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Österreichische Ausgleichszahlung zum deutschen Elterngeld

KRISZTINAJUHASZ
Art 60 VO (EG) 987/2009, Art 68 VO (EG) 883/2004; § 24 KBGG

Für die Frage, in welchem Staat eine Familienleistung zu beanspruchen ist, ist nach Art 60 Abs 1 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 die gesamte Familie zu berücksichtigen, sowohl wenn die Leistungen nach dem Art 68 Abs 1 der VO (EG) 883/2004 als vorrangig bestimmte Rechtsvorschriften gewährt werden, als auch wenn die Leistungen nach einer oder mehreren anderen Rechtsvorschrift( en) geschuldet werden. Für die Ermittlung des Unterschiedsbetrags ist das tatsächlich im Beschäftigungsstaat erzielte Einkommen der anspruchsberechtigten Person maßgeblich.111

SACHVERHALT

Der Kl lebt mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Töchtern in Deutschland, wo er seit 1992 beschäftigt ist. Seine Frau ist seit 1996 in Tirol beschäftigt. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter am 14.6.2011 war die Mutter bis 31.1.2013 in Karenz. Nach der Geburt der zweiten Tochter am 29.8.2013 vereinbarte sie mit ihrem österreichischen DG eine weitere Karenz bis 28.5.2015. Ab Ende des Mutterschutzes bezog sie deutsches Elterngeld sowie deutsches Betreuungsgeld. Die Bekl (Tiroler Gebietskrankenkasse [TGKK]) wurde zur Zahlung einer Ausgleichszahlung auf das österreichische einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld für die zweite Tochter verpflichtet (OGH 20.12.2017, 10 ObS 74/17f). Der Kl nahm vom 15.2. bis 28.2.2013 unbezahlten Urlaub in Anspruch. In den Monaten Mai, Juni und Juli 2013 erzielte er ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von € 3.504,55. Zur Betreuung der zweiten Tochter war er von 29.6. bis 28.8.2014 in Elternzeit (Karenz) und erhielt in Deutschland Elterngeld von € 3.600,-.

Der Kl begehrte in seiner Säumnisklage eine Ausgleichszahlung zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld in Höhe von € 66,- täglich für den Zeitraum seiner Elternzeit.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Bekl bestritt ihre Verpflichtung zu einer Ausgleichszahlung mit der Begründung, der Kl habe im Zeitraum von sechs Monaten vor der Geburt der zweiten Tochter nicht durchgehend eine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit oder eine gleichgestellte Tätigkeit ausgeübt, da er unbezahlten Urlaub in Anspruch nahm. Eine unschädliche „Unterbrechung“ gem § 24 Abs 1 Z 2 KBGG liege nicht vor, weil nur etwas unterbrochen werden könne, was bereits begonnen habe. Zudem erfülle der Kl im Bezugszeitraum vom 29.8. bis 28.10.2014 [Anm: wohl gemeint vom 29.6. bis 28.8.2014] die gem § 5 Abs 4 KBGG aF vorgesehene Mindestblockzeit von zwei Monaten nicht sowie das grenzüberschreitende Element iSd VO (EG) 883/2004 fehle.

Das Erstgericht folgte dieser Rechtsansicht und verneinte einen Anknüpfungspunkt zur VO (EG) 883/2004, verwies auf den Wohnort sowie auf den Lebensmittelpunkt des Vaters und wies das Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht nahm aufgrund der Beschäftigung der Mutter in Österreich einen grenzüberschreitenden Sachverhalt an und gab der Berufung teilwiese Folge, indem es die Bekl zu einer Ausgleichszahlung von € 29,86 täglich verpflichtete. Das Mehrbegehren wurde unbekämpft abgewiesen.

Aus Anlass der außerordentlichen Revision der Bekl hat der OGH die Rechtssache dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegt. Das Verfahren vor dem OGH wurde bis zum Einlangen der Vorabentscheidung ausgesetzt.

Die nach Freistellung durch den OGH beantwortete außerordentliche Revision war zulässig, aber nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1.1 Mit Beschluss vom 20.12.2017, AZ 10 ObS 74/17f, hat der Oberste Gerichtshof […] folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

‚1. Ist Art 60 Absatz 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr 987/2009 […] dahin auszulegen, dass ein nachrangig zuständiger Mitgliedstaat (Österreich) einem Elternteil mit Wohnsitz und Beschäftigung in einem nach Art 68 Absatz 1 lit b sub lit i der VO Nr 883/2004 vorrangig zuständigen Mitgliedsstaat (Deutschland) den Unterschiedsbetrag zwischen dem im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat geleisteten Elterngeld und dem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld des anderen Mitgliedstaats als Familienleistung zu zahlen hat, wenn beide Eltern mit den gemeinsamen Kindern im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat wohnen und nur der andere Elternteil im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat als Grenzgänger beschäftigt ist?

Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:

2. Bemisst sich das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld nach dem im Beschäftigungsstaat (Deutschland) tatsächlich erzielten Einkommen oder nach dem im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat (Österreich) aus einer vergleichbaren Erwerbstätigkeit hypothetisch zu erzielenden Einkommen?‘

1.2 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 18.9.2019, C-32/18, Moser, wie folgt zu Recht erkannt:

‚1. Art 60 Abs 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr 987/2009 […] ist dahin auszulegen, dass die in dieser Vorschrift für die Bestimmung des Umfangs des Anspruchs einer Person auf Familienleistungen vorgesehene Verpflichtung zur Berücksichtigung ‚der gesamten Familie in einer Weise …, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen‘, sowohl für den Fall gilt, dass die Leistungen nach dem gemäß Art 68 Abs 1 Buchst b Ziff i der Verordnung (EG) Nr 883/2004 […] als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt werden, als auch für jenen Fall, dass die Leistungen nach einer oder mehreren anderen Rechtsvorschriften geschuldet werden.

2. Art 68 der Verordnung Nr 883/2004 ist dahin auszulegen, dass die Höhe des Unterschiedsbetrags, der einem Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines gemäß dieser Bestimmung nachrangig zuständigen Mitgliedstaats zusteht, nach dem von diesem Arbeitnehmer in seinem Beschäftigungsstaat tatsächlich erzielten Einkommen zu bemessen ist.‘

1.3 Damit ist im fortzusetzenden Revisionsverfahren klargestellt, dass 1. Österreich als nachrangig 112 zuständiger Mitgliedstaat dem Vater […] den Unterschiedsbetrag zwischen dem in Deutschland geleisteten Elterngeld und dem österreichischen einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld zu zahlen hat […] und 2. für die Ermittlung des Unterschiedsbetrags das tatsächlich im Beschäftigungsstaat erzielte und nicht das fiktiv in Österreich erzielbare Einkommen des anspruchsberechtigten Vaters maßgeblich ist.

2.1 § 5 Abs 4 KBGG in der hier anzuwendenden Fassung vor dem Familienzeitbonusgesetz (Fam- ZeitbG BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53) bestimmte (iVm § 24d Abs 1 KBGG für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld), dass das Kinderbetreuungsgeld grundsätzlich jeweils nur in Blöcken von mindestens zwei Monaten beansprucht werden konnte.

[…]

2.3 Der Oberste Gerichtshof hat die von der Beklagten gewünschte Berechnung dieser Frist nach § 902 Abs 2 ABGB bereits abgelehnt (10 ObS 148/14h […]). Nach § 3 Abs 5 KBGG idF FamZeitbG kann Kinderbetreuungsgeld nur in einzelnen Bezugsteilen von mindestens 61 Tagen bezogen werden. […] Die im Schrifttum vertretene Meinung, der Gesetzgeber habe in § 3 Abs 5 KBGG nF rückwirkend auch für die alte – hier anzuwendende – Rechtslage klargestellt, dass er unter zwei Monaten auch tatsächlich zwei Monate im Sinn der Berechnung des § 902 Abs 2 ABGB verstehe, teilte der Oberste Gerichtshof nicht (10 ObS 74/17f).

[…]

3.2 § 24 Abs 2 KBGG idF BGBl I 2011/139 definierte den Begriff der Erwerbstätigkeit als tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. Die Einschränkung auf Österreich ist unionsrechtswidrig (10 ObS 148/14h, RIS-Justiz RS0130428) und damit unbeachtlich.

3.3 […] Das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld steht […] nur vor der Geburt tatsächlich erwerbstätigen Eltern offen. […]

3.4 Der Oberste Gerichtshof hat zudem mehrfach ausgesprochen, dass das Nichtbestehen einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit am Ende des sechsmonatigen Beobachtungszeitraums eine anspruchsunschädliche Unterbrechung darstellt […]. Die Meinung der jeweiligen Krankenversicherungsträger, eine unschädliche Unterbrechung könne nicht vorliegen, wenn die tatsächliche Ausübung der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit im Sechsmonatszeitraum beendet oder nicht wiederaufgenommen wurde, lehnte er ausdrücklich ab. […] Damit relativierte der Oberste Gerichtshof in jüngeren Entscheidungen die Aussage in 10 ObS 5/14d, dass nur etwas unterbrochen werden könne, was bereits begonnen habe.

3.5 Der erkennende Senat hält eine Differenzierung danach, ob ein kurzfristiger, 14 Tage nicht übersteigender Zeitraum, in dem keine sozialversicherungsrechtliche Erwerbstätigkeit oder eine dieser gleichgestellten Tätigkeit ausgeübt wird, am Beginn, während oder am Ende des sechsmonatigen Beobachtungszeitraums liegt, für nicht sachgerecht. […]“

ERLÄUTERUNG

Art 68 Abs 1 VO 883/2004 normiert Prioritätsregeln, wenn Ansprüche auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen zusammentreffen. Diese Bestimmung legt somit, um Doppelleistungen zu vermeiden, für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen aus verschiedenen Mitgliedstaaten fest, welche Staaten vorrangig zuständig sind. Art 60 Abs 1 zweiter Satz VO (EG) 987/2009 bestimmt für die Anwendung von Art 67 und 68 VO 883/2004, insb was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, dass vom zuständigen Träger die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen („Familienbetrachtungsweise“). Dies bedeutet, dass für die Frage, ob ein Anspruch auf Familienleistungen besteht und in welcher Höhe dieser gebührt, die gesamte Situation der Familie vom zuständigen Träger zu berücksichtigen ist, auch wenn gewisse Sachverhaltselemente (zB Wohnsitz oder Beschäftigungsort) in einem anderen Mitgliedstaat liegen oder dort eingetreten sind, zB Arbeitsverdienst bzw Erwerbseinkommen (Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 60 VO 987/2009, Rz 1; OGH 22.10.2015, 10 ObS 148/14h).

Die Prioritätsregeln selbst sind in Art 68 Abs 1 VO 883/2004 in Form einer Kaskade aufgebaut. Gem Art 68 Abs 1 lit a VO 883/2004 stehen an erster Stelle Ansprüche, die deshalb bestehen, weil die betreffende Person im jeweiligen Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt. Diesen nachgereiht sind Ansprüche, die durch eine Rente ausgelöst werden. Darauf folgen an letzter Stelle Ansprüche, die aufgrund des Wohnsitzes bestehen. Unerheblich ist hingegen, ob nach innerstaatlicher Systematik der Anspruch auf Familienleistungen durch eine Beschäftigung oder durch den Wohnsitz im Inland ausgelöst wird. Für den Fall, dass ein Anspruchskonflikt deshalb besteht, weil die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten jeweils aus dem gleichen Grund (nämlich Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit; Rentenbezug; Wohnort) zur Anwendung kommen, bestimmt Art 68 Abs 1 lit b VO 883/2004 jenen Staat als vorrangig zuständig, in dem auch die Kinder ihren Wohnort haben (Felten in Spiegel, Art 68 VO 883/2004, Rz 2 ff; OGH 22.10.2015, 10 ObS 148/14h).

Österreich wurde daher als nach den Prioritätsregeln der VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nachrangig zuständiger Staat zur Leistung einer Ausgleichszahlung auf das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld an den Kl verpflichtet. Nach 113 der in Art 60 Abs 1 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 ausdrücklich verankerten Familienbetrachtungsweise ist es irrelevant, welcher Elternteil in welchem Staat die Familienleistungen beansprucht.

Als Anspruchsvoraussetzung für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld verlangt § 24 Abs 1 Z 2 KBGG ua eine in den letzten 182 Kalendertagen unmittelbar vor der Geburt des Kindes durchgehende Erwerbstätigkeit. Nach der Legaldefinition des § 24 Abs 2 KBGG wird unter einer Erwerbstätigkeit iSd KBGG die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen (kranken- und pensionsversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit oder einer mit dieser gleichgestellten Tätigkeit nach dem MSchG oder VKG verstanden. Wobei die Einschränkung auf Österreich unionsrechtswidrig, daher unbeachtlich ist (OGH 22.10.2015, 10 ObS 148/14h) Die Erwerbstätigkeit muss durchgehend in den letzten sechs Monaten vor Geburt auch tatsächlich ausgeübt werden. Geringfügige Unterbrechungen bis zu 14 Tagen sind dabei zulässig. Keine Unterbrechung der tatsächlichen Ausübung der Erwerbstätigkeit stellen Zeiten des Erholungsurlaubs oder der Krankheit dar, unter der Voraussetzung, dass die Sozialversicherungspflicht aus der Erwerbstätigkeit aufrecht bleibt (OGH 28.1.2014, 1 ObS 180/13p).

Eine Differenzierung bezüglich der kurzfristigen Unterbrechung nach § 24 Abs 1 Z 2 KBGG – wann diese innerhalb des Beobachtungszeitraums zu erfolgen hat – würde nicht nur dem Gesetzeszweck entgegenstehen, nämlich Härtefälle zu vermeiden, sondern auch zu einer sachlich ungerechtfertigten Benachteiligung jener Anspruchsberechtigten führen, die nicht während, sondern am Ende des sechsmonatigen Beobachtungszeitraums ihre sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit, zB im Fall einer Erkrankung ohne Entgeltfortzahlungsanspruch, unterbrechen müssen.

Die mindestens sechsmonatige durchgehende andauernde Erwerbstätigkeit soll nach der Intension des Gesetzgebers einen Missbrauch durch Aufnahme von kurzfristiger Scheinerwerbstätigkeit in Österreich verhindern (OGH 25.2.2014, 10 ObS 5/14d). Nach Ansicht des OGH besteht diese Gefahr des Missbrauchs allerdings nicht, wenn Personen vor Beginn des Beobachtungszeitraums ihre Erwerbstätigkeit bereits tatsächlich ausgeübt haben und sie vor dem ersten Tag der Sechsmonatsfrist diese – wie der Kl – einstellen mussten. Der unbezahlte Urlaub des Kl vom 25.2. bis 28.2.2013 sei somit keine anspruchsschädliche, sondern eine geringfügige Unterbrechung der Erwerbstätigkeit. Damit wird das Erfordernis einer durchgehenden Erwerbstätigkeit in den letzten sechs Monaten vor Geburt der zweiten Tochter erfüllt.

Das Nettoeinkommen des Kl betrug nach den Feststellungen durchschnittlich € 3.504,55 monatlich. Bei dieser Einkommenshöhe steht nach § 24a Abs 1 Z 3 iVm Abs 2 KBGG das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld im Ausmaß des Maximalbetrags von € 66,- täglich zu. Danach bemisst sich die Differenz zum deutschen Elterngeld.