitgliedstaat Bezug habende Umstand ist der Ort des Unfalls, nämlich Portugal. Darin liegt hier aber bloß eine faktische Beziehung zum Mitgliedstaat Portugal, behaupten die Klägerinnen doch gar nicht, dass dadurch Ansprüche nach portugiesischem Sozialrecht begründet wären, derer sie mangels Koordinierung 109 verlustig gingen. Nach § 176 Abs 1 Z 2 iVm Abs 4 ASVG kommt diesem Ort des Geschehens ohne Bezugnahme auf das Unionsrecht auch keine leistungsbegründende Wirkung zu. Insofern unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt etwa von einem Fall, in dem ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats mit Wohnsitz im Inland auf dem Gebiet Österreichs oder eines Nachbarstaats der Republik Österreich bei einer (versuchten) Lebensrettung einen Unfall erleidet (dazu Müller in SV-Komm § 176 ASVG Rz 77).

4.4 In der hier gegebenen Konstellation vermag der Umstand, dass sich der Unfall in Portugal zugetragen hat, daher den für die Anwendung der VO 883/2004 ausreichenden grenzüberschreitenden Bezug nicht herzustellen. Der Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist daher im vorliegenden Fall nicht eröffnet. Mangels Anwendbarkeit der VO 883/2004 können sich die Klägerinnen nicht auf die Sachverhaltsgleichstellung gemäß Art 5 lit b VO 883/2004 stützen […].

5. Zum Primärrecht

Die Revisionswerberinnen rügen die Rechtsansicht der Vorinstanzen, wonach ein einem Arbeitsunfall gleichgestellter Unfall gemäß § 176 Abs 1 Z 2 iVm Abs 4 ASVG nur bei einem Unfall in Österreich oder einem Nachbarstaat Österreichs vorliegt, als unzulässige Einschränkung des Freizügigkeitsrechts des Art 21 AEUV.

[…]

7.1 In Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene bestimmt das Recht eines jeden Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Leistung gegeben ist. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht beachten (EuGH 12.7.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Rz 45 f; 28.4.1998, Rs C-158/96, Kohll, Rz 17, 19 je mwN; Fuchs in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 45–48 AEUV, Rz 5, 25).

[…]

8.2 Die Revision leitet aus dem Unionsrecht […] ab, dass Österreich verpflichtet sei, Unfallversicherungsschutz für Unfälle bei der Lebensrettung auch für Unfälle im EU-Ausland vorzusehen. Eine derartige Verpflichtung ist dem Unionsrecht aber nicht zu entnehmen.

8.3 Die (ungeschriebene) Einschränkung des Versicherungsfalls gemäß § 176 Abs 1 Z 2 ASVG auf Unfälle im Inland in einem Fall wie dem vorliegenden begründet daher nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch keine Verletzung des Freizügigkeitsrechts.

8.4 Da aus dem Unionsrecht keine Verpflichtung abzuleiten ist, auch solche Lebensrettungsunfälle in den Versicherungsschutz einzubeziehen, die sich auf dem Gebiet anderer Mitgliedstaaten ereigneten, kann auch daraus, dass ein derartiger Versicherungsschutz für Unfälle auf dem Gebiet der Nachbarstaaten vorgesehen ist (§ 176 Abs 4 ASVG), keine Einschränkung des Freizügigkeitsrechts abgeleitet werden.“

ERLÄUTERUNG

Der OGH hat in dieser E seine Rsp zu 10 ObS 9/06f vom 22.5.2006 fortgeführt und begründet seine E mit dem strengen Territorialitätsprinzip. In der E 10 ObS 9/06f wurde ein in Österreich beschäftigter Lehrer mit holländischer Staatsbürgerschaft auf einer Dienstreise in Portugal von seiner Familie begleitet. Als sich der Rückflug verzögerte, ging er mit seiner Familie am Strand spazieren, bei einer versuchten Lebensrettung seines kleinen Sohnes kamen beide ums Leben. Auch in diesem Fall wurde der Versicherungsschutz abgelehnt. Nach der Koordinierung der Leistungen aus der UV ergäbe sich nämlich nur, dass Wegunfälle im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates so behandelt werden, als ob sie sich im Gebiet des zuständigen Staates ereignet hätten. Ein Versicherungsschutz für Lebensrettungsunfälle komme aber nicht in Betracht. Auch die (jetzt) in Geltung stehende VO 883/2004 konnte am Ausgang nichts ändern und keine Ausdehnung des Versicherungsschutzes für Lebensrettungssituationen in anderen Mitgliedstaaten (welche keine Nachbarstaaten Österreichs sind) erwirken, zumal durch den vorliegenden Sachverhalt der Anwendungsbereich der Verordnung nicht einmal eröffnet war. Das Unionsrecht koordiniert nur, jeder Mitgliedstaat regelt selbst, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Leistungen besteht. Aus dem Unionsrecht ergibt sich keine Verpflichtung, dass Österreich Unfallversicherungsschutz auch für Lebensrettungen in anderen EU-Mitgliedstaaten zu gewähren habe.

Die Ausnahme des § 176 Abs 4 ASVG zum strengen Territorialitätsprinzip ist angesichts eines Lebensrettungssachverhaltes, der sich beispielsweise im Grenzgebiet zu einem österreichischen Nachbarstaat ereignet, eine sinnvolle Regelung, die verhindern soll, dass Personen keinen Unfallversicherungsschutz in Lebensrettungssituationen haben, weil sie sich (womöglich sogar unbemerkt) nicht mehr auf österreichischem Hoheitsgebiet aufhalten.

Die Regelung des § 176 Abs 4 ASVG und die Rsp führt freilich im Ergebnis dazu, dass ein/e österreichische/ r StaatsbürgerIn (mit Wohnsitz in Österreich), der/die jemanden im Meer vor Sizilien (Italien) vor dem Ertrinken rettet, Unfallversicherungsschutz genießt, während man in einem anderen Mitgliedstaat – wie Portugal – nicht versichert ist, obwohl sich beide Sachverhalte uU gleich weit entfernt vom österreichischen Territorium ereignen. Der Gesetzgeber hatte wohl bei Gestaltung der Ausnahmeregelung des § 176 Abs 4 ASVG Sachverhalte im österreichischen Grenzgebiet im Sinn, dennoch hat er sich für die Formulierung „im Gebiet eines Nachbarstaates“ entschieden. 110